Warnung: in dieser Reihe stelle ich schräge, drastische, extreme oder auf andere Weise merkwürdige Studien und Fallberichte vor, die die Forensischen Wissenschaften in ihrer ganzen Breite und Vielseitigkeit portraitieren sollen, die aber in ihrer Thematik und/oder den beigefügten Abbildungen nicht für alle LeserInnen geeignet sind und obgleich ich mich stets bemühen werde, nicht ins Sensationalistische abzugleiten, mag bisweilen die unausgeschmückte/bebilderte Realität bereits mehr sein, als manche(r) erträgt.
Diesmal: ein bemerkenswerter Fallbericht, den die Autoren etwas ungenau als „The modern holy shroud” (dt.: „Das moderne heilige Grabtuch” ) bezeichnet haben, handelt von der Rekonstruktion eines Verkehrsunfalls anhand der “eindrücklichen” Beschädigungen am Unfallfahrzeug.
Die objektive Rekonstruktion des Ablaufs von Verkehrsunfällen, insbesondere solcher, bei denen es zu einer Kollision von Fußgängern mit Fahrzeugen kommt, ohne auf die möglicherweise interessenskonfligierenden Aussagen von Zeugen oder Beteiligten angewiesen zu sein, ist von großer Bedeutung für straf- und zivilrechtliche Prozesse und daher auch von hohem rechtsmedizinischen Interesse.
Die Geschwindigkeit des Fahrzeug zum Unfallzeitpunkt steht bei solchen Ermittlungen im Mittelpunkt, da sie die wichtigste Einflussgröße für Ausmaß und Schwere von Verletzungen bei den Unfallopfern darstellt.
Der Fall:
Eine 44-jährige Fußgängerin, die auf einer Schnellstrasse unterwegs war, wurde frontal von einem Lastwagen mit einer Geschwindigkeit von 90 km/h erfasst. Die Fußgängerin wurde durch den Aufprall ca. 100 m in die Fahrtrichtung geschleudert, dann vom Lastwagen und einem nachfolgenden Auto überrollt und starb noch am Unfallort.
Dieses Unfallgeschehen konnte anhand der Verteilung und Schwere der Verletzungen des Opfers, des am Lastwagen festgestellten Schadens, der Verteilung von Blutspritzern und Unterhautgewebe auf der Rückseite der Ladefläche des Fahrzeugs und der Zeugenaussage des Fahrers und weiterer Umstehender rekonstruiert werden.
Zur Obduktion gelangte eine Frau mittleren Alters mit schwersten Verletzungen und Zerstörungen des Körpers, die teilweise unbekleidet war. Der Schädel war zerdrückt und ein Großteil des Hirngewebes fehlte. Der Oberkörper wies großflächige Abschürfungen und Abtragungen von Muskulatur auf, zahlreiche Wirbelkörper und der Beckenknochen waren gebrochen, innere Organe und die Aorta waren zerschert oder zerrissen. Der untere linke Teil des Oberkörpers war durch den Unfall teilamputiert, die oberen und unteren Gliedmaßen waren mehrfach gebrochen und ebenfalls teilamputiert. Hautabschürfungen fanden sich verteilt über den ganzen Körper.
Der Lastwagen hatte zum Zeitpunkt des Aufpralls eine Masse von 11,45 t und, laut Tachograph, eine Geschwindigkeit von 90 km/h. Blut- und Gewebereste fanden sich auf lackierten Flächen, dem Reserverad und den Schmutzfängern. Vorne an der Fahrerkabine wurden Beschädigungen der Motorabdeckung, des oberen Teils der Frontblende und des unteren Teils der Windschutzscheibe in einer Höhe zwischen 149 und 158 cm festgestellt. Die Frontblende ist eine Art mattschwarz lackierter Metallstreifen und fast mittig fand man einen ca. 2 cm tiefen, reliefartigen Eindruck, der grob die Gesichtszüge des Opfers erkennen ließ und durch Abtragungen von dessen Makeup noch akzentuiert wurde:
In vielen Fällen gelingt die Rekonstruktion eines Unfallgeschehens durch Verletzungsmuster am Körper des Opfers, die genau zu Teilen des Unfallfahrzeugs passen.
In diesem Fall gab es jedoch keine Muster am Körper des Opfers, die eine Zuordnung des Lastwagens zu dessen Verletzungen noch zuließen. Dies erklärt sich vermutlich durch die flache Front des Lastwagens, dessen hohe Masse und Geschwindigkeit beim Aufprall, sowie die unmittelbaren Unfallfolgen (Körper wurde fortgeschleudert und mehrfach überrollt). So konnte die Aussage einer Zeugin, derzufolge die Verstorbene beim Aufprall frontal und aufrecht vor dem Lastwagen stand, anhand der autoptischen Befunde allein nicht objektiviert werden.
Die Lösung brachte in diesem Fall der sehr ungewöhnliche Gesichtseindruck in der Front des Lastwagens in der Höhe zwischen 149 und 158 cm: die Augenhöhe des Opfers wurde auf etwa 154 cm geschätzt und die Abzeichnung der Gesichtszüge sowie die Abtragung von Makeup, die die Gesichtskonturen so deutlich abzeichnete wie, so die Autoren, ein „modernes heiliges Grabtuch”, belegen eindeutig, daß das Opfer wirklich frontal und in einer aufrechten Körperhaltung vom Fahrzeug erfasst worden sein muß.
Und während schon einige Erkenntnisse zum Transfer von Lacksplittern auf die Kleidung von Unfallopfern vorliegen, stellt die hier beobachtete deutlich sichtbare Übertragung von Gesichtszügen auf ein Fahrzeug durch bei einem Unfallaufprall darauf übertragenes Makeup wohl ein äußerst seltenes und in der Literatur zuvor nicht beschriebenes Phänomen dar.
Zuletzt noch eine Anmerkung: ich fand die Bezeichnung der Autoren für ihren Artikel etwas unpassend, weil auf dem von ihnen zitierten „Grabtuch” ja angeblich der ganze Körper des hypothetischen Herrn Nazareth „abgebildet” und eben nicht imprimiert ist, wohingegen beim sog. „Abgar-Bild“, das ich für meinen Titel wählte, nur die Gesichtszüge des besagten phantastischen Herrn auf ein Tuch “mechanisch übertragen” worden seien.
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Referenz:
[1] Schrag B, Pitteloud S, Horisberger B, Fracasso T, & Mangin P (2012). The modern holy shroud. Forensic science international, 219 (1-3) PMID: 22172499
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