Die ARD zeigte gestern Abend den Fernsehfilm „Sechzehneichen“ , deren Machern das posttitelgebende Phänomen offenbar ebenfalls aufgefallen ist und kommentiert wird, indem alle Frauen in dieser „gated community“ natürlich Globuli schlucken und ständig von alternativen Heilpraktiken schwärmen.
Folgendes Videofundstück, dessen Zurgemüteführung sehr wahrscheinlich neurotoxisch ist, taugt aber auch recht leidlich als Pointierung des Themas (wer bereits weiß, daß bei ihm/ihr Begriffe wie „Atlantis-Matrix-Quantenheilungs-Code“ emetisch wirken, dem/der sei von der Inaugenscheinnahme abgeraten):
### Video wurde inzwischen leider gelöscht, vielleicht hat man gemerkt, daß es zu drüber war ###
Dieses freilich hyperbolische Video steht hier nur pars-pro-toto; in den allermeisten Sendungen und Formaten, aber auch Druckerzeugnissen mit Inhalten dieser oder ähnlicher Art werden Produkte und/oder Dienstleistungen (z.B. so etwas wie Tiertelepathie ) von Frauen angepriesen und zumeist auch von Frauen erworben bzw. in Anspruch genommen. Auch in den „Esoterik/Lebenshilfe“-Abteilungen der großen Buchhandlungen, die an Auswahl und Verkaufsfläche die Abteilungen für „Wissenschaft“ gewöhnlich um ein Mehrfaches übertreffen, bummeln, schmökern und kaufen (meiner, aber auch der Erfahrung mehrerer befragter BuchhändlerInnen nach) deutlich mehr, ja fast nur Frauen.
Warum ist das so? Als ich oben zugemutetes Video sah, fragte ich mich einmal wieder, aus welchem Grund eigentlich vor allem Frauen Ziel und „Opfer“ eines Großteils des Esoterik-Marketings sind und, allgemeiner, wieso der Großteil der Esoterikanhänger weiblich ist und stelle diese Fragen und meine Überlegungen dazu, die natürlich nicht neu, aber wie ich finde, immer noch und wieder aktuell sind, hier zur allgemeinen Diskussion.
[Die Frage ließe sich übrigens auch auf Religiosität ausweiten, da Frauen im Durchschnitt auch religiöser sind als Männer, doch ich will mich hier auf Esoterik beschränken (nicht zuletzt, weil ich ohnehin keinen kategorialen Unterschied zwischen diesen beiden Erscheinungen wahrzunehmen vermag).]
Ein oft gehörter Erklärungsversuch beruht auf den Prämissen, daß erstens Esoterik gezielt irgendwelche „traditionell“ mit Weiblichkeit assoziierten Aspekte, wie „Instinktivität“ (vulgo: „Bauchgefühl“), „Intuition“, „Emotionalität“ etc. anspricht und, zweitens, diese Charakteristika tatsächlich eher bei Frauen entscheidend für die eigene Weltanschauung aber auch Alltagsbewältigung sind, so als wären Frauen grundsätzlich weniger geneigt und geeignet zu evidenzbasierten Entscheidungen und rationalem Denken. Ich finde diese Erklärung daher immer, wenn ich sie von Männern höre, überaus herablassend und tragisch, wenn ich sie von Frauen höre.
Aber nähme man versuchsweise einmal an, diese Prämissen wären richtig, würde dadurch wirklich erklärt, daß für die zahlreichen Anhängerinnen dieser häufig wirklich komplett bescheuerten und zum Teil (s.o.) nahe am klinischen Wahnsinn rangierenden Konzepte deren (leicht nachprüfbarer) Wahrheitsgehalt bzw. Realitätsbezug nicht einmal mehr die geringste Rolle zu spielen scheint? Ginge also die Verachtung für die und sei sie trist und trostlos gefundene Realität aber auch eine rationale Realitätsbewältigung so weit, daß bei richtig Eingefleischten kein noch so hohes Maß an Absurdität mehr Zweifel hervorzurufen imstande ist? Wenn das so ist, dann stellt das in meinen Augen eine nicht geringe Gefahr dar.
Denn dem Argument, daß es sich bei der Esoterik doch nur um harmlosen Zeitvertreib oder wie Max Goldt vielleicht sagen würde „Vanille für die Seele“ handle und sich die meisten Nutzerinnen ja schon irgendwie der latenten Unvereinbarkeit mit der Wirklichkeit bewußt seien, läßt sich entgegnen, daß die regelmäßige Exposition mit den verschiedenen esoterischen Konzepten einen „Dammbruch“-Effekt hervorrufen oder – neurophysiologisch gesprochen – wie eine „Bahnung“ wirken kann. Anders ausgedrückt: die Beschäftigung mit “harmloseren” Dingen wie Globuli oder Tarotkarten am Anfang kann, bei fließend gedachten Übergängen, den Zugang zum “härteren Stoff” erleichtern. Das kann dann dazu führen, daß man die Personalauswahl von der Schädelform bzw. die Partnerwahl vom Geburtszeitpunkt der Bewerber abhängig macht, aber eben auch dazu, daß man wegen des demnächst nicht stattfindenden Weltendes oder aus Angst vor Flüchen o.ä. ernsthaft in Panik gerät (und sich ggf. finanziell ruiniert) oder gar daß man, wie die anfangs „nur“ homöopathieaffine Krankenschwester und Mutter Pia Burger, nachdem sie einem „Guru“ verfallen war, den „Weg ins Licht“ findet (weniger glamourös auch als Suizid bezeichnet).
Da es keine biologischen Hinweise dafür gibt, daß weibliche Gehirne weniger geeignet oder gut beschaffen sind für rationales, kritisches Denken und die Neigung, Behauptungen zu hinterfragen, ist ein Teil der weiblichen Vulnerabilität für Esoterik wahrscheinlich dem Einfluss von frühzeitig vorgehaltenen Rollenbildern auf Erziehung, Förderung und Ausbildung des weiblichen Selbstverständnisses sowie dem jeweiligen regiokulturellen „Doing Gender“ zuzuschreiben. Ein Phänomen, welches meiner Einschätzung nach diese Vulnerabilität zugleich ausnutzt und konserviert, hatte ich bereits angesprochen: ich vermute, daß der Einfluss (s. Literatur) von den zahlreichen esoterikgläubigen Hebammen (fast eine Tautologie) ein wichtiges Einfallstor ist, durch das eine große Zahl von Frauen erstmals intensiv, also jenseits des gelegentlichen Horoskop-Lesens, mit Esoterik in Kontakt kommen. So nehmen ca. 70% der Schwangeren homöopathische Präparate ein.
Das macht Hebammen, die im Laufe ihrer Karriere sehr viele Schwangere betreuen, zu idealen Multiplikatorinnen, die so früh den Keim für eine lebenslange Homöopathie- und häufig allgemeine Esoterikgläubigkeit säen können.
Die Hebammen nutzen dabei
das vertrauensvolle Verhältnis zwischen Hebamme und werdender Mutter [aus sowie] deren akute Unerfahrenheit, Beratungs- und Betreuungsbedarf und mithin die dadurch begründete profunde Vulnerabilität für derartige Beeinflussung.
Die vor Kontakten zu Hebammen und ähnlichen Multiplikatoren bestehende Anfälligkeit oder eben Verwundbarkeit für solchen „Befall“ scheint einer Untersuchung der Uni Hohenheim zufolge zwar vor allem bei Frauen aber auch sonst breit in der Bevölkerung angelegt zu sein. Man schlussfolgerte
dass die große Mehrheit der Deutschen die wissenschaftliche Weltdeutung nicht befriedigt, sie ist vielmehr der Überzeugung, dass es in der Welt Ereignisse und Vorgänge gibt, die letztlich nicht rational erklärbar sind. Daher glaubt auch jeder Zweite in Deutschland, dass unser Kosmos von einer geistigen Macht zusammengehalten wird und es nicht schaden kann, auf Holz zu klopfen oder einen Talisman bei sich zu haben.
Über mögliche Wurzeln dieses Übels, nämlich der Wissenschaftsferne wenn nicht -feindlichkeit habe ich bereits öffentlich nachgedacht und ich bin nach wie vor überzeugt, daß in einem Land, in dem es an Schulen Zwangsunterricht in Religion aber keine Einweisung in kritisches Denken und die wissenschaftliche Methode gibt, etwas arg falsch läuft. Was bringt es, zu wissen, welcher Jünger bei welcher Gelegenheit was zum hypothetischen, haploiden Handwerker gesagt haben soll und dafür nicht zu wissen, wie man den Wahrheitsgehalt einer Aussage überprüfen kann?
Ich halte Esoterik für einen Parasiten, der sich eine bildungssystemimmanente und offenbar geschlechtsverschieden ausgeprägte Anfälligkeit zunutze macht. Damit ist Esoterik (wie auch Religion) in meinen Augen schädlich und antiemanzipatorisch, indem diese Erscheinung in ihrem Wesen die verheerende Suggestion nährt, derzufolge „Weiblichkeit“ und „Spiritualität“ eine besonders hohe Schnittmenge hätten, Zweifel und kritisches Denken unweiblich, destruktiv, unsanft und unbehaglich sowie ein Anspruch auf Wahrheit und Prüfung unnötig, ja anmaßend wären.
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Nachtrag am 18.6.13: in der aktuellen Folge von Hoaxilla findet sich zur Abwechslung mal ein wunderbares Beispiel für “Männer-Esoterik”: das Märchen vom Kabelklang.
Nachtrag am 19.6.14: diesen Beitrag gibt es jetzt auch in der Soundcloud zum Anhören
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Literatur:
Helen G. Hall, Lisa G. McKenna, Debra L. Griffiths Midwives’ support for Complementary and Alternative Medicine: A literature review. Women and Birth Volume 25, Issue 1 , Pages 4-12, March 2012
Helen Hall, Lisa McKenna, Debra Griffiths Back to the future: support for complementary and alternative medicine in contemporary midwifery practice. Women and Birth, Volume 24, Supplement 1 , Pages S38-S39, October 2011
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