Anlässlich des heutigen Tages möchte ich mit allen LeserInnen zwei Texte teilen.
Zuerst möchte ich an eine großartige Frau, Emma Goldmann, erinnern und zugleich einen ihrer Texte präsentieren, den ich in seiner kraftvollen und eindrücklichen Sprache und natürlich wegen seiner Botschaft fabelhaft finde. Er heißt im englischen Original “The Philosophy of Atheism” und erschien zuerst 1916 im “Mother Earth Journal”. Thematisch passen der Kampf für Frauenrechte und -gleichberechtigung, für den sich Goldmann einsetzte sowie der (humanistische) Atheismus freilich sehr gut zusammen, da ersterer vornehmlich wegen des Wirkens patriarchalischer Religionen (noch immer) notwendig ist und letzterer ebenjene, die Religionen, ablehnt und zugleich Frauen grundsätzlich als gleichwert auffasst. Da Goldmanns Text offenbar nicht (oder zumindest nicht an einem mir zugänglichen Ort) in deutscher Übersetzung vorliegt, habe ich mir ‘mal die Ehre gegeben:
Die Philosophie des Atheismus
von Emma Goldmann
Um eine angemessene Darstellung der Philosophie des Atheismus vorzulegen, wäre es wohl notwendig, sich mit den historischen Veränderung des Glaubens an eine Gottheit, von seinen frühesten bis zum heutigen Tage, zu befassen. Doch das würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Es ist jedoch nicht unangemessen, im Vorbeigehen zu erwähnen, daß das Konzept Gott, übernatürliche Macht, Geist, Gottheit oder mit welchem Ausdruck die Essenz des Theismus auch immer bezeichnet werden mag, im Laufe der Zeit immer unbestimmter und obskurer geworden ist. Mit anderen Worten: die Gott-Idee wird im gleichen Maße unpersönlicher und nebulöser, in dem der menschliche Verstand lernt, natürliche Phänomene zu begreifen und in dem Wissenschaft und Fortschritt menschliche und soziale Ereignisse in Korrelation setzen.
God stellt heute nicht mehr die gleiche Macht dar wie zu Beginn seiner Existenz und er lenkt nicht mehr das menschliche Schicksal mit eiserner Faust wie zu jener Zeit. Vielmehr ist die Gott-Idee zu einer Art spirituellem Stimulus verkommen, der die Launen und Einbildungen, die aus jeder Ausprägung menschlicher Schwäche erwachsen, befriedigt. Im Laufe der menschlichen Entwicklung war die Gott-Idee dabei gezwungen, sich der jeweiligen Phase der menschlichen Verhältnisse anzupassen, was ja mit dem Ursprung dieser Idee vollständig vereinbar ist. Die Erfindung aller Götter begründet sich auf Furcht und Neugier. Der primitive Mensch, der noch nicht in der Lage war, die Naturphänomene, die ihn ständig bedrohten, zu verstehen, wähnte hinter jeder erschreckenden oder furchteinflössenden Erscheinung eine finstere Macht, die gezielt gegen ihn gerichtet war. Und weil Ignoranz und Furcht der Ursprung allen Aberglaubens sind, erschuf die eingeschüchterte Phantasie des primitiven Menschen die Gott-Idee.
Der weltbekannte Atheist und Anarchist Michael Bakunin formulierte dies sehr trefflich in seinem großen Werk “Gott und der Staat”: „Alle Religionen mit ihren Göttern, Halbgöttern, Propheten, Erlösern und Heiligen wurden von der leichtgläubigen Phantasie von Menschen geschaffen, die noch nicht zur vollen Entwicklung und zum Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten gelangt waren; der Himmel der Religion ist also nichts als eine Lichtspiegelung, in der der Mensch, von Unwissenheit und Glauben überspannt, sein eigenes Bild wiedersieht, aber vergrößert und verkehrt, d.h. vergöttlicht. Die Geschichte der Religionen, die des Ursprungs, der Größe und des Verfalls der Götter, wie sie im menschlichen Glauben aufeinander folgten, ist also nichts als die Entwicklung der Intelligenz und des kollektiven Bewußtseins der Menschen. Je nachdem sie auf ihrem geschichtlichen Vormarsch in sich selbst oder in der äußeren Natur eine Kraft, eine Fähigkeit oder selbst einen großen Fehler fanden, übertrugen sie dieselben durch einen Akt ihrer religiösen Phantasie auf ihre Götter, übertrieben, ins Maßlose ausgedehnt, wie Kinder es zu tun pflegen.“
Bei allem Respekt für die Metaphysiker und religiösen Idealisten, Philosophen, Politiker und Dichter: die Gott-Idee impliziert die Abdankung menschlicher Vernunft und Gerechtigkeit; sie ist die entschiedenste Verneinung menschlicher Freiheit und führt notwendig zur Versklavung der Menschheit, in Theorie und Praxis. Aus diesem Grund hat die Gott-Idee, wiederbelebt und angepasst, vergrößert oder verkleinert, ganz entsprechend den Erfordernissen der Zeitalter, die Menschheit dominiert und wird es weiterhin tun, bis eines Tages der Mensch sein Haupt zum Licht heben wird, ohne Furcht und mit erwachtem Willen zu sich selbst. Im gleichen Zuge, in dem der Mensch lernt, sich selbst zu (er)kennen und sein Schicksal selbst zu gestalten, wird der Theismus überflüssig werden. Die Tiefe des Verhältnisses, das der Mensch zu seinesgleichen wird finden können, hängt dabei vollständig davon ab, wie weit er seiner Abhängigkeit von Gott entwachsen kann.
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