Ein Großteil forensisch-wissenschaftlicher Forschung an rechtsmedizinischen Instituten ist methodologischer Natur. Man sucht nach immer neuen und besseren Methoden, um z.B. immer mehr verschiedene und geringere Mengen von Molekülen nachweisen zu können oder um weitere forensische Probleme bearbeiten zu können. Ein Beispiel dafür ist die Einführung der miRNA-Analyse in die forensische Wissenschaft. Bereits bestehende Methoden werden immer weiter verbessert, werden sensitiver und spezifischer, werden auf umfassendere Fragestellungen ausgeweitet. Ein Bespiel dafür ist unsere verbesserte „Knochenmethode”, mit der auch DNA aus süßwasserexponierten Knochen extrahieren werden kann.
Biomedizinische Forschung ist seltener, weil sich in rechtsmedizinischen Instituten nur schwerlich ein für eine Studie ausreichend großes Fallkollektiv aufbauen läßt. Im Gegensatz zu beispielsweise einer Klinik für Gastroenterologie, wo sich in kurzer Zeit zig Patienten mit der gleichen Magen- oder Darmerkrankung vorstellen, ist die Zusammensetzung der „Patientengesamtheit” in der Rechtsmedizin notwendigerweise äußerst heterogen, da es zahlreiche verschiedene Todesursachen unter dem Rubrum der unnatürlichen oder ungeklärten Todesart gibt, die eine rechtsmedizinische Untersuchung nach sich ziehen.
Aber einige wenige Todesursachen, die regelmäßig auftreten und genauso regelmäßig rechtsmedizinisch untersucht werden, um ein Fremdverschulden auszuschließen, gibt es doch. Darunter sind der plötzliche Kindstod und der plötzliche Herztod.
Wenn der plötzliche und unerwartete Tod eines Säuglings angezeigt wird, wird von der Staatsanwaltschaft häufig der Leichnam des Kindes beschlagnahmt und eine Autopsie angeordnet, um auszuschließen, daß das Kind durch Mißhandlung (z.B. nach durch Schütteln verursachten Verletzungen) verstorben ist. Das passiert leider nicht selten, so daß, nach Abwägung der Rechtsgüter, den betroffenen und oft schwer traumatisierten Eltern die zusätzliche Belastung einer Autopsie zugemutet werden muß.
Das bedeutet aber auch, daß sich in den rechtsmedizinischen Instituten Kollektive von SIDS-Fällen ansammeln können, die ausreichend groß für wissenschaftliche Untersuchungen sind, so daß der Hauptanteil der SIDS-Forschung in Deutschland durch rechtsmedizinische Institute geleistet wird. So auch bei uns[1-3].
Der Plötzliche Kindstod (SIDS) ist dabei nach wie vor ein rätselhaftes Phänomen: in Industrieländern ist er immer noch die häufigste Todesursache bei Säuglingen im Alter zwischen 3 Wochen und einem Jahr.
Die aktuell am besten anerkannte und von vielen Forschern zitierte Definition (aus [4](von mir übersetzt)) lautet:
„SIDS ist definiert als der plötzliche unerwartete Tod eines Kleinkinds, das jünger ist als ein Jahr, mit Einsetzen des Sterbevorgangs im Schlaf, wobei der Tod auch nach gründlicher Untersuchung*, der die Durchführung einer vollständigen Autopsie und die Begutachtung der Todesumstände** und der medizinischen Vorgeschichte einschließt, nicht erklärt werden kann.”
* darunter fällt z.B. auch ein toxikologisches Screening, um mögliche Vergiftungen, Überdosierungen von Medikamenten (z.B. Beruhigungsmitteln) u.ä. entdecken zu können
** damit ist auch eine Besichtigung des Sterbeortes, also z.B. der Schlafgelegenheit, des Bettzeugs etc., sowie eine Befragung der Eltern gemeint
Diese Definition ist allerdings nicht verpflichtend oder generell gültig und bis heute existiert kein bindender Konsens über imperative Kriterien für SIDS oder wie SIDS-Fälle behandelt und untersucht werden müssen. Diese Uneindeutigkeit ist auch ein bestehendes Problem für die Forschung und viele Unstimmigkeiten der Ergebnisse zwischen SIDS-Studien könnten auf unterschiedliche angewandte Definitionen zur Einteilung in Kollektive und unterschiedliche Methoden zur Bearbeitung und Bewertung der Fälle zurückzuführen sein.
Man könnte SIDS daher auch als einen Sammelbegriff für eine heterogene Erkrankung mit mehr als einer Entität und vielen verschiedenen möglichen Ätiologien auffassen.
SIDS ist jedoch nach wie vor eine Ausschlussdiagnose. D.h., wenn ein Kind im „SIDS-Alter” stirbt und die Todesursache nichts anderes ist, ist es SIDS. Das bedeutet aber auch, daß niemals eine echte monofaktorielle „Ursache” für SIDS definiert werden kann, denn wenn eine Todesursache klar definiert werden kann, liegt eben kein SIDS vor.
Die Häufigkeit von SIDS variiert zwischen den verschiedenen Ländern, „Schichten”, Ethnizitäten und anderen Subpopulationen. Seit in den 80er Jahren Aufklärungskampagnen durchgeführt wurden, im Rahmen derer Eltern, Ärzten, Krankenschwestern und Hebammen bestimmte Verhaltensweisen nahegelegt und Zusammenhänge erklärt wurden, ist die SIDS-Inzidenz dramatisch gesunken.
Dennoch lag zufolge einer Studie von 2008[5] die SIDS-Rate in Deutschland noch bei 0,43 pro 1000 Lebendgeburten für das Jahr 2005. Mit 204 Fällen auf 682.514 Lebendgeburten im Jahr 2008 reduzierte sich, lt. Statistischem Bundesamt, die Rate auf 0,3 Fälle pro 1000 Lebendgeburten.
Für die SIDS-Ätiologie und die am SIDS-assoziierten Sterbegeschehen beteiligten Pathomechanismen existieren zahlreiche Hypothesen, die mit unterschiedlichen Mengen an Evidenz belegt wurden. Einige viel diskutierte mögliche Faktoren sind demnach:
- genetische Varianten, die mit dem „Long-QT syndrome” assoziiert sind; das LQTS ist eine komplexe Erkrankung, die in verschiedenen Varianten auftreten und durch Mutationen in mehreren verschiedenen Genen bedingt sein kann, z.B. dem Gen für eine Untereinheit des Natriumionenkanals, der an der elektrochemischen Koordination der Herztätigkeit beteiligt ist [6]; (Es gibt zahlreiche weitere Gene, deren Varianten mit SIDS in Verbindung gebracht worden sind, ein Überblick findet sich bei [7]).
- Anomalien im Hirnstamm, die zu defizitären Schutzreaktionen bei Störungen der physiologischen Selbstregulation führen; das Hirnstamm-Model wird dabei häufig auf den Neurotransmitter Serotonin und dessen Stoffwechselwege im verlängerten Mark fokussiert [8]
- unphysiologische Reaktionen auf leichte und eigentlich ungefährliche Infektionen der oberen Atemwege, die z.B. bei Schlafen in der Bauchlage, zu einer sich selbst aufschaukelnden und letztlich tödlichen „Krisenreaktion” mit Hyperthermie, Hypotension und präfinalem Schock führen
Trotz der vielen verschiedenen Hypothesen, die zum Ablauf von SIDS kursieren, gibt es einen breiten Konsens darüber, daß SIDS ein multifaktorielles Phänomen ist und eine unter Forschern verbreitete Vorstellung ist die sogenannte „triple risk hypothesis”[9, 10], die Dreifachrisiko-Hypothese. Sie besagt, daß drei verschiedene Faktoren zusammentreffen müssen, damit es zu SIDS kommen kann. Keiner der drei Faktoren ist für sich genommen die Ursache, sondern nur durch ihre Kombination kann SIDS ausgelöst werden und es bedarf aller drei Faktoren.
Der erste Faktor ist eine genetische Prädisposition. Also eine im Erbgut fixierte Anlage, die zu einer bestimmten Anfälligkeit eines sehr jungen Kindes, dessen Atmungs- und autonomes Nerven- oder Immunsystem noch nicht voll ausgebildet ist, führen kann und die für einen erwachsenen Menschen so gut wie immer unbemerkbar und ungefährlich ist.
Der zweite Faktor sind prä- oder neonatale Einwirkungen auf das Kind, wie Rauchen während der Schwangerschaft, Alter der Mutter oder eine Frühgeburt sowie allgemein die kritische Entwicklungsperiode, in der sich ein Kind im ersten Lebensjahr befindet.
Der dritte Faktor ist der eigentliche „Auslöser”, der bei einem durch die ersten beiden Faktoren vulnerablen Kind das SIDS-Geschehen initiieren kann. Dazu zählen z.B. Schlafen in der Bauchlage und Überhitzung des Kindes.
Die Abbildung zeigt, wie die drei Faktoren zusammenwirken, um zunächst durch Konvergenz von genetischer Prädisposition und Entwicklungsfaktoren, die vor und kurz nach der Geburt einwirken könne, ein vulnerables Kind zu erzeugen, das dann, wenn es einem Umweltauslöser, z.B. Schlafen in der Bauchlage, ausgesetzt wird, dem SIDS erliegen kann.
Wenn dieses Modell die Wirklichkeit zutreffend beschreibt, dann muß, damit es zum Plötzlichen Kindstod kommen kann, ein genetischer Faktor vorliegen. Wenn es zukünftig gelingt, diese Faktoren restlos aufzuklären, so könnte im Rahmen einer weiteren Routineuntersuchung nach der Geburt eines Kindes (Stichwort: “massive parallel sequencing“) gezielt nach allen bekannten Faktoren gesucht werden. Sollte einer oder mehrere gefunden werden, so wäre man vorgewarnt, könnte ihre Auswirkung medikamentös und/oder durch besondere Pflege- und Sicherheitsmaßnahmen neutalisieren und damit SIDS verhindern.
Unsere genetische Ausstattung haben wir (noch) nicht in der Hand und können also auch die eines Neugeborenen nicht mehr beeinflussen, um das Risiko für SIDS zu reduzieren. Wir können aber sehr wohl die externen Risikofaktoren einschränken und das sollten alle Eltern auch tun. Daher zum Schluß noch einige Empfehlungen, deren Befolgung nachweislich das Risiko für das Auftreten von SIDS reduziert:
vor der Geburt:
- nicht rauchen während der Schwangerschaft
- wenn planbar: keine Schwangerschaft, bevor die Mutter 20 Jahre alt ist
nach der Geburt (bis zur Vollendung des ersten Lebensjahrs):
- das Kind sollte in Rückenlage schlafen
- das Kind sollte nicht zu warm eingepackt werden, insbesondere der Kopf darf nicht überhitzt werden, Raumtemperatur bei 18°C (keine Sorge, Kinder erkälten sich nicht so schnell)
- das Kind sollte keinem Tabakrauch ausgesetzt werden
- das Kind sollte nicht im elterlichen Bett schlafen; ideal ist ein am Elternbett angebautes, aber eigenes Kinderbettchen
- das Kind sollte länger als 2 Wochen gestillt werden
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Literatur
- Courts C and Madea B (2011) Significant association of TH01 allele 9.3 and SIDS. J Forensic Sci 56:415-417.
- Courts C and Madea B (2011) No association of IL-10 promoter SNP -592 and -1082 and SIDS. Forensic Sci Int 204:179-181.
- Sauer E (2010) Potential Genetic Predispositions for Sudden Infant Death Syndrome: a Case-Control Study. Diploma Thesis, University of Bonn
- Krous HF, Beckwith JB, Byard RW, Rognum TO, Bajanowski T, Corey T, Cutz E, Hanzlick R, Keens TG, and Mitchell EA (2004) Sudden infant death syndrome and unclassified sudden infant deaths: a definitional and diagnostic approach. Pediatrics 114:234-238.
- Hauck FR and Tanabe KO (2008) International trends in sudden infant death syndrome: stabilization of rates requires further action. Pediatrics 122:660-666.
- Moric E, Herbert E, Trusz-Gluza M, Filipecki A, Mazurek U, and Wilczok T (2003) The implications of genetic mutations in the sodium channel gene (SCN5A). Europace 5:325-334.
- Courts C and Madea B (2010) Genetics of the sudden infant death syndrome. Forensic Sci Int 203:25-33.
- Kinney HC, Richerson GB, Dymecki SM, Darnall RA, and Nattie EE (2009) The brainstem and serotonin in the sudden infant death syndrome. Annu Rev Pathol 4:517-550.
- Wedgwood RJ (1972) Review of USA experience. aus Sudden and Unexpected Death in Infancy (Cot Deaths) 28
- Filiano JJ and Kinney HC (1994) A perspective on neuropathologic findings in victims of the sudden infant death syndrome: the triple-risk model. Biol Neonate 65:194-197.
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