Warnung: in dieser Reihe stelle ich schräge, drastische, extreme oder auf andere Weise merkwürdige Studien und Fallberichte vor, die die Forensischen Wissenschaften in ihrer ganzen Breite und Vielseitigkeit portraitieren sollen, die aber in ihrer Thematik und/oder den beigefügten Abbildungen nicht für alle LeserInnen geeignet sind und obgleich ich mich stets bemühen werde, nicht ins Sensationalistische abzugleiten, mag bisweilen die unausgeschmückte/bebilderte Realität bereits mehr sein, als manche(r) erträgt.
Diesmal geht es, keine Sorge, nicht um Karl May, sondern um eine Arbeit aus Texas, in der untersucht wird, wie lange Geier brauchen, um eine menschliche Leiche zu skelettieren und wie, wie weit und wohin dabei die Teile des Leichnams verteilt werden.
Natürlich klingt das zunächst wie eine vor allem makabere Angelegenheit, deren wissenschaftlicher Nutzen vielleicht nicht sofort auf der Hand liegt. Dennoch: diese Arbeit nutzt modernste Methoden, ist wirklich spannend und liefert Erkenntnisse, die für die bei forensischen Untersuchungen sehr wichtige Todeszeitbestimmung von menschlichen Leichen, die in Gegenden, in denen Geier vorkommen, gefunden werden, durchaus bedeutsam sind. Gerade bei der Untersuchung von Tötungsdelikten kann es entscheidend sein, die Zeit, die seit dem Tod des Opfers vergangen ist, das sog. post-mortem Intervall (PMI), korrekt abzuschätzen, um den Tathergang rekonstruieren, mögliche Täter zu ermitteln und andere äußere Einflüsse sinnvoll miteinbeziehen zu können.
Die vorliegende Arbeit ist Teil eines größeren Forschungsprojekts und stellt erstmalig eine taphonomisch basierte Technik zur PMI-Einschätzung vor, die auf der Verwendung menschlicher Überreste in einem kontrollierten Tiermodell gründet und die Untersuchung des Einflusses von aasfressenden Geiern auf den Ablauf des Zersetzungsprozesses menschlicher Leichen gestattet.
Ziel des übergeordneten Forschungsprojektes ist die Aufklärung des durch Geier beeinflussten Verwesungsprozesses, die Differenzierung zwischen Geierfrassspuren und möglichen todesumständlichen Verletzungen und die Identifizierung skelettaler Disartikulationsmuster (Trennung von zwei Knochen aus ihrem verbindenden Gelenk) an Orten, an denen Geier auf Nahrungssuche gehen.
Zur Methode:
Am 19.11.2009 wurde die frische Leiche einer Frau, die an einer natürlichen Ursache verstorben war und zuvor der wissenschaftlichen Verwendung ihrer sterblichen Überreste zugestimmt hatte, auf dem Gelände der Forensich-Anthropolgischen Forschungseinrichtung (FARF) ausgelegt. Die FARF verfügt u.a. über 5 Acre (1 Acre = 4074 qm) eingezäuntes Gelände, dessen Zaunbegrenzung zuverlässig den Zugang für terrestrische Aasfresser blockiert, vogelartigen Aasfressern aber nicht abhält. Eine Infrarotkamera mit Bewegungssensor wurde so aufgestellt, daß alle Bewegungen an, bei und auf der Leiche bei Tag und Nacht aufgezeichnet werden konnten.
Die genaue Position der Leiche wurde mittels des Global Information System (GIS) und Global Positioning System (GPS) zentimetergenau bestimmt (die Wissenschaft, die sich mit der Messung, Organisation, Analyse und Präsentation räumlicher Daten befasst, wird als GIScience bezeichnet). Bei diesem Projekt war die positionale Genauigkeit (accuracy) von besonderer Bedeutung, da die Geier die Leichenteile nur wenige Dezimeter bewegen könnten. Um eine besonders hohe Messgenauigkeit zu erzielen, benutzen die Forscher verschiedene, modernste GIS- und GPS-Hard- und Softwares und griffen u.a. auf Messstationen des texanischen Verkehrsministeriums und der NOAA zurück.
Ergebnisse:
Nach Auslage der Leiche passierte ersteinmal tagelang gar nichts. In der ersten Woche kamen lediglich zwei Rabengeier vorbei und delektierten sich an den Augen der Leiche, danach war bis auf die Ausnahme von Madenbefall etwa 30 Tage lang Ruhe und wegen der niedrigen Aussentemperatur blieb der Leichnam in einem halbwegs frischen Zustand mit gering ausgeprägten Fäulniszeichen.
Plötzlich, am 26.12.2009, fanden sich zahlreiche (30+) Rabengeier bei der Leiche ein
und verwandelten sie innerhalb von 24 Stunden (davon nur 5 Stunden aktive Fresszeit) in ein Skelett!
Ab diesem Zeitpunkt kehrten die Geier sporadisch noch über 15 Wochen zu den skelettierten Überresten zurück, trennten Skelettelemente ab und verteilten diese in der Umgebung. Es wurden nur wenige andere aasfressende Vögel bei der Leiche beobachtet, darunter ein Rotschwanzbussard, die jedoch keine Veränderungen vornahmen, so daß alle an den Skelettelementen feststellbaren Schäden den Rabengeiern zugeschrieben werden konnten.
Insgesamt waren Teile des Körpers auf einer Fläche von knapp 83,6 qm über eine Höhendifferenz von etwa 2 m verteilt. Der Abstand zwischen den am weitesten voneinander entfernten Teilen (l. Oberschenkelknochen und ein Teil des l. Ohrs) betrug 15,8 m.
Die Abbildung zeigt die Orte, an denen sich zu verschiedenen Daten (Legende oben rechts) einzelne Leichenteile befunden haben. Die unterschiedlichen Höheniveaus sind am Grad der Schattierung (Legende unten links) abzulesen (zur, angesichts der amerikanischen Neigung, immer noch mit ihren komischen Körperteilmaßen zu messen, vielleicht notwendigen Erinnerung: 1 Fuß entspricht ca. 30,5 cm). Auf den kleinen Karten rechts am Rand ist die Lage der FARF innerhalb der Freeman Ranch und darunter die ungefähre Startposition des Leichnams innerhalb der FARF zu sehen.
In einer etwas aufwendigeren Analyse wurden dann noch die Standarddistanz der Körperteile zu verschiedenen Zeiten sowie die richtungsmäßige Verteilung zu den Meßdaten bestimmt. Erstere ist ein Kreis, der das Ausmaß der Dispersion bzw. Konzentration von Merkmalen (hier: Leichenteile) um ein Zentrum herum mißt, letztere entspricht einer Standardabweichungsellipse und mißt den richtungsmäßigen Trend einer Gruppe von Merkmalen. Die resultierende Ellipse zeigt das Ausmaß der Elongation und die Orientierung bei der räumlichen Verteilung der untersuchten Merkmale an.
Die Abbildung zeigt Standarddistanz (Kreise) und richtungsmäßige Verteilung (Ellipsen) der Leichenteile am Tag der Auslegung (wo natürlich alles noch zusammenhängt und extrem konzentriert ist), am letzten Messtermin und einen Durchschnittswert über alle Daten, woran man das Außmaß der Verteilung sehr schön erkennen kann. Die Meßgenauigkeit schwankte bei den schlechtesten Messungen um maximal 15 cm.
Die hier getestete Messmethode für die Positionsfeststellung von Leichenteilen hat sich bewährt und empfiehlt sich demnach für zukünftige forensische Analysen der Verschleppung von Leichenteilen durch Aasfresser. Es sind aber noch Verfeinerungen denkbar, z.B. 3D-Modellierung, wodurch auch Beziehungen zwischen Verschleppungsmustern und Terraineigenschaften (wie Gefällen etc.) untersucht werden könnten.
Insgesamt kommen die Autoren zu dem Schluß, daß in Regionen, in denen Geier oder andere vogelartige Aasfresser vorkommen und Zugang zu Orten im Freien haben, die PMI-Abschätzung nach Leichenfunden an solchen Orten grob falsch liegen kann, wenn man die Aasfresseraktivität nicht mit einbezieht. Insbesondere bei skelettierten Leichen, die diesen Zustand durch Geiereinwirkung bereits nach 2 Tagen erreicht haben können, würde man gewöhnlich bis zu 6 Monate Liegezeit veranschlagen. Ob es Geierfrass gegeben hat, läßt sich dann anthropologisch an Verletzungsmustern an den Knochen nachvollziehen. Interessant ist auch die Beobachtung, daß in diesem Fall die Geieraktivität erst nach 37 Tagen einsetzte. In einer anderen Studie warteten die Geier z.B. nur 24 Stunden, bis sie einen Schweinekadaver angriffen.
Die Verwendung von GIScience Methoden und Technologie bei der Dokumentation der Muster der Verteilung von Leichenresten durch Aasfresser habe jedenfalls das Potential, so die Autoren, raumanalytisch basierte Erkenntnisse zu liefern, aus denen sich auch Vorhersagemodelle für die Auffindung fehlender Skelettelemente erstellen ließen.
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Naheliegende Musikempfehlung: „Nurturing the vultures“ von Mesmerized by Misery
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Referenz
[1] Spradley MK, Hamilton MD, & Giordano A (2012). Spatial patterning of vulture scavenged human remains. Forensic science international, 219 (1-3), 57-63 PMID: 22204892
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