Die ZEIT (Nr. 49) titelte letzte Woche mit der Schlagzeile „Wo Gott nichts zu suchen hat“
und ließ diskutieren, ob Religion Privatsache sein sollte. (Es gab unter anderem ein bedenkliches „Streitgespräch“ mit Wolfgang Thierse, der das nicht findet – dazu aber an anderer Stelle mehr).
Ich habe dazu eine eindeutige Überzeugung: ja, unbedingt!
Ich habe es schon einmal ausgeführt und wiederhole mich: es ist absolut nicht einzusehen, warum irgendein Mensch aufgrund von zur persönlichen Erbauung oder Alltagsbewältigung gepflegten Wahnvorstellungen* das Recht oder die Möglichkeit haben sollte, auf Leben und freie Entscheidungen eines anderen Menschen einzuwirken.
(*Vorstellungen, die, ohne auf Belege begründet oder mit Bezug zur Realität bzw. logischer Haltbarkeit ausgestattet zu sein, verteidigt und unbeirrbar, selbst noch nach eindeutiger Widerlegung, behauptet werden)
Jeder Mensch mag glauben, was er will, was er braucht, was ihn glücklich macht. Für sich allein. Privat! Wenn er zudem findet, daß er sich dazu Spezifika, Komparserei, Speisegebote und sonstige Lebensregeln von einem Buch/anderen Menschen vorschreiben lassen müsse, so möge er sich mit allen Gleichgesinnten zu einem Verein zusammenschließen (und diesen, bei nachgewiesener Gemeinnützigkeit, meinethalben eintragen lassen). Aber auch das: privat und mit jederzeitigem Austrittsrecht.
Aber aus einem individuell benötigten Glauben(sinhalt) das Recht abzuleiten, Kinder zu verstümmeln, die Meinungs- und Kunstfreiheit einzuschränken, Frauen zu unterdrücken (oder, wie unlängst in Irland, sterben zu lassen), Homosexuelle zu diskriminieren, den Tierschutz zu umgehen, Arbeitnehmer zu benachteiligen, Steuerprivilegien und besonderen Schutz vor Strafverfolgung zu genießen? Nein. Nein! Das Vorhandensein eines religiösen Bedürfnisses und selbst einer religiösen Pflicht, etwas zu tun (oder zu lassen), darf weder einen Anspruch auf ein weltliches Sonderrecht verleihen noch auf die Aussetzung eines weltlichen Verbotes dazu, sofern andere Lebewesen und ihre Rechte davon betroffen sind.
Es würde den Rahmen sprengen, hier alle Bereiche des Lebens, Liebens und Wirkens im Deutschland des Jahres 2012 aufzuführen, in die sich die Religionen auch bei Ungläubigen und Konfessionsfreien ungebeten und unerwünscht hineinzwängen können, weil sie es – leider noch – dürfen, es wurde hier ja hier zum Teil auch schon besprochen.
Dennoch ist es immer wieder erschreckend, sich zu vergegenwärtigen, wie groß der Einfluss und wie unprivat Religion noch immer ist. Ich habe mich schon öfters gefragt, wie weit die Duldung religiös motivierter Gesetzgebung wohl praktisch gehen könnte, bis in der Bevölkerung endlich ein auch im Wahlverhalten oder unignorierbaren Protesten sich niederschlagender Widerstand formieren würde. Ein Gesetzentwurf , der Knabenbeschneidung, oder richtiger, männliche Genitalverstümmelung ausdrücklich erlaubt, reicht offenbar nicht. Was wäre mit einem Gesetz, das konsequenterweise und um andere Minderheiten nicht zu benachteiligen auch weibliche Genitalverstümmelung (aus religiösen Gründen oder einfach so) zulässt? Oder ein Gesetz, das Haftstrafen dem/der androht, der/die nicht den Allmächtigen als Schutzinstanz anerkennt (wie in Kentucky)? Oder ein Gesetz, das für bestimmte Bekenntnisse eine eigene Rechtsprechung einräumt und für diese, sagen wir, auch die Todesstrafe wieder einführt? Oder ein gesetzliches Wiederverbot von Homosexualität (weil es Sünde ist) und Abtreibung (weil Gott es so will)? Oder ein Verbot vorehelichen Geschlechtsverkehrs? Oder ein Bekenntniszwang für Politiker, Lehrer, alle? Etc. ad nauseam…
Ich fürchte, es besteht in diesem Land keine allgemeine Einigkeit darüber, was von den oben genannten Vorschlägen statt als Horrorvorstellung als gute Idee oder längst überfällig einzuordnen wäre. Das wirklich beängstigende Problem ist, daß die Übergänge fließend sind und es keinen kategorialen Unterschied zwischen einigen Gesetzen, die bereits existieren und den hypothetischen oben aufgeführten gibt. Es gibt also in Deutschland keinen prinzipiellen Schutz davor, daß ein religiös motiviertes Gesetz geschaffen wird, welches die Menschenrechte verletzt. Und zwar, weil Religion noch immer keine Privatsache ist.
Religiösen LeserInnen, die das Absurdheitsempfinden von Atheisten angesichts diverser Ihnen selbst wahrscheinlich normal oder vertraut vorkommenden Regelungen nachfühlen möchten, biete ich folgendes Gedankenexperiment an: stellen Sie sich vor, die Scientologen würden verlangen, daß an einem bestimmten Tag im Jahr kein Strom verbraucht werden darf, auch nicht von Andersgläubigen, um die „Batterie“ zu ehren und daran zu erinnern, daß es einer Batterie zu verdanken ist, daß der galaktische Tyrann Xenu in seinem Gefängnis gehalten wird.
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