Spoilerwarnung: Im Rahmen der folgenden Rezension werde ich zentrale Teile der Geschichte ansprechen, wodurch Nochnichtgelesenhabenden die Spannung verdorben werden könnte. Solche Abschnitte werde ich daher kursiv setzen, sowie mit #### nach oben und unten begrenzen und jede(r) liest auf eigene Gefahr.
„Mythos“ wirkt mit seiner Buchdeckeldiagonale von gerade einmal 23 Zentimetern irgendwie unterformatig, doch zwischen den zollarmen Deckeln findet sich ein immerhin knapp 600-seitiger Roman. Darin versucht sich der Autor Markus Schulte von Drach an dem Kunststück, den diskursiven Zusammenprall der theistischen und atheistischen Weltauffassungen mit einem klassischen Abenteuerroman zu verbinden. Die beiden Komponenten des Buches verhalten sich dabei jedoch, so mein Urteil, zueinander wie Öl und Wasser: auch durch kräftiges Rühren wird kein homogenes Gemisch daraus.
Der Hauptteil der Handlung spielt sich mitten im peruanischen Dschungel ab, wo zwei im Verlaufe der Handlung versammelte Gruppen von Protagonisten zusammentreffen. Die eine Gruppe, bestehend aus der deutschen Schatzsucherin Nora Tilly, ihrem amerikanischen Chef Rob York und dem französischen Priester Arnaud d’Albret, die von der irischen Journalistin Brea McLoughlin verfolgt werden, ist auf der Suche nach einem legendären Inkaschatz, der dort vor ca. 500 Jahren versteckt worden sein soll. Die andere Gruppe, die sich aus dem peruanischen Biologiedoktoranden Fernando Pérez, dem türkischen Kreationisten Adem Tanriverdi sowie einem für die Handlung weniger bedeutenden peruanischen Paläntologie-Professor und dessen amerikanischer Assistentin zusammensetzt, will ein ungewöhnliches Fossil, welches Pérez zuvor dort entdeckt und photographiert hat, untersuchen.
Der erste Teil des Romans führt umfangreich die Personen ein, konstituiert ihre Motive und Ziele. Wir erfahren, wer Brea McLoughlin ist und warum sie so sehr gegen die Religionen kämpft, es wird beschrieben, wie Tilly zuerst Hinweise auf und später einen echten Wegweiser zum Schatz findet und sich zusammen mit Rob York auf den Weg nach Peru macht, um ihn zu heben; der vor seiner Liebe zu einer Frau geflohene und seither mit sich hadernde und strauchelnde Priester d’Albert wird vorgestellt und es wird berichtet, wie der Biologe Pérez auf das Fossil stößt und, weil ihm die seriösen Paläontologen keinen rechten Glauben schenken und eine Fälschung befürchten, den reichen aber tiefgläubigen Tanriverdi als Financier für die Bergung des Fossils gewinnt.
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Als zusätzliches Spannungselement und um dem ganzen noch einen Schuß Sex & Crime beizumengen, geistert auch noch der als Photograph getarnte, eiskalte niederländische Killer Arie van der Merwe durch den Roman, dessen Motive aber lange im Dunkeln bleiben. Auf dem Höhepunkt von Spannung und Handlung machen die Protagonisten schließlich eine gleichermaßen phantastische wie grauenerregende Entdeckung: der gewaltige Inkaschatz existiert tatsächlich und liegt innerhalb einer uralten unterirdischen Anlage, die offenbar von perfekt im Dschungel getarnten, intelligenten, gefiederten Raubsauriern mit dreifingrigen Vorderextremitäten mit opponierbaren Daumen errichtet wurde. Diese Wesen haben irgendwie die Exktinktion nach dem KT-Impakt überlebt und seither und unbemerkt durch den Menschen fortbestanden und Sprache, empathisches Bewußtsein, eine Art Religion, fortschrittliche Kulturtechniken wie die Herstellung komplexer Waffen und Kunst in Form der Bildhauerei entwickelt. Der Beweis, daß diese Wesen schon seit Millionen von Jahren existieren, findet sich bei dem Fossil, das die Gruppe um Pérez untersuchen wollte: es handelte sich dabei um einen Purussaurus, der zu vormenschlichen Zeiten lebte und ausstarb, aber dennoch von einem Pfeil, also einer konstruierten Waffe, hergestellt und eingesetzt von eben jenen Echsenwesen, getroffen worden war. Diese Wesen, die in düsteren Mythen der peruanischen Indios als „unsichtbare Mörder“ bezeichnet werden, waren und sind noch immer keineswegs erfreut über die menschlichen Eindringlinge und als die beiden Gruppen in jener Anlage aufeinandertreffen, hatte dort bereits ein Kampf zwischen den Wesen und peruanischen Militärs getobt, die an diesem Ort eine illegale Coca-Plantage betreiben wollten und auf die Wesen gestoßen waren.
Das ganze endet in einem Blutbad, dem unter anderem Rob York und Adem Tanriverdi zum Opfer fallen. Der Rest der Gruppe entkommt mit knapper Not, muß bei der überstürzten Flucht den Schatz zurücklassen und am Ende wird das gesamte Areal durch peruansiche Kampfhubschrauber großflächig verbrannt und alle Fundstücke und Beweise, daß es die Anlage, das Fossil oder die Wesen gab oder noch gibt, werden zerstört.
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Ein paar (von mir empfundene) Längen des Buchs sind wohl dem Ehrgeiz des Autors zu historischer Akkuratesse geschuldet aber insgesamt haben wir hier eine ordentlich geschriebene moderne Abenteuergeschichte mit Bibliotheken und Geheimschriften, einer Schatzsuche mit Expedition im Dschungel, Fallen, Indianermythen, Mord, Totschlag und waffengewaltigem Actionthrill in unterirdischen Tempelanlagen mit deren unheimlichen Bewohnern. Ich bin kein großer Freund und Kenner dieses Genres, aber Stimmung und Flair der Geschichte dürften am ehesten einer Mischung aus Indiana Jones und Jurassic Park entsprechen.
Doch da ist ja noch die andere, besondere und für mich interessantere Komponente des Romans: der Streit zwischen den Weltanschauungen, der in zwei Lagern geführt wird und hier lohnt es sich, die Kontrahenten etwas genauer zu betrachten. Im ersten Lager ficht Brea McLoughlin, eine überzeugte Atheistin vom Typus Dawkins/Hitchens/Harris (charakteristische Stelle: „Ich hasse alle Religionen von ganzem Herzen“) gegen den zu Beginn des Buches überzeugten und gläubigen Priester d’Albert und dessen katholischen Glauben (charakteristische Stelle: „Gott ist gerecht. Gott ist Gnade. Gott ist das Licht. Alles ist gut und richtig, genau so, wie es ist“).
Im zweiten Lager streiten der Biologe Pérez, Inhaber eines szientistischen Weltbildes und überzeugt von der Richtigkeit der darwinschen Evolutionstheorie und der türkische, islamische Kreationist Adem Tanriverdi mit seiner kindlich-voraufgeklärten Vorstellung einer dioramenhaft von Allah geschöpften Welt (charakteristische Stelle: „Allah hat sich mir offenbart!“), der die Evolutionstheorie strikt ablehnt und dabei ganz deutlich an Harun Yahya angelehnt ist, welcher im Buch auch als Kollege Tanriverdis bezeichnet wird.
Es kommt im Buch zu mehreren Schlagabtauschen zwischen den Parteien, im Verlaufe derer Schulte von Drach die Duellanten beider Seiten zahlreiche klassische Argumente und die jeweiligen Erwiderungen darauf vortragen läßt. In den Disputen McLoughlin vs d’Albert geht es vor allem um die philosophischen, während Pérez vs Tanriverdi sich über die naturwissenschaftlichen Implikationen einer Welt mit bzw. ohne Gott streiten. Daß, im Auge des Betrachters, aus diesen Begegnungen jeweils meist die Vertreter von Wissenschaft und Atheismus siegreich hervorgehen, liegt dabei jedoch nicht an einer (wahrscheinlich durchaus vorhandenen) Parteilichkeit des Autors, der die argumentative Landschaft recht neutral abbildet, sondern schlicht daran, daß, mit Verlaub, unsere Seite einfach die besseren Argumente hat. Ich möchte sie nicht alle aufführen, sondern exemplarisch auf einige eingehen:
Von d’Albert wird zunächst versucht, die Zulässigkeit wissenschaftlichen Hinterfragens durch das NOMA-Gambit zu verneinen. McLoughlin läßt ihn damit auflaufen und es folgt eine Diskussion für und wider die Berechtigung der Theologie, deren beste Argumente McLoughlin treffend als „wohlklingende Behauptungen, die nur aufgrund ihrer Ästhetik ständig wiederholt werden und nicht etwa, weil sie fundiert wären“ enttarnt.
Die unausweichliche Diskussion um Gut, Böse und Theodizee darf natürlich auch nicht fehlen: während d’Albert Jesus/Gott als einziges Fanal des Lichts in der menschimmanenten und unter dem Schatten der Erbsünde entspringenden „schmutzigen Flut des Bösen“, ohne den es kein Gutes geben kann, preist, zeigt McLoughlin, daß die Erbsünde, ein abscheuliches Konzept, das ironischerwiese höchstwahrscheinlich einem Übersetzungsfehler durch Augustinus zu verdanken und doch zu einer zentralen Idee des Christentums geworden ist, auf dem absurden Mythos von Adam und Eva beruht, also selbst ein Mythos ist. Außerdem verweist sie auf die unaussprechlichen Verbrechen, die seit frühester Zeit und bis heute im Namen der Religionen, auch und insbesondere des Christentums begangen wurden und werden und stellt fest, daß es bei allen bösen Taten, verbrochen von Religiösen oder Atheisten, immer nur um Macht und Einfluss gehe und daß für alles Leid jenseits von Krankheit und Naturkatastrophen die einzige Ursache Ungerechtigkeit sei.
Der Mensch, so zitiert d’Albret daraufhin den Papst, werde durch die “Fähigkeit geheilt, Leid anzunehmen, in ihm zu reifen und Sinn zu finden durch die Vereinigung mit Christus”. Dessen Forderungen kann man aber nur folgen, wenn man ihm oder besser, wenn man an ihn und an ein Jenseits glaubt. Womit man wieder am Anfang des Problems ist, dessen religiöse Lösung d’Albert so zusammenfasst: „Letztlich läuft alles darauf hinaus, bestimmte, gut begründete Vorgaben zu akzeptieren“.
Diese Akzeptanz, nämlich der Glaube, wird ebenfalls diskutiert und Schulte von Drach anerkennt durchaus dessen tröstliche Wirkung, aus der manche, sehr gläubige Menschen große Kraft und respekteinflössende Haltung selbst in größter Not und Verzweiflung zu gewinnen vermögen, so z.B. Tanriverdi als er umgebracht wird. Doch, wie McLoughlin richtig feststellt, macht die Intensität, mit der ein Mensch an etwas glaubt und es für wahr hält, z.B. ein Leben nach dem Tod, das Geglaubte darum nicht wahr oder auch nur ein winziges Bißchen wahrscheinlicher. Es beruhigt und tröstet höchstens die Gläubigen: das Jenseits wird somit zum „größten Placebo der Welt“.
Auch die Bibel nehmen sich die beiden vor: beide picken sich die zu ihren Argumenten passenden Rosinen aus dem Buch, woraus ersichtlich wird, daß man für jede Handlung, ob Nächstenliebe oder Sklaverei, ob Güte und Vergebung oder Mord und Totschlag, eine biblische Rechtfertigung finden kann. Daraus folgt natürlich, wie auch Dawkins schon ausgeführt hat, daß niemand der Bibel eine widerspruchsfreie Anleitung zu gutem Leben und Handeln entnehmen kann und sie daher als moralische Grundlage zu verwerfen ist.
Ich selbst kann mich durchaus mit dem Furor und der Motivation von Brea McLoughlin identifizieren, die sich trotz aller Widerstände und Fährnisse, trotz der Mühsal auf ihrem Weg und der Befürchtung, daß alles, was sie tut, vergeblich sein könne, immer wieder aufrafft, deutlich zu sagen was sie über Religionen denkt, denn „wenn andere ihr Leben [aufgeben] für einen Glauben, dann [kann] sie wohl die Unbequemlichkeiten und Frust auf sich nehmen, um für ihre Sache zu streiten“ und „ein gutes Leben im Diesseits […] leben – gut für sie und gut für andere“.
Bei Pérez vs. Tanriverdi sieht Tanriverdi die Rolle und Bedeutung seines Gottes von der Wissenschaft und insbesondere den „Evolutionisten“ bedroht und feuert die ganze übliche Barrage von zwar unlogischen und/oder hundertfach widerlegten, die Kreationisten dadurch von ihrer Verwendung jedoch keineswegs entmutigenden „Argumenten“ gegen die Evolutionstheorie, den Urknall, das Zufallselement bei der Entstehung und Entwicklung von Leben und die Unbesonderheit von Menschen und Erde im Universum ab, darunter die erste Ursache, die „nur eine Theorie“-Volte, ein Argument des persönlichen Unglaubens, die Uhrmacher-Analogie, die Behauptung der Feinabstimmung der Naturkonstanten durch Gott, das anthropische Prinzip in teleologischer Auslegung, der Tornado auf dem Schrottplatz (auch bekannt als Hoyles Fehlschluss), den Gott der Lücken etc.pp. und nachdem Pérez all diese Ausfälle und Finten pariert hat, zieht Tanriverdi sich schließlich auf das resignative, sich aber selbst genügende und daher kritikresistente „Allah hat sich mir offenbart“ zurück.
In einem späteren Gefecht versucht er sich noch an einigen falschen bzw. widerlegten Behauptungen aus den Mottenkisten des klassischen Kreationismus’ bzw. Intelligent Designs, daß es z.B. keine Übergangsfossilien gäbe und bei einigen Strukturen in der Biologie eine nichtreduzierbare Komplexität, die auf einen Schöpfer hinweise, festzustellen wäre. Es ist und bleibt also völlig unzweifelhaft, daß die Kreationisten, als deren Paladin Tanriverdi hier aufgestellt wird, bis heute keine überzeugenden Argumente gegen die Evolutionstheorie vorgelegt haben und an den Argumenten und Belegen, die dafür sprechen, sowie der Möglichkeit, ihre Überzeugungen der Wirklichkeit anzupassen, auch keinerlei Interesse hegen. Doch wie Schulte von Drach zuvor schon die Macht und den Trost des Glaubens anerkannt hat, räumt er auch ein, indem er den Paläontologie-Professor, der nichts von den Echsenwesen mitbekommen hatte, das ihm so unerklärliche und in seinen Augen die Evolutionstheorie gefährdende Fossil zerstören läßt, daß sich auch nicht-gläubige Wissenschaftler des (Selbst)Betrugs zum Schutze ihres Weltbildes schuldig machen können.
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Am Ende stirbt der fundamentalistische und bis zuletzt von den Gesprächen mit Pérez unbeeindruckte Tanriverdi einen schrecklichen Tod, fest im Glauben trotz des Horrors und Grauens, das ihm widerfährt, und mit einem Gebet auf den Lippen, während d’Albret durch die von McLoughlin angefachten Zweifel in eine Glaubenskrise gerät, dem Priestertum enträt und zu einer eher agnostischen Sichtweise und endlich der schmerzlich vermissten und ersehnten Liebe in den Armen einer Frau findet.
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Ich finde, daß Schulte von Drach die Schilderung der Auseinandersetzungen pro und contra Religion gut gelungen ist. Man erhält einen Überblick über die häufig in solchen anzutreffenden Argumente und sieht, wie sie in einer Diskussion, in der sich die Gesprächspartner respektieren, funktionieren können. Schulte von Drach hat sicher seinen Dawkins und Hitchens gelesen und präsentiert die Gedanken dieser großen Köpfe auf verständliche, pointierte und bisweilen mitreißende Art zusammen mit seinen eigenen, den Protagonisten in den Mund gelegten Ansichten und einige seiner Formulierungen sind durchaus zitierenswert.
Mein Problem mit dem Konzept des Buches ist, daß die religiösen bzw. antireligiösen Auffassungen zwar schlüssige Teile der Persönlichkeiten der Protagonisten jedoch nicht notwendig mit der Handlung verknüpft sind. Handlung und Dispute verlaufen gänzlich nebeneinander und sind ohne weiteres ohneeinander denkbar. Deshalb befürchte ich, daß das Buch nicht so funktionieren könnte, wie ich Schulte von Drach einmal unterstelle, es beabsichtigt zu haben. Fans von Action- und Abenteuergeschichten, die die Dispute der Protagonisten als unnötig oder gar langweilig empfinden, werden sie überblättern und der Geschichte ohne Schaden dennoch folgen können und das wäre schade…
Fazit: „Mythos“ ist ein gutes Buch und kann interessant sein sowohl für Freunde von Abenteuerliteratur als auch für am anhaltenden Streit von Atheismus und Wissenschaft gegen Religion und Dogma Interessierte. Am besten eignet es sich wahrscheinlich für Menschen, die in einer spannenden Geschichte gerne einmal innehalten und während sie einer der Debatten lesend lauschen über die großen Themen der Menschheit nachdenken und vielleicht noch etwas dazulernen möchten.
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Das Buch ist am 14.3.2013 im Verlag Springer Spektrum erschienen. ISBN-10: 3642347746
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