Warnung: in dieser Reihe wird es immer wieder zu Begegnungen mit und Blicke in die tiefsten menschlichen Abgründe kommen und obgleich ich mich stets bemühen werde, nicht ins Sensationalistische abzugleiten, mag bisweilen die unausgeschmückte Realität bereits mehr sein, als manche(r) erträgt.
Diesmal: drei Fälle von Simultanversterben von Ehepartnern.
„Philemon und Baucis“ aus den Metamorphosen von Ovid, worin die Transzendenz der Sterblichkeit durch eine untrennbar innige und selbst durch den gemeinsamen Tod nicht verlöschte, nur verwandelte Liebe besungen wird, ist eine der schönsten Liebesgeschichten, die ich kenne.
In Anlehnung an diese Geschichte wurde der simultane Tod zweier betagter Ehepartner für forensische Verhältnisse ungewohnt romantisch als ‚Philemon und Baucis Syndrom’ beschrieben: man könnte sagen, ein Ohne-den-anderen-nicht-mehr-leben-wollen-und-können, das dazu führt, daß der natürliche Tod eines der Partner auch den Tod des bereits durch hohes Alter geschwächten anderen, z.B. durch nervlichen Stress, auslöst oder herbeiführt.
In der gesamten forensischen Literatur waren zuvor erst zwei derartige Fälle beschrieben worden (s. [2]) und die Autoren der Arbeit, die ich hier vorstellen möchte, präsentieren nun drei weitere Simultantodesfälle alter Ehepaare [1]. Für die rechtliche Beurteilung solcher Todesfälle sei die Abgrenzung zu Suiziden und Tötungsdelikten zwar von erheblicher Bedeutung, so die Autoren, aber angesichts des Mangels an Erfahrung aufgrund der Seltenheit solcher Ereignisse nicht einfach.
Fall 1
Die Leichen eines Paares, beide über 80, wurden in der gemeinsamen Wohnung gefunden, nachdem man die beiden eine Woche lang nicht mehr gesehen hatte. Der Mann lag rücklings im Schlafzimmer, die Frau in Embryonalhaltung im Gang. Beide Leichen wiesen erste Fäulniserscheinungen sowie Verletzungen auf, die sich aber eindeutig als postmortale Spuren von Leichenfrass durch den Hund, den das Paar gehalten hatte, einordnen ließen.
Die Obduktion des Mannes ergab, daß er gestürzt war und sich dabei eine Oberschenkelhalsfraktur (Garden-III) zugezogen hatte, wodurch er nicht mehr hätte aufstehen können. Die Ursache des Sturzes war nicht mehr eindeutig zu ermitteln, jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit Folge eines Herzinfarktes, wofür alte Infarktnarben und eine erhebliche Arteriosklerose der Herzkranzgefäße sprachen.
Die Obduktion der Frau, die unter Alzheimerscher Demenz litt, erbrachte keine makroskopischen Hinweise auf die Todesursache aber auch sie hatte ein verengtes Herzkranzgefäß. Histologisch wurden Anzeichen einer ischämischen Herzschädigung und eines Lungenödems gefunden.
Toxikologisch waren beide Verstorbenen ohne Befund.
Fall 2
Ein Nachbar hatte etwa ein Woche lang nichts mehr von dem alten Ehepaar, beide über 80, gehört und setzte einen Notruf ab. Nachdem die Tür zur Wohnung des Paares aufgebrochen worden war, fand man beide tot im Wohnzimmer. Als Anhaltspunkte für den Todeszeitpunkt diente eine Zeitung von der Vorwoche und ein Tagebuch, in dem der Mann seine Blutzuckerwerte protokolliert hatte, auch hier war der letzte Eintrag aus der vergangenen Woche.
Beide Leichen, die bereits Anzeichen von Fäulnis aber nicht von Verletzungen zeigten, lagen mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden vor einer großen Uhr, deren Tür offenstand, und berührten einander noch. Neben der Uhr war ein Hocker bereitgestellt worden und auf einer Kommode lag ein Zettel mit der Anweisung „Stell die Uhr“. Es gab keine Anzeichen für gewaltsames Eindringen in die Wohnung.
Die Obduktion der Frau ergab, daß sie von einem Herzleiden durch erweiterte Herzkammern (dilatierte Kardiomyopathie) betroffen und daß ihre verengten Herzkranzgefäße durch Einsetzen von Stents sowie ihre durch das oben erwähnte Herzleiden verursachten Arrhythmien durch Einsatz eines Herzschrittmachers behandelt worden war. Die histologische Untersuchung bestätigte die Verengung der Herzkranzgefäße und erbrachte zudem Hinweise auf ein Lungenödem sowie Anhaltspunkte für Tod durch Herzversagen.
Bei der Obduktion des Mannes, der nicht insulinpflichtiger Diabetiker und gegen Herzrhythmusstörungen und Linksherzversagen behandelt worden war, konnte keine makroskopische Todesursache gefunden werden.Histologisch wurden die Herzerkrankung und eine fortgeschrittene Arteriosklerose bestätigt, sowie Anzeichen eines Lungenödems entdeckt, jedoch keine Hinweise für einen akuten Infarkt gefunden.
Toxikologisch waren beide Verstorbenen ohne Befund.
Fall 3
Vor zwei Tagen hatte der Sohn zuletzt von seinen alten Eltern (beide über 80) gehört, ein Nachbar hatte den alten Mann 48 Stunden zuvor aber noch vor dem Haus sitzen sehen. Die vom Sohn alarmierten Behörden brachen die Tür auf und fanden die beiden Alten tot auf dem Boden liegend vor. Es gab keine Anzeichen für ein vorheriges gewaltsames Eindringen in die Wohnung.
Der Mann lag rücklings auf dem Boden, mit dem Kopf unter dem Fernsehtisch, wo er vermutlich eine Reparatur vornehmen wollte, da laut Aussage des Nachbars kurz zuvor eine Umstellung der Sendeanstalten dies notwendig gemacht habe. Am Hinterkopf hatte er eine Platzwunde, die jedoch schon auf den ersten Blick nicht todesursächlich zu sein schien. Seine Frau lag schräg neben ihm in Bauchlage, daneben ein umgestürzter Sessel.
Bei der Obduktion des Mannes, der gegen Bluthochdruck und ischämische Herzerkrankung behandelt worden war, bestätigte sich, daß die Kopfwunde oberflächlich und ungefährlich war und konnten Belege für überstandene ischämische Herzschädigungen, sowie stark verkalkte Herzkranzgefäße gefunden werden. Histologisch wurden die Befunde bestätigt, ein Lungenödem festgestellt und der Tod durch einen Herzinfarkt belegt.
Die Obduktion der Ehefrau erbrachte, daß diese unter einer erheblichen dilatierten Kardiomyopathie sowie unter verkalkten Herzkranzgefäßen, die jedoch noch gut durchlässig waren, litt. Sie war gegen die durch das Herzleiden erzeugten Arrhythmien sowie wegen einer depressiven Erkrankung mit Medikamenten behandelt worden. Die histologische Untersuchung bestätigte die Befunde und konnte ebenfalls keine eindeutigen Anhaltspunkte für die Todesursache aufzeigen.
Toxikologisch waren beide Verstorbenen ohne Befund.
Die wahrscheinlichsten Szenarien für die drei Simultantodesfälle
Der gleichzeitige Tod mehrerer Personen geht immer mit erhöhter Wahrscheinlichkeit einher, daß dabei ein mehrfaches Tötungsdelikt vorliegt. Wenn sich für ein solches keine Indizien finden lassen, müssen andere Szenarien in Betracht gezogen werden:
- Mord + Selbstmord / Massenselbstmord; häufig assoziiert mit persönlichen Tragödien und depressiven Erkrankungen. In keinem der drei beschriebenen Fällen gab es dafür Anhaltspunkte.
- Kollektive Vergiftung (z.B. durch Essen oder Kohlenmonoxid); um darauf schließen zu können, muß jedoch eine toxische Substanz nachgewiesen werden und in den drei beschriebenen Fälle waren die toxikologischen Befunde sämtlich negativ
- Unfall (z.B. im Verkehr, durch Feuer, Unglück etc.); in den drei beschriebenen Fällen deutete nichts auf ein unfallhaftes Geschehen hin
Im ersten Fall erlitt der Ehemann offenbar einen Herzinfarkt, stürzte, brach sich den Oberschenkel und verstarb. Die Todesursache seiner Frau blieb ungeklärt, es deutete jedoch alles auf eine kardiale Ursache hin. Beide Toten waren in einem identischen Fäulniszustand, was, zusammen mit weiteren Indizien für einen nahezu gleichzeitigen Tod spricht.
Im zweiten Fall litten beide Ehepartner unter einer Erkrankung des Herzens und der Herzgefäße. Die Frau verstarb durch ein durch vollständige Stenosierung der Koronarien ausgelöstes Herzversagen. Beim Mann blieb die Todesursache unklar, dennoch kann aufgrund seiner Vorgeschichte und der histologischen Befunde eine tödliche Herzrhythmusstörung angenommen werden. Da die Leichen so eng beieinanderlagen, daß sie einander noch im Tod berührten, ist ein simultanes Versterben sehr wahrscheinlich.
Im dritten Fall dürfte sich der Mann zuvor bei einem Sturz den Hinterkopf ungefährlich angeschlagen haben. Dann legte er sich auf den Rücken unter den Fernsehtisch, um das Gerät zu reparieren und starb dabei an einem Herzinfarkt. Die Todesursache seiner Frau konnte nicht eindeutig bestimmt werden, vieles spricht angesichts ihrer Vorerkrankungen jedoch für eine tödlich verlaufene Herzrhythmusstörung. Aufgrund der Bedingungen am Sterbeort erscheint ein plötzlicher und gleichzeitiger Tod beider Partner sehr wahrscheinlich.
Es konnte also in allen Fällen der Tod einer der Partner durch natürliche Ursachen erklärt werden; in allen Fällen war dies ein Herztod. Die Tode der jeweils anderen Partner konnten nicht eindeutig erkannt werden, sie wiesen aber einige gemeinsame Merkmale auf:
- Gleichzeitigkeit mit Tod des Partners
- eine vorbestehende kardiovaskuläre Erkrankung
- ein gewisses Maß an altersbedingter Hinfälligkeit und Abhängigkeit vom Partner, wodurch durch den Tod des Partners jeweils akuter psychischer Stress ausgelöst worden sein dürfte.
Nun ist bekannt [3], daß schwere psychische Belastungen akute Herzprobleme z.B. Rhythmusstörungen auslösen können. Aus Studien des Nervensystems mit funktioneller Bildgebung weiß man inzwischen, wie arrhythmogene Mechanismen über das autonome Nervensystem mit mentalem Stress in Verbindung stehen [4]. Mentaler Stress und Emotionen werden in einem Netzwerk aus Hirnregionen verarbeitet, die auch bei der Prozessierung autonomer Nervensignale beteiligt sind, wodurch es zu einem sympathischen und parasympathischen neuronalen „Überfluss“ bis zum Herzen kommen kann.
Der plötzliche Tod durch koronare Herzkrankheit als Folge einer Episode akuten mentalen Stress’ wird nun gewöhnlich bei Menschen beobachtet, deren medizinische Vorgeschichte wie in den drei Fällen eine ischämische Herzerkrankung umfasst [5].
Die beste Erklärung der drei simultanen Todesfälle sind also für jeden Fall jeweils der natürliche Tod eines Ehepartners und der direkt darauf folgende Tod des anderen Partners mit einer vorbestehenden Herzerkrankung, ausgelöst durch eine stress-vermittelte Reaktion des autonomen Nervensystems.
Der Gott erhöret ihn, und will ihm auch vergönnen,
Nebst ihr noch einen Wunsch ohn’ Anstand thun zu können.
Falls, ruft Philemon aus, ein Flehen dir gefällt,
Das jetzt die Liebe wagt, die uns zuerst gesellt;
Wird mir und Baucis einst der Tod zugleich erscheinen,
Und keines je von uns des andern Grab beweinen!
(aus „Philemon und Baucis“ von F. v. Hagedorn)
Musikempfehlung: ungern aber nicht ganz unpassenderweise jenes Stück. Oder doch lieber dieses hier?
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Referenzen:
[1] Delannoy Y, Tournel G, Dedouit F, Cornez R, Telmon N, Hedouin V, Rouge D, & Gosset D (2013). Philemon and Baucis syndrome: three additional cases of double deaths of married couples. Forensic science international, 226 (1-3) PMID: 23415164
[2] S. Ciesiolka, M. Riße, B. Busch, M.A. Verhoff, Philemon and Baucis death: two cases of double deaths of married couples, Forensic. Sci. Int. 176 (2008) 7–10.
[3] R. Stalnikowicz, A. Tsafrir, Acute psychological stress and cardiovascular events, Am. J. Emerg. Med. 20 (2002) 488–491.
[4] P. Taggart, H. Critchley, P.D. Lambiase, Heart-brain interactions in cardiac arrhythmia, Heart 97 (2011) 698–708.
[5] D. Lecomte, P. Fornes, G. Nicolas, Stressful events as a trigger of sudden death: a study of 43 medico-legal autopsy cases, Forensic Sci. Int. 79 (1996) 1–10.
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Nachtrag vom 13.02.2014:
Soeben fand ich eine weitere Arbeit zu diesem seltenen Phänomen [5]. In diesem Artikel werden zwei Fälle des Syndroms beschrieben. Einer betraf ein Ehepaar, der andere einen Vater und einen Sohn. Die postmortalen Untersuchungen umfassten auch Röntgen und biochemische Analysen und kamen zu dem Ergebnis, daß die Todesursachen in beiden Fällen natürliche waren. Die Beteiligung Dritter konnte ausgeschlossen werden. Auch in diesem Artikel wird noch einmal auf die Schwierigkeit bei der Bewertung solcher Fälle hingewiesen und auf die Bedeutung, die die Zusammenführung mehrerer Befunde und Todesaspekte hat, um zu einem verlässlichen Ergebnis zu kommen.
[5] Christelle Lardi M.D., Gregory Schmit M.D., Sandra Burkhardt M.D.,Patrice Mangin M.D., Ph.D.,Cristian Palmiere M.D.*Philemon and Baucis Deaths: Case Reports and Postmortem Biochemistry Contribution. J For Sci (2014): DOI: 10.1111/1556-4029.12419
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Nachtrag am 12.01.2017: In Soulalex in der Schweiz waren vor einiger Zeit die Leichen eines älteren Ehepaars entdeckt worden. Auch dieser Fall hat sich kürzlich als Versterben durch Philemon-und-Baucis-Syndrom herausgestellt.
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