In einem Beitrag (und dem nachfolgenden Kommentaraustausch) über die Verwechslung des plötzlichen Kindstods mit der tödlich verlaufenden Erbkrankheit „very-long-chain coenzyme-A dehydrogenase deficiency” oder VLCADD bei einem Paar, dessen Partner miteinander verwandt waren, wurde über Inzest gesprochen.
§173 des deutschen Strafgesetzbuchs stellt den „Beischlaf” zwischen direkt verwandten Personen unter Strafe. 2008 wurde dieser Paragraph vom Bundesverfassungsgericht bestätigt,als es mit der Entscheidung in einem Verfahren beauftragt wurde, dessen Auslöser der Fall eines Mannes war, der mit 23 Jahren seine damals 16-jährige Schwester kennenlernte, mit ihr eine Beziehung einging und vier Kinder zeugte und dafür schließlich mehr als drei Jahre ins Gefängnis mußte.
Die viel kritisierte Entscheidung des BVerfG führte dazu, daß der EUGH für Menschenrechte zu prüfen hatte, ob dieser Paragraph menschenrechtswidrig sei. Die Entscheidung über diese Prüfung durch den EUGH soll nun heute bekannt gegeben werden.
Im früheren Beitrag (s.o.) schrieb ich, daß §173 zwar den Beischlaf zwischen verwandten Personen unter Strafe stelle
bizarrerweise aber nicht die Zeugung eines Kindes durch solchermaßen Verwandte. Diese Regelung verhindert so also nicht, was angeblich ihr Zweck sein soll, daß nämlich Erbkrankheiten unter deren Nachkommen sich häufen (weil man auch ohne Geschlechtsverkehr ein Kind zeugen kann) und greift zudem in die sexuelle Selbstbestimmung ein (weil ja auch Geschlechtsverkehr ohne Zeugungsabsicht und/oder -fähigkeit möglich sein soll, wie man hört). Man sollte daher vielleicht so ehrlich sein, zuzugeben, daß der §173 nichts mit angeblichem Gesundheitsschutz der Nachkommen (ob es zudem überhaupt zulässig wäre, zum Schutz der Nachkommen in die reproduktive Freiheit zweier Menschen einzugreifen, darf wohl bezweifelt werden) oder der Bewahrung irgendwelcher Familienrollen und dafür alles mit einer durch religiöses Herkommen gefärbten, staatlich verordneten und daher eigentlich unzulässigen Moralauffassung zu tun hat.
(diese Einschätzung teilte auch Richter Hassemer vom BVerfG, der als einziger vom gemeinsamen Votum der Richter abwich und nach dessen Auffassung viel dafür spreche, daß §173 “lediglich Moralvorstellungen, nicht aber ein konkretes Rechtsgut im Auge hat”.)
An der ganzen Debatte um Inzest gibt es ja tatsächlich zahlreiche Unstimmigkeiten und ich finde es bei Gesprächen darüber bisweilen zwischen interessant und bedrückend, mitzuerleben, wie häufig hier eine gesellschaftlich verordnete Geisteshaltung gepaart mit idiosynkratischer Abneigung und genetischem Halbwissen einen rationalen Zugang zu dem Thema verbauen. Wir haben es in §173 mit etwas zu tun, das dem alten §175 verdächtig nahe kommt: Befürworter des §173 bewerten insgeheim die Tatsache, daß sie persönlich (und auch alle anderen, die sie kennen) eine bestimmte Handlung als schlimm, eklig, gotteslästerlich, verwerflich o.ä. empfinden, als ausreichend, um ein Verbot dieser Handlung zu begründen. Legitimierend vorgeschoben werden dann aber angebliche gesundheitliche („Schutz der Nachkommen”) und/oder familiensoziologische Gründe für das Verbot.
Nur, wenn es wirklich um den Gesundheitsschutz ginge (der Paragraph stammt ja nicht aus der voraufgeklärten Zeit, als man noch gesundheitliche Aspekte mit Gottesstrafen assoziierte), dann würde er die Zeugung, nicht den Beischlaf unter Strafe stellen. Der Wille zur Regulierung bzw. zu Verbot/Stigmatisierung nicht genehmen, jedoch niemandem Schaden oder Leid zufügenden, solange zwischen einvernehmlichen Erwachsenen sich vollziehenden Sexualverhaltens tritt hier in seiner klar religiösen Färbung also ganz deutlich hervor.
Der vorgehaltene Gesundheitsschutz hat aber eine noch viel düsterere Seite, denn wenn es wirklich anstrebenswert wäre, potentiell genetisch geschädigte Nachkommen durch Kontrolle des Zeugungsverhaltens mündiger Erwachsener zu „verhindern”, müßte folgerichtig allen Menschen mit erblichen Krankheiten und/oder Behinderungen die Zeugung zum Schutz möglicher Nachkommen verboten werden. Und darüber hinaus auch solchen Paaren, bei denen beide Partner zwar selber gesund aber gemischterbig (heterozygot) für solche erblichen Leiden sind, diese also vererben können und mit 25% Wahrscheinlichkeit ein krankes Kind hervorbringen werden (nebenbei: 25% ist wesentlich höher, als die statistische Wahrscheinlichkeit, daß zwei beliebige nahe Verwandte ein erbkrankes Kind zeugen). Das aber wäre nichts anderes, als staatlich verordnete Eugenik!
Aber auch das Argument zu angeblich gefährdeten Familienstrukturen und -rollen halte ich für fragwürdig. Durch die Aufhebung des Verbotes würden inzestuöse Beziehungen sicher nicht einen plötzlichen Popularitätsschub erfahren und es dadurch zu massenhafter Familiendesintegration kommen. Man darf, im Gegenteil und genau wie damals zu §175-Zeiten bei Menschen mit homosexueller Orientierung davon ausgehen, daß entsprechend Geneigte immer schon und auch trotz irgendwelcher Verbote ihren Begierden gefolgt sind. Zudem änderte eine Aufhebung des Inzest-Verbotes ja absolut nichts am Verbot von Geschlechtsverkehr zwischen Menschen, von denen mindestens einer nicht einwilligend bzw. einwilligungsfähig ist. Kinder wären also vor sexuellen Übergriffen ihrer Eltern nicht schlechter geschützt, als zuvor. Außerdem greift das Argument überhaupt nicht in Fällen, wie dem oben erwähnten, in denen sich erwachsene Menschen, die nicht miteinander aufgewachsen sind, kennenlernen, ggf. eine Beziehung führen möchten und dann feststellen, daß sie Geschwister sind.
Ich persönlich finde Inzest auch zwischen einvernehmlichen Erwachsenen irgendwie unappetitlich, nehme aber leidenschaftslos zur Kenntnis, daß andere das anders sehen und daß dadurch niemandes Menschenrechte verletzt werden, sowie ich jedem Menschen ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zugestehen würde. Ich halte §173 deshalb tatsächlich für verfassungswidrig und das Urteil des BVerfG dazu für einen Fehler.
Es wäre ziemlich peinlich, wenn der EUGH für Menschenrechte heute feststellt, daß das deutsche Strafrecht menschenrechtswidrige Verbote enthält…
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