Ich bin beides. Aber ich bin auch für Tierrechte und Tierschutz und sehr einverstanden damit, daß Schutz und Würdigung der Tiere inzwischen Grundrechtstatus innehaben. Andererseits reagiere ich sehr empfindlich auf die wissenschafts- und manchesmal menschenfeindlichen Aktionen sich als Tierschützer gefallender Fanatiker wie PETA und begrüße es, daß entsprechende Übergriffe z.B. in den USA unzweideutig als Terrorismus bezeichnet werden können.
Wie wir mit Tieren umgehen sollen und wie ich persönlich meine eigene Haltung dazu vor mir selbst rechtfertigen kann, halte ich indes für eine überaus schwer wenn überhaupt zu beantwortende Frage. Ein großer Teil dieser Schwierigkeiten rührt in meinen Augen von dem zweifachen Maß her, mit dem sich der Mensch mißt bzw. mit dem ihn die sich in den einschlägigen Debatten Gegenüberstehenden zu messen pflegen.
Der Speziesismus-Vorwurf einerseits umfasst neben der (berechtigten) Kritik am Begriff „Art“ selbst, daß der Mensch „auch nur ein Tier“ ist, eine von ungezählten biologischen Lebensformen, nicht besser oder wertvoller oder erhaltenswerter als irgendeine andere und sich daher nicht das Recht zum „Vebrauch“ von Vertretern anderer Arten anmaßen dürfe. Eine Anwendung dieses Vorwurfs liegt auch dem Argument der gbs zugrunde, daß es keinen kategorialen Unterschied zwischen Menschenaffen und Menschen gebe und Menschenaffen daher Grundrechte einzuräumen seien.
Andererseits wird gerade die Besonderheit des Menschen mit seiner Fähigkeit zu ethischer Abwägung, zu Empathie und der Möglichkeit, Instinkte, genetische Fixierungen und biologische Imperative zu überwinden, als Begründung herangezogen, ihm den Verzicht auf Fleisch und damit das Töten anderer Tiere als ethisch geboten weil ethisch gebietbar vorzustellen. Es wird also ironischerweise Speziesismus geübt, indem die Art Homo sapiens wegen ihrer spezifischen Eigenschaften ausgesondert und von ihr ein bestimmter, mit den Bedürfnissen vieler ihrer Vertreter nicht vereinbarer Verzicht verlangt wird.
Zweifellos, der Mensch ist ein Tier. Aber ist der Mensch nur ein Tier unter vielen oder ist er anders als alle anderen Tiere und wenn ja, welche Rechte und Pflichten erwachsen aus dieser Sonderstellung?
Wenn wir eine übernatürliche, gesetzgebende Instanz zur moralischen Orientierung ausschließen (und das tue ich persönlich), dann bleibt uns nur übrig, wie bei allen ethischen Fragen, Kriterien selbst festzulegen, an denen wir unsere Handlungen ausrichten. Um zu rational begründbaren moralischen Kriterien zum Umgang mit anderen Lebewesen zu gelangen, müssen wir meiner Ansicht nach die in den folgenden Absätzen zusammengefassten Fragen beantworten.
- Ist Leben ein Wert an und für sich oder beginnt dieser Wert ab einem bestimmten Komplexitäts- oder Organisationsmaß? Und wenn ja, wer legt fest, ab wann Leben einen Wert besitzt?
- Homo sapiens ist die einzige Lebensform, die zu moralischer Reflexion und Selbstwahrnehmung in der Lage ist und die darüber nachdenken und daran zweifeln kann, ob sie das moralische Recht hat, für den Fortbestand, das Wohlergehen und/oder den Genuß ihrer Vertreter andere Lebensformern, Pflanzen, Tiere oder Pilze, zu töten. Haben wir dieses Recht? Woher nehmen wir es und wer könnte es uns absprechen?
- Der Artbegriff ist ein menschliches Konstrukt, es gibt vielmehr ein Kontinuum von mehr oder weniger nahe verwandten Lebensformen. Ausgehend vom Bezugspunkt Homo sapiens und zurückgehend in der Evolutionsgeschichte sind unsere nächsten Verwandten, mit denen wir gemeinsame Vorfahren haben, die Menschenaffen, deren Leidens- und Empfindungsvermögen dem von H. sapiens so nahe kommt, daß für sie bestimmte Grundrechte eingefordert werden. Wie wird tierisches Leidens- und Empfindungsvermögen gemessen, festgestellt und bewertet? Und wie gültig sind auf menschliche Empathie und „Mitleid“ gründende Schlüsse auf das Leid anderer Lebewesen, je unähnlicher sie dem Menschen sind?
Ich bin nicht überzeugt, daß es auf diese Fragen gute oder wenigstens nicht mit gutem Grund bestreitbare Antworten gibt, wodurch in meinen Augen jede Haltung, die man zu unserem Umgang mit anderen Lebewesen einnehmen kann, provisorisch und kritisierbar ist.
Zusätzlich verkompliziert wird die Debatte durch die mosaikhafte Vielfalt von teilweise nicht einmal im Weltbild derselben sie vertretenden Person konsistenten Meinungen, Haltungen und Überzeugungen zu den verschiedenen Funktionen, Rollen und Nutzungen von Tieren in unserem Alltagsleben. Viele Menschen, die beispielsweise laut und wohlfeil grundsätzlich alle Tierversuche ablehnen, haben selbst durchaus bereits von Medikamenten und Impfstoffen profitiert (und verdanken ihnen vielleicht sogar ihr Leben), die selbstverständlich zuvor an Tieren getestet wurden und sie würden diese Medikamente jederzeit und ohne zu zögern wieder einnehmen und sich auch nicht selbst für Versuche zur Verfügung stellen. Nicht wenige dieser Leute „halten“ sich zudem Haustiere, ohne daß sie einen Widerspruch darin wahrnähmen, daß sie ausschließlich zu ihrer eigenen Erbauung diesen Tieren, die als „Besitz“ bezeichnet werden, die Freiheit und oft genug die Möglichkeit zur „natürlichen“ Reproduktion vorenthalten.
Bemerkenswert ist, daß dieser Themenkomplex zuverlässig hochemotionale und recht schnell unsachlich werdende Diskussionen auslöst. Das führt dann zu Abscheulichkeiten, wie den von verschiedenen Gruppierungen (ernsthaft?) vorgetragenen Vorschlag, statt Tieren bestimmte mißliebige Menschengruppen für pharmazeutische Versuche einzusetzen oder gleich die Todesstrafe für Tierquäler verhängen zu wollen. Auch bin ich immer wieder überrascht von Ausmaß und Aggressivität der hermetischen Selbstbeschwichtigung und -täuschung und anthropomorphen Projektion mancher sich als Tierfreunde und -liebhaber verklärender Haustierhalter, die nicht selten fast religiöse Züge annimmt und sie für eine kritische Betrachtung der eigenen Handlungsweise und vor allem der eigenen Inkonsistenz völlig blind macht.
Ähnliche gelagerte und aufgeladene Diskussionen sind bisweilen mit sendungsbewußten Vegetariern oder Veganern zu führen (nur zur Klarstellung: ich habe überhaupt kein Problem mit vegetarischer Lebensweise als solcher: jede(r) soll essen, was sie/er möchte und ihr/ihm schmeckt, aber eben auch jede(n) essen lassen, was sie/er möchte und ihr/ihm schmeckt). Den so gut wie immer inkonsistenten Argumenten dieser leider nicht so selten missionierenden und selbstgerechten Ostentativverzichter halte ich dann gerne den Vorwurf des „Neuronismus“ entgegen (ein Begriff, den ich aus der Philosophie des Geistes entlehnt habe): Ich frage sie, wie sie denn guten Gewissens Pflanzen und Pilze töten und essen können, nur weil diese erstaunlichen Geschöpfe kein Nervensystem (und daher auch keine niedlichen Knopfaugen) haben und nicht weglaufen können*. Ich verweise dann auf die vielgestaltigen Möglichkeiten von Pflanzen, ihre Umgebung wahrzunehmen, untereinander zu kommunizieren und sich mitzuteilen (Tabakpflanzen z.B. können Fressfeinde einer bestimmten Raupe herbeilocken, wenn sie an Fressrhythmus und Speichelzusammensetzung merken, daß sie gerade von genau dieser nikotinresistenten Raupe angefressen werden!), auf die Diskussion über Pflanzenrechte und darauf, daß in der Schweiz sogar der Begriff der Pflanzenwürde geführt wird.
Solche Ernährungspolizisten müssen sich also die Frage gefallen lassen, warum sie das Leben von Tieren dem Leben von Pflanzen überordnen bzw. auf welcher Grundlage (die verschieden ist von der einfachen Hoffnung, daß es so sei) sie letzteren die Leidenfähigkeit absprechen. Wenn es nur um die empathische Vermeidung von Schmerz geht, die ich unbedingt unterstütze, wäre doch ein garantiert schmerzfreier Tod eines Tieres eine akzeptable Lösung. Geht es aber um den Tod und das Töten an sich, wäre zu begründen, warum ein Tier (schmerzlos) zu töten schlimmer ist, als eine Pflanze zu töten, oder mit anderen Worten: was ein Tierleben wertvoller als ein Pflanzenleben macht.
Richtig ungemütlich werden solche Gespräche erfahrungsgemäß immer dann, wenn die Fleischlosen zugleich Inhaber eines naiven, romantisierten, „disneyfizierten“ Tierbildes sind und sich in ihrem Verzicht nicht einfach selbst genügen können, sondern sich aufgrund ihrer jeweils arbiträren Ernährungspräferenzen großzügig eine überlegene moralische Position gegenüber uns carnivoren Barbaren einräumen und eine Notwendigkeit empfinden, dies auch noch zu proklamieren: sie erwecken dann häufig den Eindruck, daß sie für den durch ihre ach so tugendhafte Fleischaskese geübten Verzicht auf Lebensqualität Beifall oder Anerkennung verdienen. In Wirklichkeit macht einen eine fleischlose Lebensweise aber natürlich nicht zu einem besseren Menschen und nicht einmal zu einem besseren Tierfreund und schon gar nicht erhebt sie einen zu einer moralischen Instanz, die mit dem Recht oder der Kompetenz ausgestattet wäre, andere zu belehren oder zu korrigieren.
Konsequent wäre eigentlich also nur die Lebensweise eines Frutariers, der noch dazu auf jegliche nicht notwendige Verhaltensweisen verzichtet, die den Tod anderer Lebewesen in Kauf nehmen, z.B. Autofahren oder ohne Besen spazieren gehen. Leider ist mir so jemand noch nie begegnet, was möglicherweise daran liegen mag, daß der in einer solchen Lebensführung liegende Gewissensfrieden nur überaus selten die ebenfalls damit verbundenen alltäglichen Unbilden auszugleichen vermag.
Wie gehe ich selbst damit um? (ich beschreibe meine ganz persönliche Sicht- und Handlungsweise, die keinerlei Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt)
Daß ich mich in der Anschauung von und beim Umgang mit der Umwelt und ihren nicht-menschlichen Bewohnern nicht durch biblische Verfügungsfreigaben legitimiert sehe, dürfte niemanden wundern. Aber bekanntlich sieht auch unsere Verfassung vor und basiert ein erheblicher Teil unseres Alltags darauf, daß ein Menschenleben mehr „wert“ ist, als das Leben eines Tieres (oder einer Pflanze) und daß Tiere für verschiedene menschliche Interessen (Nahrung, Forst- und Landwirtschaft, Krankheitsabwehr etc.) getötet werden dürfen. Das Gesetz unterscheidet bei Tieren übrigens noch wesentlich zwischen Wirbeltieren und Wirbellosen (ein „Vertebratenchauvinismus“, der mir eingedenk einiger Cephalopoden recht willkürlich erscheint).
Ich versuche daher, aufrichtig zu sein und mir nichts vorzumachen: ich kann meinen Konsum getöteter Lebewesen vor mir selbst ethisch eigentlich nicht rechtfertigen: ich könnte ja ohne mich selbst zu gefährden darauf verzichten und daß ich es nicht tue ist in meinen Augen moralisch inkonsistent, insbesondere sofern die Bereitstellung solcher Produkte mit dem Leid anderer Wesen verbunden ist.
Diese Inkonsistenz stört mich zwar aber die moralische „Schuld“, die ich darüber empfinde, ist nicht groß genug, als daß mein Hedonismus mir nicht gestatten würde, sie auszuhalten, denn für den Verzicht auf Tier- und Pflanzenprodukte hätte ich eine erhebliche Einbuße an Lebensqualität zu ertragen, die mich auf die Dauer wohl unglücklich machen würde. Ich würde aber sofort, gerne und ausschließlich Laborfleisch und Laborsalat essen, sofern diese genauso gut schmecken, wie die „Originale“. Endlich lehne ich noch Massentierhaltung, aber auch Qualzucht und generell alle Praktiken ab, die Tieren vermeidbares Leid zufügen, wie überflüssige (=kosmetische) Tierversuche oder das widerliche religiöse Schächten.
Andererseits ist für mich der Wert eines Menschenlebens unverhandelbar höher einzuschätzen, als der eines Tiers. Auch diese Einschätzung ist meine ganz persönliche, mit der ich nach langer Abwägung aller mir zur Verfügung stehenden Information und auf Grundlage meiner eigenen moralischen Grundsätze aber auch in Einklang mit den Gesetzen meines Landes am besten leben kann. Daß diese Unterscheidung nicht trivial und letztbegründet ist, ist mir dabei durchaus bewußt und die Frage, wo und warum diese Grenze zu ziehen ist, sollte Gegenstand anhaltender wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Diskurse sein. Dennoch folgt für mich aus diesem Unterschied, daß kontrollierte medizinische und pharmazeutische Tierversuche zum Wohle des Menschen so lange notwendig und unverzichtbar sind, bis sie vollwertig ersetzt werden können und daß im Entscheidungsfall „Mensch oder Tier“ immer der Mensch vorzuziehen ist.
_______
*Nachtrag am 19.03.2015: hier noch eine sehr eindrucksvolle Studie über die Blumennessel, für alljene, die ohne Gewissensbisse den Tod von Pflanzen für ihre Nahrung in Kauf nehmen: Blumennesseln üben praktisch eine totale Kontrolle über ihr Pollenangebot und in ihrem komplexen Verhalten erinnern sie eher an ein Tier als an Pflanzen. Die Blumennesseln nehmen zahlreiche Reize aus der Umgebung wahr, verarbeiten diese und stimmen darauf ihr Verhalten ab. Unter zwölf Grad Celsius oder bei Dunkelheit sind die Staubblätter für Bestäuber nicht zugänglich. Dann sind nämlich keine Bienen unterwegs. Wie im Magazin eines Revolvers sind mehr als 100 Staubgefäße in der Blüte hintereinander aufgereiht, die ausgelöst durch Insekten oder Kolibris nacheinander zum Zentrum der Blüte klappen. Damit lässt sich die portionsweise Pollenabgabe in der Blüte rund 100 Mal wiederholen. Wie sehr die Blumennesseln ihr Verhalten an die Bestäuber angepasst haben, zeigt sich auch, wenn kein Insekt vorbeikommt. Dann verlängern die Pflanzen die Lebenszeit ihrer Blüten um ein Vielfaches auf mehr als eine Woche und präsentieren frischen Pollen nur in großen Zeitabständen, um vielleicht doch noch einen Bestäuber anzulocken. Bemerkenswert ist auch, wie schnell (2-3 min) sich die Staubgefäße zur Blütenmitte bewegen, nachdem eine Biene die Nektarschuppe bewegt hat. Das kann man mit bloßem Auge beobachten:
Kommentare (160)