Ende Februar findet immer der Spurenworkshop der Spurenkommission der DGRM statt.

Der historische und aktuelle Hauptzweck der Spurenworkshops ist dabei immer, die Ergebnisse der beiden jährlichen GEDNAP-Ringversuche für forensische Labors vorszustellen und zu diskutieren. Inzwischen ist die Veranstaltung, die wirklich als ganz kleiner Workshop ihren Anfang nahm, aber zu einer großen internationalen Tagung mit Hunderten Teilnehmern und zahlreichen Industrieausstellern geworden, auf der inzwischen auch immer wissenschaftliche Vorträge präsentiert werden.

 Letztes Jahr waren wir in Hannover, wo ich über unsere Experimente zu DNA im Waffenlauf berichtete (über den Fortgang des Projektes habe ich hier ja in zwei Beiträgen erzählt). Dieses Jahr ging es nach Halle an der Saale.

Los ging es sehr früh und durchaus unzureichend frühverköstigt am Freitagmorgen vom Flughafen Köln/Bonn aus. Halle ist ziemlich weit weg von Bonn, aber in nur 50 Flugminuten ist man da. Nach der Landung bewahrheitete sich eine alte chinesische Weisheit (die ich soeben erfunden habe): im Osten ist alles anders. Ich habe z. B. noch nie einen Flughafen gesehen, der so (immerhin laufbandpflichtig) groß und zugleich so menschenleer war.

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Auf der ewig langen Strecke zu einem Bistro, wo wir auf unseren Anschlußzug warten wollten, aber von niemandem bedient wurden, kam uns kein Mensch entgegen. Eigentlich unverständlich, da der Flughafen neben den Laufbändern, auf denen sich trefflich mit der eigenen Geschwindigkeitswahrnehmung experimentieren läßt, auch noch eine weitere Attraktion bereithält: eine Art Zeitmaschine in die 90er Jahre.

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die zu enge Blouson-Lederjacke und die Ludenlocken darf sich der geneigte Betrachter gerne dazu vorstellen

Aber auch das Wetter war anders. Sehr anders. Während das Rheinland bei unserer Abreise bereits nahezu unanständig mit dem Frühling flirtete, war in Halle

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naja, nicht ganz so schlimm. Aber es herrschte doch unmißverständlich verschneiter, atemkondensierender und akrenanästhetisierend eisiger Winter. Selbst unserem Flugzeug war kalt 😉

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Was mir hingegen das Herz erwärmt hat, war gleich von der ersten Säule herab daran erinnert zu werden, daß in dieser Gegend nicht nur winters stets ein grimmer Frost, sondern auch der Schöpfer der schönsten Musik gewirkt hat.

03Obwohl wir gleich nach der Landung zur Stätte des Spurenworkshops geeilt sind, da dort bereits das Anwendertreffen der Firma Qiagen lief, zu dem wir angemeldet waren, von dessen Besuch wir uns neben Erkenntnissen über neue Qiagen-Produkte und deren Anwendung auch einige belegte Schrippen erwarteten und das im beeindruckend die Althergebrachtheit der Hallenser Uni darstellenden „Löwengebäude“ stattfand,

Christian Thomasius guter Mann, der an der Abschaffung gleich zweier Kirchenklassiker (Hexenprozesse und Folter) mitwirkte

Christian Thomasius guter Mann, der an der Abschaffung gleich zweier Kirchenklassiker (Hexenprozesse und Folter) mitwirkte, empfängtt einen im Löwengebäude

 

 

 

 

 

 

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will ich noch eben die durch Zeitmangel wie unwirtliche Witterung zugestandenermaßen karge touristische Ausbeute aus Halle ausbreiten: das Zentrum Halles, so belehrte uns niemand geringeres als der Sprecher einer Abordnung der Halloren (s.u.), sei sein Marktplatz. In dessen Mitte steht das Denkmal des zurecht gerühmten G.F. Händel, des sicher berühmtesten Sohnes der Stadt

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der einem hier aber allerorten, so auch in der Lobby unserer Herberge, begegnet

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Aber auch in der Peripherie hat der Hallenser seinerzeit nicht unbeträchtliche und nun als Wahrzeichen dienliche Bauten untergebracht, wie den Roten Turm und die Marktkirche

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wie so oft in Halle ist es nahezu menschenleer. Hier ein zu Leere und wetterlicher Tristesse passender Soundtrack: https://www.youtube.com/watch?v=vKajqoXTH7k

aber auch das Stadthaus

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und natürlich den verwirrenderweise als „Leipziger“ bezeichneten aber konsequenterweise auf der Kreuzung von „Leipziger Straße“ und „Am Leipziger Turm“ aufragenden Turm.

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In der Nähe des Markts holten sich diese Grazien auf dem Brunnen vor St. Ulrich  den Tod, wären sie nicht von bildender Kunst in die ewige Duldsamkeit kalten Metalls gegossen.

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der Bau dient heuer als Konzerthalle erbaulicherweise weitaus gedeihlicheren Zwecken als der Götzenverehrung

Aber auch die darstellenden Künste finden in der Hallenser Oper eine würdige Wirkungsstätte

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und damit zum Abend keiner der herbeiströmenden Ring-Jünger glättehalber hinschlagen möge, machte der wack’re Mann mit der tuckernden Apparatur am Morgen bei gerade wieder einsetzendem Schneefall unermüdlich die Wege frei (man muß ihn sich mit Camus wohl als einen glücklichen Menschen vorstellen…).

Halle in diesem tiefen, menschenarmen Winter hatte etwas stoisches, winterruhendes und wirkte auf mich, als genieße es, es nicht paradox zu finden, sich an seiner Melancholie erfreuen zu können (eine Empfindung, die es mit mir teilte).

Doch nun zu etwas völlig anderem und weswegen wir eigentlich hier waren: der 33. Spurenworkshop begann mit einem Grußwort einer eigens dazu und buchstäblich unter Trommelwirbel angereisten Abteilung der Halloren.

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die den Tagungspräsidenten (Direktor der Hallenser Rechtsmedizin)

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mit traditioneller Bierabfüllung bedachten. Nachdem die üblichen Dignitäten der Veranstaltung ihre guten und Gelingenswünsche verabreicht hatten, begannen die Vorträge. Es war wieder ein interessantes, vielseitiges Programm, zu dem ich die Darstellung der Anwendung unserer molekularballistischen Erkenntnisse bei der Untersuchung eines Mehrfachmords beitrug.

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Vor Ort waren übrigens auch einige Journalisten. Für einen Beitrag des Deutschlandfunks wurde auch ich interviewt.

Hier kann man den Beitrag anhören und hier lesen.

Ein Highlight für mich war der mit dem Thema der forensischen Spurenanalyse nur sehr entfernt verwandte Vortrag von M. Meyer vom MPI für Evolutionäre Genetik Leipzig, in dem er von den absolut faszinierenden Ergebnissen berichtete, die aber erst durch die Einbeziehung des Next Generation Sequencing (NGS)  in Populationsgenetik und Evolutionsbiologie erzielen konnte. Unter anderem entdeckte seine Gruppe den „Denisovaner“ anhand einiger sehr gut erhaltener Zahn- und Knochenproben, einen zuvor unbekannten Frühzeitmenschen, dessen mit dem Neandertaler gemeinsamer Vorfahre vor ca. 604.000 Jahren lebte.

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Aufgrund seiner Zähne läßt sich schließen, daß er enorm groß gewesen sein muß. Der Gruppe gelang es sogar, aufgrund genomischer Berechnungen fehlender evolutiver Diversität das Alter des Fundstücks der Denisovanerin (es gehörte zu einer Frau) auf ca. 74 bis 82 Tausend Jahre zu berechnen.

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Ich fand es toll, einen solchen Vortrag auf dieser forensischen Tagung zu hören und ich war wieder einmal begeistert von den Möglichkeiten des NGS. Wer sich tiefergehend mit den Erkenntnissen befassen möchte, findet hier einen ZEIT-Artikel  und hier die Originalarbeit dazu.

Es gab auch noch einen weiteren eher anthropologischen Vortrag, in dem beschrieben wurde, wie mit forensischen Methoden archäologische Thesen zu sog. Kirchenfunden, also unter Kirchen aufgefundenen Resten bestatteter Verstorbener, überprüft wurden. Das funktionierte sehr gut und so gelang in einem Fall die Bestätigung (Rekonstruktion eines Vier-Generationen-Stammbaums)

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hier in einem Fall aus dem mittelalterlichen Gammertingen

und in einem anderen Fall die Widerlegung (keine Verwandtschaft zwischen den Bestatteten) der Annahmen der Archäologen.

Natürlich wurden auch etliche rein forensische und für Nicht-Forensiker vermutlich wenig spannende Vorträge präsentiert, z.B. über Material und Technik bei der möglichst effizienten Durchführung von Tupferabrieben für Speichelspuren, über ein neues Dekontaminationsverfahren für Plastikware und Abriebtupfer, das die Verwendung des sehr problematischen Ethylenoxid ersetzen könnte oder über die Empfehlungen der Fachgesellschaft ISFG zur Bewertung von STR-DNA-Profilen aus sehr geringen DNA-Mengen unter Berücksichtigung sogenannter drop-out und drop-in-Artefakte. Schließlich durften auch die etwas werbungsartigen Firmenvorträge nicht fehlen, in denen neue Produkte, Geräte und Strategien für die forensische Fallarbeit angepriesen wurden.

Zurück mußten wir am Samstag aus organisatorischen Gründen leider mit dem zeitraubenden Zug fahren. Immerhin hatten wir Aufenthalt in Leipzig, wo man den riesigen (!) Hauptbahnhof samt daran angebautes Einkaufszentrum und eine der schönsten mir bekannten Buchhandlungen bestaunen konnte.

Nächstes Jahr geht es dann nach Innsbruck zum 34. Spurenworkshop, wo der “mtDNA-Papst” der Gastgeber sein wird. Nach Innsbruck wollte ich schon länger mal (da muß es einfach toll  sein, wenn H. Isaac so schöne Musik    darüber geschrieben hat, wie es ist, Innsbruck zu verlassen) und im Februar liegt dort sicher ausreichend Schnee, um die Einbettung des Workshopbesuchs in einen kleinen Skiurlaub zu rechtfertigen.

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Kommentare (3)

  1. #1 rolak
    27/02/2013

    Stimmungsvoller post – und zwei meiner Fachvorbildung angemessen weit vom Thema entfernte Bemerkungen:
    Die komische Reklamesäule in/hinter der Zeitmaschine ließ mich unweigerlich an jene Notfall-Bank denken.
    Bahnhöfe. Die haben mir auf meinen Reisen die größten Überraschungen bereitet. Die allergrößte vor ~25 Jahren: Ua wir JH-Zivis machten sich eines freien WEs zu fünft in einem 105er Turbo-Peugeot auf ‘nach Holland, an den Strand’. Irgendwann, schon dunkel, fuhren wir durch eine völlig unbekannte Stadt bis zu einem großen Parkplatz an einem großen, dunklen Bau. War ja noch vor dem €, also alle los wg Geldwechselns und in dieses Monstrum wg Nachfragens bzw -zeichensprechens, durch eine kleine, unscheinbare Tür. War ein einziger Nebeneingang: Der Antwerpener Hbf hat uns aber einen derart sakralen, zeitbremsenden Moment verpaßt^^
    Ok, kann an dem Abend auch an gewissem Psychotropischen gelegen haben, doch die Wirkung dieses Raumes schlug auch andernmals lässig die des K-Doms. Dann also nicht Gulden, sondern Franc und nebenan in eine Schawarma-Bude, wo es tatsächlich, Respekt!, eine richtig gut scharfe Variante gab. Ok, der eine Kollege hielt das mehr für vollzogene Körperverletzung – ich jedoch für angemessen gaumenkitzelnd. Pittig.

  2. #2 inuken
    01/03/2013

    Ach nein, ein Bericht aus meiner Studienstadt.. Jetzt in den Semesterferien muss es da ja tatsächlich nochl ruhiger sein als normalerweise. Ist jedenfalls wirklich witzig auf scienceblogs soviele Bilder von orten zu sehen die man fast Täglich sieht. Und dann gabs da auch noch eine derartig interessante tagung.

  3. #3 radix100
    Pulheim
    16/03/2013

    Spachgewaltig, dieser Autor. Es ist ein Vergnügen, diesen Reisebericht zu lesen.
    So ein Satz:
    “In der Nähe des Markts holten sich diese Grazien auf dem Brunnen vor St. Ulrich den Tod, wären sie nicht von bildender Kunst in die ewige Duldsamkeit kalten Metalls gegossen”
    ist ein literarischer Hochgenuss. Ich werd ihn auswendig lernen…