Eine Zelle, deren Wachstumsverhalten nur durch Wachstumsförderung gesteuert würde, wäre wie ein Auto, das zwar ein Gaspedal aber keine Bremse hat. Die einzige Möglichkeit, langsamer zu werden, wäre, kein Gas mehr zu geben, also Ausrollen lassen und auch das nützte nichts, wenn man gerade einen Hang hinunterfährt. Für Kontrolle und Sicherheit braucht ein Auto daher unbedingt eine Bremse und ein Organismus benötigt die Möglichkeit der Wachstumshemmung. Genau wie bei den Signalen zur Anregung von Zellteilung und Wachstum (s. Wachstumsfaktoren) müssen auch Signale zur Hemmung von Wachstum genau reguliert und auf die Bedürfnisse des Organismus abgestimmt werden. Auch hier ist also eine Kommunikation zwischen Zellen und eine gegenseitige Überwachung notwendig.
Rein biochemisch funktioniert das ganz ähnlich, wie schon bei den Wachstumsfaktoren und ihren Rezeptoren beschrieben: ein wachstumshemmender Faktor (man nennt solche Moleküle auch Liganden) bindet an seinen speziellen Rezeptor auf der Außenseite einer Zelle und das dadurch im Inneren der Zelle in Gang gesetzte Programm führt über mehrere Zwischenstufen letztlich zu einem Stop der Zellteilung und/oder des Zellwachstums. Die Aufgabe, das Zellwachstum zu beschränken, wird vielfach durch sogenannte „Tumorsuppressorgene“ (TSG) und die auf ihnen kodierten Proteine erfüllt und an der Bezeichnung erkennt man bereits, daß ihre Funktion vor allem hinsichtlich der Verhinderung einer Tumorentstehung von Bedeutung ist (und entdeckt wurde). Die bekanntesten aber bei weitem nicht einzigen TSG sind wahrscheinlich RB und TP53.
Wenn wir bei der Autoanalogie bleiben, dann muß, um „von der Stelle zu kommen“, eine Tumorzelle also nicht nur unkontrolliert Gas geben können (= Unabhängigkeit von Wachstumsfaktoren), sie muß auch verhindern, daß ihr jemand auf die Bremse tritt, mit anderen Worten unempfindlich gegen wachstumshemmende Signale werden. Dies erreichen Tumorzellen auf unterschiedliche Weisen. So werden sehr häufig und in vielen verschiedenen Tumoren die TSG RB und TP53 auf die eine oder andere Weise inaktiviert, z.B. durch Mutationen, die die Struktur der kodierten Proteine so stark verändern, daß die Proteine nicht mehr ihre normale Funktion erfüllen können oder durch epigenetische Modifikationen, die diese Gene stillegen können.
RB hat in normalen Zellen die Aufgabe, wachstumshemmende Signale die vor allem an der der Zelloberfläche, also von außen (aber manchmal auch von innerhalb der Zelle) eintreffen, zu integrieren und weiterzuleiten, um in der Folge eine Anpassung der Genexpression zu bewirken, die letztlich einen Halt des Zellwachstums bewirkt. Wenn die RB-Funktion zerstört oder unterdrückt wird, geht ein wichtiger „Torwächter“ (gate keeper) der Zellzyklus-Kontrolle verloren und die Zelle kann sich ungehemmt teilen.
TP53 hingegen empfängt Signale von intrazellulären Sensoren für Stress oder „Anomalien“ und bestimmt im Normalfall die Steuerung einer geeigneten Reaktion. Wenn z.B. das Genom der Zelle beschädigt wird, sagen wir durch UV-Strahlung, oder wenn die vorhandenen Mengen an Nukleotiden (= DNA-Bausteine), Wachstumsfaktoren, Glucose oder die Sauerstoffsättigung suboptimal sind, kann TP53 eine „Vollbremsung“ initiieren und einen Stop des Zellzyklus’ bewirken, so daß die Zelle ersteinmal Gelegenheit hat, „aufzuräumen“, also die DNA zu reparieren und/oder die entsprechend gestörten Bedingungen zu normalisieren. Ist der Schaden irreparabel oder bei echten Alarmzuständen kann TP53 sogar den Notaus-Schalter der Apoptose bedienen. Angesichts der komplexen Vielfalt der verschiedenen TP53-Wirkungen kann man sich wohl vorstellen, daß sie hochgradig kontextabhängig und sowohl bei den verschiedenen Zelltypen als auch in ihrer „Heftigkeit“ unterschiedlich ausgeprägt sind.
Wie wichtig die Funktion von TP53, das man auch den “Wächter des Genoms” nennt, für die Zelle ist und wie „lästig“ für eine Tumorzelle, kann man daran sehen, daß TP53 in ca. 50% aller menschlichen Tumoren durch eine Mutation und in vielen der anderen Fälle seine apoptotische Wirkung inaktiviert ist.
Wichtig ist, zu verstehen, daß beide, RB und TP53 an zentralen Knotenpunkten von zwei komplementären Regulations-Signalwegen in der Zelle agieren, durch die gesteuert wird, ob sich die Zelle teilen darf oder ob eine unumkehrbare Alterung oder gar die Apoptose ausgelöst wird. Es ist zu beachten, daß RB und TP53 dabei in ein kompliziertes und zum Teil redundant ausgeprägtes Signalnetz eingebettet sind und nicht als isolierte Automaten verstanden werden sollten.
Neben der Wachstumshemmung durch die beiden „großen“ TSG gibt es noch einen weiteren, äußert bösartigen Trick von Krebszellen, durch den sie den vielseitigen und eigentlich der Wachstumshemmung dienenden TGF-β-Signalweg korrumpieren und sozusagen umprogrammieren. So fand man, daß in vielen fortgeschrittenen Tumoren der TGF-β-Signalweg nicht länger an der Hemmung des Zellwachstums beteiligt ist, sondern stattdessen ein spezielles zelluläres Programm aktiviert, wodurch die Zelle Eigenschaften hochgradiger Malignität erhält.
Eine weitere häufig bei Tumoren angetroffene Möglichkeit, Wachstumshemmung zu umgehen, besteht darin, die sogenannte „Kontaktinhibition“ zu überwinden. Dazu muß man wissen, daß Zellen, die eng gedrängt wachsen, also in innigem Kontakt miteinander sind, eine starke Wachstumshemmung erfahren (aus diesem Grund wuchern Zellen in einer Zellkulturschale auch nicht zu einem unförmigen Klumpen heran, sondern bilden eine schöne konfluente Schicht). In normalen Geweben ermöglicht die Kontaktinhibition wahrscheinlich die Sicherstellung der Gewebehomöostase (die Aufrechterhaltung eines dynamischen Gleichgewichtszustandes), welche im dysregulierten Chaos eines Tumors verloren geht. Erst vor kurzem hat man verstanden, wie Tumoren die Kontaktinhibition umgehen können. Eine der Möglichkeiten ist die Manipulation von Merlin (ja, heißt wirklich so), dem Produkt des Gens NF2, welches zur Kontaktinhibition beiträgt, indem es an der Zelloberfläche befindliche Adhäsionsmoleküle wie E-Cadherin an transmembranäre Rezeptortyrosinkinasen (spezielle Signalmoleküle wie z.B. der EGF-Rezeptor) koppelt. Dadurch verstärkt Merlin die Adhäsion, also den Zusammenhalt von Cadherin-vermittelten Zell-Zell-Verbindungen. Außerdem kann Merlin Rezeptoren für Wachstumsfaktoren „beschlagnahmen“ und dadurch deren Fähigkeit, Wachstumssignale ins Zellinnere zu senden, begrenzen.
Es gibt noch andere Wege, die Kontaktinhibition zu unterlaufen und etliche sind wahrscheinlich noch gar nicht entdeckt und erforscht. Es ist aber bereits klar, daß solche Mechanismen, die es Zellen ermöglichen, architektonisch komplexe Gewebe aufzubauen und zu erhalten, sehr wichtig sind, um unangemessene, abnormale Signale zum Zellwachstum zu unterdrücken und damit ein wichtiges Hindernis für die Entstehung von Tumorzellen darstellen.
Die Überwindung von den verschiedenen Mechanismen zur Einschränkung und Kontrolle von Wachstum und Vermehrung stellt also eine essentielle Errungenschaft für und damit ein weiteres Kennzeichen von Krebszellen dar.
In der nächsten Folge beschreibe ich, wie Tumorzellen lernen, dem programmierten Zelltod zu widerstehen.
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Übersicht Krebs-Serie
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