Nein, damit sind nicht Leute wie ich gemeint, die Gewaltphantasien zu entwickeln (oder gar verwirklichen) drohen, angesichts im Kino nebenan sitzender und bisweilen deutliche Evolutionsdefizite vermuten lassender Halbstarker, die, statt still den Film zu genießen, wahlweise (aber immer lautstark) unausgegorene Kommentare oder Fragen zum Geschehen äußern, mit ihren Mobiltelephonen störendes Licht und/oder Geräusch verursachen oder einander mit Fäkalien Popcorn bewerfen.
Gemeint sind Psychopathen im Film. (Anmerkung: Unter Psychopathie wird in der forensischen Psychologie und Psychiatrie eine schwere Form der dissozialen/antisozialen Persönlichkeitsstörung verstanden, die in ihrer Ausprägung die genannte Persönlichkeitsstörung übertrifft.) Im Fachjournal „Journal of Forensic Sciences“ erschien kürzlich ein Aufsatz zweier forensischer Psychiater aus Brüssel, über den ich hier berichte und worin sie ihre Untersuchnugen dazu dokumentierten, auf welche Weise Psychopathen bzw. psychopathisches Verhalten in Kinofilmen dargestellt wird, wie realistisch diese Darstellung aus Sicht von Psychiatern und Psychologen ist und wie sie sich mit den Jahren und sich erweiterndem psychopathologischem Wissen verändert.
Methoden
Dazu haben sie sich viel Arbeit gemacht, die aber höchstwahrscheinlich auch Spaß gemacht hat. Zuerst haben sie 15 verschiedene Film-Datenbanken und-archive, die allesamt frei im Internet verfügbar sind, darunter natürlich die IMDb, durchsucht und die Schurken und Bösewichte aus insgesamt 400 Filmen (je einer pro Film) zusammengestellt.
Dann setzten sie sich zusammen mit anderen erfahrenen forensischen Psychiatern und ein paar Filmkritikern hin und sahen sich diese 400 Filme an. Danach erfolgte eine weitere Selektion, indem zu karikaturhafte und zu stark fiktionale Charaktere (z.B. Superschurken aus Comicverfilmungen) von der weiteren Untersuchung ausgeschlossen wurden. Außerdem wurden Figuren ausgeschlossen, die eins oder mehrere der folgenden Kriterien erfüllten: Unbesiegbarkeit, im Besitz magischer Kräfte, Nichtmenschlichkeit (Geister, Monster etc.), andere unrealistische Eigenschaften. Diesem Selektionsschritt fielen 274 Figuren zum Opfer, so daß die bereinigte Stichprobe 126 Filme/Figuren umfaßte, die zwischen 1915 und 2010 erschienen waren und alle Genres von Abenteuer, Komödie, Drama, Thriller, Blockbuster, Western, Film Noir bis zum Kriegsfilm überspannten.
Die Autoren sammelten und dokumentierten zur Beurteilung der Figuren alle verfügbaren Informationen, welche vornehmlich aus den Filmen selbst, aber auch aus anderen Quellen stammen konnten. Auf dieser Grundlage erstellten sie genauestmögliche psychiatrische Diagnosen besonders hinsichtlich Psychopathie (s.u.). Diese Diagnosen entbehren natürlich klassischer klinischer Evaluationen und psychometrischer Tests und sind daher weniger detailliert.
Diagnostische Einteilung
Um der derzeit verbreiteten Auffassung, derzufolge Psychopathie ein überaus heterogenes Phänomen und allgemein schwierig zu identifizieren und subtypisieren sei, Rechnung zu tragen, wendeten die Autoren zwei verschiedene diagnostische Klassifikationsmodelle an: 1. Die Primär/Sekundär-Unterscheidung nach Karpman [2] und 2. das Drei-Faktor-Modell nach Hervé [3-5].
Im ersten Modell wird zwischen primären und sekundären Psychopathen unterschieden. Primäre Psychopathie ist demnach eine erbliche Affektstörung, charakterisiert durch hohe „Faktor 1“-Werte im PCL-R-Test(ein psychologischer Test, der 20 Persönlichkeitsaspekte einbezieht und zur Identifikation von Psychopathie verwendet wird; s. Anhang) sowie offen zur Schau gestelltem Narzissmus. Sekundäre Psychopathie ist eine (durch Umwelteinflüsse) erworbene Affektstörung, gekennzeichnet durch hohe „Faktor 2“-Werte (dafür niedrige „Faktor 1“-Werte“) im PCL-R, eher versteckten Narzissmus und Ängstlichkeit, sowie eine Reihe von Borderline-Merkmalen.
Im zweiten, dem „Drei-Faktor-Modell“ das Hervé von Cooke und Michie übernommen und adaptiert hatte [3-5] (die drei Faktoren sind „zwischenmenschlich“, „affektbezogen“ und „Lebensstil“), gibt es vier Gruppen oder „Cluster“, in die Psychopathen unter Einbeziehung ihrer Werte im PCL-R und bei den drei Faktoren eingeteilt werden: (i) klassisch/idiopathisch/prototypisch, (ii) manipulativ, (iii) machohaft, (iv) pseudopsychopathisch. Cluster (i) war hierbei assoziiert mit den höchsten Werten im PCL-R und bei allen drei Faktoren. In Cluster (iii) fanden sich die zweithöchsten PCL-R-Werte und niedrige Werte beim Faktor „zwischenmenschlich“, dafür hohe Werte bei den anderen beiden Faktoren. Der Macho-Gruppe fehlte demnach Wortgewandtheit und Charme, die zum Aufbau von Vertrauen benötigt werden, dafür konnten sie andere durch Gewalt und Einschüchterung manipulieren (häufig waren Straftaten wie Raub und Überfälle). Cluster (ii) hatte niedrige Werte beim Faktor „Lebensstil“, dafür hohe Werte in den beiden anderen Faktoren. Diese Psychopathen konnten gut reden und Straftaten wie Betrug und Täuschung waren hier häufig. Der Cluster (iv), die auch als „Soziopathen“ bezeichnet werden, hatte niedrige Werte bei den Faktoren „zwischenmenschlich“ und „Lebensstil“ aber häufig so niedrige Werte (< 30) im PCL-R, daß sie gar nicht streng als Psychopathen klassifiziert werden konnten (daher die Bezeichnung).
Ergebnisse
105 der Figuren waren Männer und nur 21 Frauen und die Tabelle im Anhang gibt eine Übersicht, geteilt nach Geschlecht, über alle 126 Figuren und ihre Einteilung nach den beiden Modellen (Primär/Sekundär bzw. Drei-Faktoren). Außerdem gibt es noch eine zusätzliche Spalte für alternative bzw. zusätzliche Diagnosen, sofern gegeben.
Unter den männlichen Figuren fanden sich 49 % primäre und 51 % sekundäre Psychopathen bzw. 34% klassisch/idiopathisch/prototypische, 20 % manipulative, 27% machohafte und 19% Pseudopsychopathen. Bei den weiblichen Psychos gab es 29% primäre und 71 % sekundäre Psychopathinnen bzw. 14 % klassisch/idiopathisch/prototypische, 48 % manipulative 8 % pseudopsychopathische und gar keine machohaften Psychopathinnen.
Diskussion
Nach der fast 100 Jahre Filmschaffen überspannenden Analyse stellen die Autoren fest, daß die Darstellung von Psychopathen in den frühen Filmen oft von unzureichender und unvollständiger Kenntnis psychopathischer Syndrome künden. Häufig waren die Figuren karikaturhaft überzeichnet, waren sadistisch, unberechenbar, sexuell verkommen und emotional instabil mit einem Zwang zu wahllosen Gewalthandlungen, Mord und Zerstörung, wobei sie nicht selten bizarre Angewohnheiten und Manierismen, wie unpassendes Kichern, entgleisende Mimik etc. zur Schau stellten. Die auch in der Bevölkerung gering ausgeprägten Kenntnisse über psychische Störungen und Erkrankungen führte zu einer allgemeinen Akzeptanz dieser Darstellung, die man gewöhnlich sogar für realistisch hielt.
Eine erste Veränderung trat nach der Verhaftung von Ed Gein, 1957, ein, die landesweit große Beachtung fand. Gein war ein nekrophiler Grabräuber und Kannibale gewesen und seine Taten, die in der öffentlichen Wahrnehmung häufig mit Psychopathie identifiziert wurden, beeinflussten die Darstellung von Psychopathen in Filmen, indem sie ab diesem Zeitpunkt vornehmlich im Genre des Horrorfilms vorkam.
Das Auftreten mehrerer wirklicher Psychopathen und Serienmörder in den 60er und 70er Jahren und die begleitende Berichterstattung und mediale Repräsentation führte dann zu einer informierteren Wahrnehmung klinisch-psychopathischen Verhaltens, das in ritualhaftem Mord gipfelt und das Kino griff dieses Motiv und die weithin mißverstandenen Verhaltensweisen der Täter auf und verarbeitete sie sensationalistisch, indem das Unter-Genre des „Slasher-Films“ geschaffen wurde. In diesen Filmen gibt es typischerweise einen Schurken mit „Signatur“, der also mit gleicher Methode, gleicher Waffe und häufig in einer wiedererkennbaren Maske reihenweise Heranwachsende brutal dahinschlachtete. Dieses Unter-Genre sollte für Jahrzehnte bestimmend für das cineastische Psychopathen-Modell sein und brachte sehr bekannte „Marken“ wie die Filmreihen „Halloween“, „Freitag der 13.“, „Ich weiß, was Du letzten Sommer getan hast“ und dgl. hervor (die Figuren dieser Filme waren aber zu unrealistisch, als daß sie die o.g. Selektion überstanden hätten und man findet sie daher auch nicht in der Tabelle).
Eine weitere Veränderung in der Darstellung von Psychopathen stellten die Autoren nach dem Bekanntwerden der Taten neuerlicher echter Psychopathen wie John Gacey, Ted Bundy und Jeffrey Dahmer fest, denen auch die Gründung des ViCAP zuzuschreiben ist, eines Programms, das dem besseren Verständis von Gewaltverbrechen dienen sollte. Das Interesse der Filmschaffenden an einer realistischeren Darstellung von Psychopathen stieg an und es finden sich zunehmend Figuren, die als „Elite-Psychopath“ bezeichnet werden könnten und Hannibal Lecter ist eines der bekanntesten Beispiele für einen dieser unrealistischen aber sensationellen Psychopathen mit übertriebener, fast unmenschlich hoher Intelligenz und Scharfsinn sowie überaus feinen Manieren (auch er fehlt in der Tabelle).
Erst seit den frühen 2000er Jahren hat sich die Beschreibung und Darstellung von Psychopathen der Realität mehr angenähert. Die Figuren wurden menschlicher und mit echten Schwächen gezeichnet. Als besonders gutes Beispiel nennen die Autoren Anton Chigurh, den Killer aus „No Country for old men“. Chigurh ist ein gut entworfener prototypisch/idiopathischer bzw. primärer Psychopath. Er ist unfähig zu Liebe und Einfühlung, empfindet weder Scham noch Bedauern und er lernt nicht aus gewonnener Erfahrung. Er ist kaltblütig, skrupellos, handelt ohne Empathie dafür mit extremer Zielstrebigkeit und scheint völlig unempfänglich für jede Form von Emotion oder menschlicher Regung. Für Chigurhs Verhalten sei eine zwar extreme aber durchaus realistische Beschreibung die einer „anti-menschlichen Persönlichkeitsstörung“.
Schlussbemerkung
Obwohl wir Psychopathen sehr genau beschreiben können, sind wir doch nicht in der Lage, sie zu verstehen [6]. Ein besonderer Wert der Literatur, zu der auch der Film zu rechnen sei, liege deshalb auch in der Möglichkeit zu stellvertretender Erfahrung, das (Mit)erleben von Personen und Situationen, die uns in unserem alltäglichen Leben (oft zum Glück) nicht begegnen. In Rückschau auf frühere Kinozeiten stellen die Autoren allerdings fest, daß viele Charaktere aus bekannten Filmen, die so geschaffen wurden, daß sie zur damaligen Auffassung eines Psychopathen passten, nach heutigem Verständnis und heutigen Kriterien ganz anders zu bewerten wären. Dennoch entspreche die Mehrzahl auch der heute portraitierten Kino-Psychopathen eher dem unrealistischen Hollywood-Archetypen des „Super-Schurken“ wohingegen realistisch dargestellte Psychopathie zwar vorkomme, aber deutlich seltener sei. Doch gerade diese realistisch dargestellten Psychopathen können, so die Autoren, von pädagogischem Wert sein und sogar in die Lehre und Ausbildung von Psychiatern und Psychologen einbezogen werden, da durch sie verschiedene Aspekte der forensischen Psychiatrie illustriert würden, wie Persönlichkeitsstörungen und Paraphilien aber auch Einblicke in die Rechtsauffassung zu Psychopathie, das Strafrechtsprozedere und die Bedeutung von Sachverständigen bei der Bewertung psychopathischen Verhaltens.
Eine weitere interessante Entsprechung zur Realität sei übrigens, daß weibliche Filmpsychopathen selten und nicht gut untersucht sind und daß sie, wenn sie überhaupt vorkommen, sehr häufig als Pläne schmiedende Manipulatorinnen aufträten, die sich vor allem „sexueller Waffen“ bedienten.
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Literatur
[1] Leistedt SJ, & Linkowski P (2014). Psychopathy and the cinema: fact or fiction? Journal of forensic sciences, 59 (1), 167-74 PMID: 24329037
[2] Karpman B.On the need of separating psychopathy into two distinct clinical subtypes: the symptomatic and the idiopathic .J Crim Psychopathol 1941;3:112–37.
[3] Hervé HF, Yuille JC, editors. The psychopath: theory, research, and social implications. Hillsdale, NJ:Lawrence Erlbaum Associates Inc.,2007.
[4] Hervé HF, Hare RD. Criminal psychopathy and its subtypes: reliability and generalizability. Proceedings of the 2002 American Psychology –Law Society Conference; 2002 Mar 7–10; Austin, TX. Southport,NC: AmericanPsychology-LawSociety,2002.
[5] Hervé HF, Hare RD. Psychopathic subtypes and their crimes: a validation study. Proceedings of the 2004 American Psychology – Law Society Conference; 2004 Mar 3–7; Scottsdale,AZ. Southport, NC:American Psychology-LawSociety, 2004.
[6] Baron-Cohen S. When zero degrees of empathy is negative. In:Baron-CohenS, editor. The sciences of evil. NewYork, NY:BasicBooks, 2011;43–95.
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Anhang
Der PCL-R-Test
Der Test wird verwendet um einen Ergebniswert zu erzeugen, der eine Einteilung bzw. eine kategoriale Diagnose von Psychopathie ermöglichen soll, die für klinische, rechtliche oder wissenschaftliche Zwecke eingesetzt wird. Er wird von Psychologen, Psychiatern oder vergleichbaren Fachleuten eingesetzt und umfasst 20 Aspekte. Jeder Aspekt wird nach bestimmten Kriterien, Faktoren und auf Grundlage von Aktenlage und strukturierten Gesprächen auf einer dreistufigen Skala bewertet. Werte von 0, 1 oder 2 werden vergeben, wenn ein Aspekt gar „nicht“, „etwas“ oder „voll“ zutrifft. Zusätzlich zu Lebensgewohnheiten und kriminellem Verhalten werden bewertet:
- Wortgewandtheit und oberflächlicher, „glatter“ Charme
- Neigung zu Prunk und Überlegenheitsgefühlen
- Bedürfnis nach Stimulation
- krankhaftes Lügen
- gerissen und manipulierend
- fehlende Reue
- gleichgültig / abgebrüht
- schlechte Selbstbeherrschung
- Impulsivität
- Verantwortungslosigkeit
- Bestreiten / fehlende Einsicht
- parasitischer Lebensstil
- sexuelle Promiskuität
- früh einsetzende Verhaltensstörungen
- keine realistischen Lebensziele
- Unfähigkeit, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen
- mehrere, nur kurz andauernde Eheverhältnisse
- als Jugendlicher straffällig geworden
- widerrufene Bewährungsstrafen
- kriminelle Vielseitigkeit
Tabelle: Klinisch fiktionale psychopathologische Nosographie der 126 Film-Psychopathen
Fortsetzung der Tabelle:
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