Da es keine biologischen Hinweise dafür gibt, daß weibliche Gehirne weniger geeignet oder gut beschaffen sind für rationales, kritisches Denken und die Neigung, Behauptungen zu hinterfragen, ist ein Teil der weiblichen Vulnerabilität für Esoterik wahrscheinlich dem Einfluss von frühzeitig vorgehaltenen Rollenbildern auf Erziehung, Förderung und Ausbildung des weiblichen Selbstverständnisses sowie dem jeweiligen regiokulturellen „Doing Gender“ zuzuschreiben. Ein Phänomen, welches meiner Einschätzung nach diese Vulnerabilität zugleich ausnutzt und konserviert, hatte ich bereits angesprochen: ich vermute, daß der Einfluss (s. Literatur) von den zahlreichen esoterikgläubigen Hebammen (fast eine Tautologie) ein wichtiges Einfallstor ist, durch das eine große Zahl von Frauen erstmals intensiv, also jenseits des gelegentlichen Horoskop-Lesens, mit Esoterik in Kontakt kommen. So nehmen ca. 70% der Schwangeren homöopathische Präparate ein.
Das macht Hebammen, die im Laufe ihrer Karriere sehr viele Schwangere betreuen, zu idealen Multiplikatorinnen, die so früh den Keim für eine lebenslange Homöopathie- und häufig allgemeine Esoterikgläubigkeit säen können.
Die Hebammen nutzen dabei
das vertrauensvolle Verhältnis zwischen Hebamme und werdender Mutter [aus sowie] deren akute Unerfahrenheit, Beratungs- und Betreuungsbedarf und mithin die dadurch begründete profunde Vulnerabilität für derartige Beeinflussung.
Die vor Kontakten zu Hebammen und ähnlichen Multiplikatoren bestehende Anfälligkeit oder eben Verwundbarkeit für solchen „Befall“ scheint einer Untersuchung der Uni Hohenheim zufolge zwar vor allem bei Frauen aber auch sonst breit in der Bevölkerung angelegt zu sein. Man schlussfolgerte
dass die große Mehrheit der Deutschen die wissenschaftliche Weltdeutung nicht befriedigt, sie ist vielmehr der Überzeugung, dass es in der Welt Ereignisse und Vorgänge gibt, die letztlich nicht rational erklärbar sind. Daher glaubt auch jeder Zweite in Deutschland, dass unser Kosmos von einer geistigen Macht zusammengehalten wird und es nicht schaden kann, auf Holz zu klopfen oder einen Talisman bei sich zu haben.
Über mögliche Wurzeln dieses Übels, nämlich der Wissenschaftsferne wenn nicht -feindlichkeit habe ich bereits öffentlich nachgedacht und ich bin nach wie vor überzeugt, daß in einem Land, in dem es an Schulen Zwangsunterricht in Religion aber keine Einweisung in kritisches Denken und die wissenschaftliche Methode gibt, etwas arg falsch läuft. Was bringt es, zu wissen, welcher Jünger bei welcher Gelegenheit was zum hypothetischen, haploiden Handwerker gesagt haben soll und dafür nicht zu wissen, wie man den Wahrheitsgehalt einer Aussage überprüfen kann?
Ich halte Esoterik für einen Parasiten, der sich eine bildungssystemimmanente und offenbar geschlechtsverschieden ausgeprägte Anfälligkeit zunutze macht. Damit ist Esoterik (wie auch Religion) in meinen Augen schädlich und antiemanzipatorisch, indem diese Erscheinung in ihrem Wesen die verheerende Suggestion nährt, derzufolge „Weiblichkeit“ und „Spiritualität“ eine besonders hohe Schnittmenge hätten, Zweifel und kritisches Denken unweiblich, destruktiv, unsanft und unbehaglich sowie ein Anspruch auf Wahrheit und Prüfung unnötig, ja anmaßend wären.
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Nachtrag am 18.6.13: in der aktuellen Folge von Hoaxilla findet sich zur Abwechslung mal ein wunderbares Beispiel für “Männer-Esoterik”: das Märchen vom Kabelklang.
Nachtrag am 19.6.14: diesen Beitrag gibt es jetzt auch in der Soundcloud zum Anhören
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Literatur:
Helen G. Hall, Lisa G. McKenna, Debra L. Griffiths Midwives’ support for Complementary and Alternative Medicine: A literature review. Women and Birth Volume 25, Issue 1 , Pages 4-12, March 2012
Helen Hall, Lisa McKenna, Debra Griffiths Back to the future: support for complementary and alternative medicine in contemporary midwifery practice. Women and Birth, Volume 24, Supplement 1 , Pages S38-S39, October 2011
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