Es gibt bereits Anzeichen, daß der Theismus, also die Theorie der Spekulation, durch den Atheismus, die Wissenschaft der Demonstration, ersetzt wird. Während jene in den metaphysischen Wolken des Jenseitigen schwebt, hat diese ihre Wurzeln fest in der Erde. Es ist aber die Erde, nicht der Himmel, die der Mensch erhalten muß, wenn er wahrhaftig errettet werden soll. Der Niedergang des Theismus ist ein höchst interessantes Schauspiel, besonders da er sich in den Befürchtungen der Theisten – gleich welcher Couleur – manifestiert. Sie stellen zu ihrer größten Besorgnis fest, daß die Massen täglich atheistischer und anti-religiöser werden, daß sie mehr als bereit sind, das Große Jenseits und seine himmlische Domäne den Engeln und Spatzen zu überlassen, weil sie mehr und mehr in die Probleme ihrer unmittelbaren, diesseitigen Existenz verstrickt werden.
Wie die Massen mit der Gott-Idee, dem Geist, der Ersten Ursache etc. zu versöhnen seien, das ist für alle Theisten daher die dringlichste Frage. So metaphysisch all diese Fragen auch anmuten mögen, haben sie doch einen sehr weltlichen Hintergrund. Nämlich insofern, als Religion, die „Göttliche Wahrheit“, Belohnung und Strafe die Markenzeichen der größten, korruptesten und schädlichsten, mächtigsten und gewinnträchtigsten Industrie der Welt sind – und die Waffenindustrie ist nicht von diesem Vergleich ausgenommen: Es ist die Industrie der Umnebelung des menschlichen Geistes und der Unterdrückung menschlicher Herzensregung. Not kennt kein Gebot; so erklärt sich, daß die Mehrzahl der Theisten gezwungen ist, jedes Thema aufzugreifen, selbst wenn es nichts mit einer Gottheit oder dem Großen Jenseits zu tun hat. Vielleicht spüren sie, daß die Menschheit der hundertundeins Bezeichnungen für Gott überdrüssig geworden ist.
Wie der theistische Glaube aus diesem tiefen Tal aufzuheben wäre stellt für alle Bekenntnisse ein Problem auf Leben und Tod dar. Daher auch ihre Toleranz; doch ist dies nicht eine Toleranz des Verstehens sondern der Schwäche. Das erklärt vielleicht auch die in allen religiösen Veröffentlichungen auffindbaren Bemühungen, verschiedenste religiöse Philosophien und konfligierende theistische Theorien in einer einzigen konfessionellen Vorstellung zu vereinen. Die verschiedenen Konzepte „des dreieinigen Gottes, des einzig reinen Geistes, der einzig wahren Religion“ werden immer weiter angepasst und umgedeutet, in dem verzweifelten Versuch eine gemeinsame Grundlage zu schaffen, um die modernen Massen vor dem „verderblichen“ Einfluss atheistischer Idee zu schützen.
Es ist dabei kennzeichnend für die theistische “Toleranz”, daß sich eigentlich niemand darum schert, woran die Leute glauben, solange sie nur glauben oder vorgeben zu glauben. Und um dieses Ziel zu erreichen werden die krudesten, vulgärsten Methoden angewendet. Feierliche Zusammenkünfte und religiöses Wiederauflebenlassen mit Billy Sunday als Galionsfigur – Methoden also, die jeden feinen Geschmack entsetzen müssen und deren Wirkung auf die Ignoranten und Neugierigen in diesen oft einen milden Wahnzustand erzeugt, der nicht selten zusammen mit Erotomanie auftritt. Alle diese ungeschlachten Anstrengungen finden Zustimmung und Unterstützung bei den „irdischen Mächten“; vom russischen Despoten bis zum amerikanischen Präsidenten; von Rockefeller und Wanamaker bis hinab zum unbedeutendsten Geschäftsmann. Sie behaupten, daß das Kapital, das in Billy Sunday, den Y.M.C.A. , „Christliche Wissenschaft“ und verschiedene andere religiöse Einrichtungen investiert worden sei, sich in Form enormer Profite aus der gefügig gemachten und gezähmten dumpfen Masse rentieren werde.
Die meisten Theisten sehen, bewußt oder unbewußt, in den Göttern und Teufeln, in Himmel und Hölle Belohnung und Strafe, eine Peitsche, um damit den Menschen Gehorsam, Demut und Bescheidung einzutreiben. Die Wahrheit ist, daß der Theismus ohne die vereinte Unterstützung durch den Mammon und die Macht längst seinen Halt würde verloren haben, und wie bankrott er bereits wirklich ist, zeigte sich heute in den Schützengräben und auf den Schlachtfeldern Europas. Haben uns nicht alle Theisten ihre Gottheit als den Gott der Liebe und Güte vorgestellt? Und doch stellen sich auch nach tausenden Jahren solchen Predigens die Götter taub für die Qualen der menschlichen Rasse. Konfuzius schert sich nicht um Armut, Elend und Jammer des chinesischen Volkes. Buddha läßt sich in seiner philosophischen Indifferenz nicht durch die Entbehrungen und den Hungertod empörter Hindus stören. Jahwe bleibt ungerührt vom bitterlichen Weinen Israels, während Jesus sich weigert, erneut von den Toten und gegen seine Christen sich zu erheben, die sich gegenseitig abschlachten.
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