ACHTUNG: Wenn Sie noch am Experiment teilnehmen wollen, lesen Sie auf keinen Fall hier weiter, sondern klicken Sie erst hier!
Das ging ja schnell! Ich hatte versprochen, eine erste Auswertung des philosophischen Experiments, zu dem ich kürzlich eingeladen hatte, zu liefern, sobald 100 auswertbare Kommentare zusammengekommen sein würden. Das war vorgestern bereits der Fall, daher hier der erste Zwischenstand (weitere gibt es bei jedem vollen Hundert auswertbarer Kommentare) am 30.7.13 einschl. Kommentar #118:
Teilnehmern beider Gruppen wurde eine nicht-fachsprachliche Beschreibung eines deterministischen Universums vorgestellt. Dann wurden sie nach der Verantwortlichkeit eines Menschen in einem solchen Universum für das eigene Handeln gefragt und zwar anhand einer abstrakten Formulierung (Gruppe 1) bzw. anhand eines konkreten Verbrechens (Gruppe 2). Die Grundannahme (Nullhypothese) besteht darin, daß die Teilnehmer beider Gruppen gleich häufig entscheiden müßten, daß eine Verantwortlichkeit für das eigene Handeln besteht. Untersucht werden soll, ob diese Entscheidung dadurch, daß ein abstraktes oder konkretes Szenario vorgegeben wird, beeinflusst wird.
- Als Teilnahme gemeinte Kommentare: 108, davon auswertbar: 106
- Die zufällige Gruppenzuteilung hat nicht perfekt aber ganz vernünftig geklappt mit 56,6 % der Teilnehmer in Gruppe 1 und 43,4 % der Teilnehmer in Gruppe 2.
- Gruppe 1 (abstrakte Verantwortlichkeit): 26 x ja, 34 x nein (gesamt: 60)
- Gruppe 2 (konkrete Verantwortlichkeit): 33 x ja, 13 x nein (gesamt: 46)
Prozentual ergibt sich dafür folgendes Bild:
Man sieht also einen deutlichen Unterschied zwischen den Häufigkeiten, d.h. Teilnehmer der Gruppe 1 ordneten Menschen in einer deterministischen Welt weniger häufig eine Verantwortlichkeit zu, als Teilnehmer der Gruppe 2. Der Unterschied ist laut einem Chi^2-Test sogar statistisch signifikant (p = 0,004 (zweiseitig), Chi2 = 8,513; 1 Freiheitsgrad).
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Nachtrag 05.08.: Hier der zweite Zwischenstand
- Insgesamt in die Auswertung einbezogene Kommentare: 190
- Die zufällige Gruppenzuteilung ist nach wie vor nicht perfekt mit 53,7 % der Teilnehmer in Gruppe 1 und 46,3 % der Teilnehmer in Gruppe 2.
- Gruppe 1 (abstrakte Verantwortlichkeit): 47 x ja, 55 x nein (gesamt: 102)
- Gruppe 2 (konkrete Verantwortlichkeit): 59 x ja, 29 x nein (gesamt: 88)
Prozentual ergibt sich dafür folgendes Bild (aus Wunsch einiger Leser diesmal in einer Darstellung, die den Anteil an den Stimmen der jeweiligen Gruppen abbildet):
Der Unterschied ist zwar etwas geschrumpft von S1 zu G, bleibt aber laut einem Chi^2-Test statistisch signifikant (p = 0,004 (zweiseitig), Chi2 = 8,420; 1 Freiheitsgrad).
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Dieses Ergebnis war zu erwarten, auch wenn es hier (noch) deutlich weniger stark ausgeprägt ist, als bei anderen befragten Gruppen, denn die gleiche Art von Unterschied erschien auch bei allen anderen Teilnehmergruppen [1] und zwar unabhängig von Kultur und Nation [2].
Die hier gesehenen Unterschiede zu anderen Studien im Ausmaß der Verschiedenheit könnten in abweichenden Formulierungen der Beschreibungen und Fragen begründet sein, aber auch in der durch ihre Eigenschaft als ScienceblogleserInnen vorselektierten Teilnehmerschaft.
Eine mögliche Erklärung für diese Unterschiede beim moralischen Empfinden ist, daß die eigentliche, vom gesunden Menschenverstand („common sense“) begründete Antwort auf die abstrakt formulierte Frage erfolgt und daß die meisten Menschen, die ruhig und gesammelt sind, anerkennen, daß Determinismus und Verantwortlichkeit einander ausschließen. Wird man aber mit der emotional aktivierenden, konkret formulierten Frage konfrontiert, wird die eigene Reaktion durch emotionale Faktoren verzerrt und man neigt eher dazu, dem Bedürfnis, dem Täter eine Schuld zuzuweisen, nachzugeben, selbst unter der Annahme der Bedingungen des Determinismus’ [3].
Eine richtige/falsche Antwort auf die Frage gibt es deshalb nicht, weil gar nicht abschließend geklärt ist, ob der Determinismus kompatibel oder inkompatibel mit moralischer Verantwortlichkeit ist. Beide Auffassungen existieren auch unter Philosophen: Inkompatibilisten erachten moralische Verantwortlichkeit als unvereinbar mit einer deterministischen Welt, während Kompatibilisten argumentieren, daß der Determinismus als eine Art Fatalismus falsch verstanden werde und sehr wohl mit der Idee konsistent sei, daß Verhalten hervorgerufen (also bestimmt) wird durch bewußte, psychologische und nicht nur neuronale und chemische Prozesse [4,5].
Es bleibt also offen: sind wir Automaten zwar ohne Hoffnung auf Selbstbestimmung aber fatalerweise mit der Fähigkeit ausgestattet, uns selbst also ebensolche wahrzunehmen (und zu bedauern?) oder läßt sich selbst für Inhaber eines materialistisch-naturalistischen Weltbildes (wie z.B. mich) plausibel begründen, daß die Freiheit von Wille und Handeln mehr ist, als eine äußerst überzeugende und für unsern inneren Frieden essentielle Illusion?
Habe ich also die Wahl, diesen Satz zuende
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[1] Nichols, S., Knobe, J. Moral responsibility and determinism: The cognitive science of folk intuitions. Nous. (2007) 41(4):663
[2] Sarkissian,H.; Chatterjee,A.; De Brigard,F.; Knobe,J.; Nichols,S.; Sirker,S. Is Belief in Free Will a Cultural Universal? Mind & Language (2010) 25(3):346
[3] Goldberg JH, Lerner JS, Tetlock PE. Rage and reason: The psychology of the intuitive prosecutor. European Journal of Social Psychology (1999) 29:781-785
[4] Nahmias, E. Folk fears about freedom and responsibility: Determinism vs. reductionism. J Cogn Cult (2006) 6(1-2):215
[5] Nahmias, E., Murray, D. Experimental philosophy on free will: An error theory for incompatibilist intuitions. New waves in philosophy of action (2010): 189
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