„Besonders auffällig ist die Dehnbarkeit der Bänder der Schulterkapsel und die Laxheit der Bänder, die die Hand mit dem Unterarm verbinden, sowie die Handwurzel- und Mittelhandknochen und die Fingerglieder miteinander. Die Hand ist zwar nicht länger als normal, kann aber ihre Reichweite durch die Flexibilität all ihrer Gelenke verdoppeln. Dies verleiht zum Beispiel den vordersten Fingergliedern seiner linken Hand auf den Saiten eine bemerkenswerte Biegsamkeit, die, während seine Hand bewegungslos verharrt, sie seitlich zu ihrer natürlichen Beugung beweglich macht und zwar mit Leichtigkeit, Präzision und Flinkheit.“

 Dr. Miquel (Paris) über Paganinis Anatomie; aus der Biographie von Jaques-Gabriel Prod’homme (1871-1956)

Schon damals fragte man sich, ob bei Paganini (* 27. Oktober 1782 in Genua; † 27. Mai 1840 in Nizza), dem „Teufelsgeiger“ über dessen mögliche Todesursache ich früher schon berichtet habe, alles mit rechten Dingen zuging und wie seine überragende und, wie viele meinen, unerreichbare Virtuosität und seine ans Übernatürliche grenzende Fingerfertigkeit zu erklären seien. Seine 24 Capricen beispielsweise gehören zum Schwersten, was überhaupt für Geige geschrieben wurde und gilt bis heute nur mit Kompromissen überhaupt spielbar.

Ob zur Erklärung der Möglichkeit von Paganinis Fertigkeiten eine Erkrankung am Marfan-Syndrom heranzuziehen ist, wurde schon viel diskutiert. Analysen der DNA von Paganinis lebenden Nachfahren in 6. Generation erbrachten jedenfalls keine Hinweise in Form einer entsprechenden genetischen Prädisposition, doch kann aufgrund der autosomal-dominanten Vererbung dieser Krankheit nicht ausgeschlossen werden, daß Paganini selbst davon betroffen war. Endgültig klären ließe sich das nur durch eine genetische Untersuchung an Paganinis Leichnam, dessen Exhumierung die heutige Familie Paganini jedoch nicht gestattet.

In einem Aufsatz in der aktuellen Ausgabe des „Archivs für Kriminologie“ [1] befasst sich der Autor A. Otte nun mit der Frage, ob Paganini möglicherweise abnorme Hände hatte, deren Beschaffenheit ihm zu seiner unvergleichlichen spielerischen Meisterschaft verholfen haben könnte.

Dazu untersuchte der Autor neue und zuvor nie veröffentlichte Photographien eines Bronzeabgusses von Paganinis rechter Hand, die nun auch die Ansicht der Handfläche ermöglichten. Vorige Arbeiten, die sich mit der Vermessung von Paganinis Händen befasst hatten [2], gründeten lediglich auf weniger aussagekräftigen Bildern der Handrückenseite und gelangten zu, nach Meinung des Autors, unpräzisen bzw. unplausiblen Ergebnissen.

Der Bronzeabguss, dessen Photographien hier zugrundegelegt wurden, gehört dem amerikanischen Violinisten J. Gould, der die Anfertigung neuer Aufnahmen gestattete.

hand 2

Ansicht des Handrückens (dorsal)

hand 3

Details der Finger (Ansicht palmar)

hand 1

Ansicht palmar

 

In der unteren Abbildung finden sich die eingezeichneten Maße für Mittelfingerlänge (fl), Handtellerbreite (pb) ohne Daumen und Handtellerlänge (pl), außerdem wurde die Breite des Mittelfingers am körpernächsten und –fernsten Punkt gemessen. Paganinis Handlänge (hl) ergibt sich dann zu pl + fl. Die Werte für fl, pl und hl wurden mit männlichen anthropomorphen Maßen (Alter 41-60 Jahre) gemäß DIN33402 – Teil 2 (2004) verglichen (aus [3]).

Dann wurden noch die folgenden Verhältnismaße bestimmt:

  • Fingerlängenindex: fl / (pb + pl)

  • Fingerlänge zu Handtellerlänge: fl / pl

  • Fingerlänge zu Handbreite: fl / pb

Diese Verhältnisse wurden dann verglichen mit den Normbereichen nach [5].

Ergebnis

Den Abbildungen ist zu entnehmen, daß Paganinis Hand eine ungewöhnlich gebeugte Stellung im Gelenk sowie nicht gerade Finger aufwies. Man erkennt leichte Gelenkauftreibungen, eine Kontraktur des Ringfingers und Muskelatrophien.

Die Meßwerte an Paganinis Hand sind wie folgt: fl : 75 mm; pb : 60 mm; pl : 77, hl : 152 mm, seine Mittelfingerbreite maß 17 mm (körpernah) und 15 mm (körperfern). Im Vergleich zu den Vergleichsmaßen aus [3] hatte Paganini schlanke und relativ kurze Finger (unterhalb, bzw. innerhalb der unteren 5%-Perzentile). Sein Handteller war auffällig klein (pb und pl deutlich unterhalb unterer 5%-Perzentile).

Die folgende Tabelle stellt Paganinis Hand-Verhältnismaße dem Normbereich nach [5] gegenüber:

Paganini

Normbereich nach [5]

von

bis

Fingerlängenindex:

fl / (pb + pl)

0,55

0,40

0,48

Fingerlänge

zu Handtellerlänge: fl / pl

0,98

0,67

0,87

Fingerlänge

zu Handbreite: fl / pb

1,25

0,85

1,15

Alle seine Verhältnismaße rangieren also deutlich oberhalb des Normbereichs. Damit erscheinen Paganinis eigentlich schlanke und kürzere Finger dennoch sehr lang im Verhältnis zu seiner extrem kleinen Handfläche: Paganini hatte „abnorme“ Hände.

Einschränkungen der Bewertung

  • den Messungen wohnt insofern eine gewissen Ungenauigkeit inne, als sie von einer zweidimensionalen Photographie und nicht dem dreidimensionalen Bronzeabguss selbst abgenommen wurden

  • der Abguß wurde von Paganinis rechter Hand gefertigt und obgleich davon auszugehen ist, daß seine linke Hand, die also die eigentliche „Spielhand“ war, der rechten in ihren Maßen und Aufbau sehr ähnlich ist, können zwischen beiden Händen dennoch kleinere Unterschiede bestehen

  • der Abdruck für den Abguß wurde vermutlich kurz nach Paganinis Tod gefertigt, wodurch möglicherweise die ungewöhnliche Fingerhaltung und Handgelenkbeugung zu erklären ist

  • Paganinis Handmaße wurden mit Werten heutiger Menschen verglichen, die im Schnitt 10 cm größer sind, als zu Paganinis Zeit; damit relativiert sich die Gegenüberstellung insofern, als Paganinis Größe und Handmaße nur im Vergleich zu heutigen Menschen klein, zu seiner Zeit aber normal waren

Bei einem als gleichmäßig gedachten Größenzuwachs über alle Knochenelemente bis zur heutigen Zeit, können die Verhältnismaße der Hände früherer und heute lebender Menschen ungehindert verglichen werden. Daraus folgt, daß Paganini seine demnach abnormen Handmaße für sein Geigenspiel überaus förderlich gewesen sein dürften, da er sein Handgelenk viel leichter abwinkeln konnte.

Gut gefallen hat mir der abschließende Vorschlag des Autors, vom Bronzeabguss z.B. durch CT dreidimensionale Meßdaten abzunehmen und daraus ein virtuelles, dreidimensionales Handmodell zu erstellen, dieses zu animieren und auf einer ebenfalls virtualisierten Computerrepräsentation von Paganinis Geige (eine Guarnieri, die in Genua ausgestellt ist) spielen zu lassen.

1,65 m groß, von langem, geschmeidigem Wuchs, ein langes, blasses Gesicht mit charaktervollen Zügen, eine vorragende Nase, die Augen eines Adlers und lockiges Haar, das ihm über die Schultern fließt und einen überaus dünnen Hals verbirgt; zwei Furchen sind ihm, so könnte man sagen, durch seine Profession in die Wange gegraben… Leuchtend vom Feuer seines Genies rollen seine Augen in ihren Höhlen und sein Blick fixiert jene seiner Begleiter, derer er sich nicht ganz sicher ist. Seine Handgelenk ist so biegsam und geschmeidig, daß ich das Spiel seiner Hände vergleichen würde mit einem Taschentuch, das, ans Ende eines Steckens gebunden, in einer Brise flattert.“

Castil-Blaze, 1831, aus [4]

Und mit solchen Händen konnte dieser Teufelsgeiger dann so etwas spielen

___________

Referenzen:

[1] Otte, A. Nicolò Paganini: Teufelsgeiger durch abnorme Hände? Arch Kriminol 233:181-191 (2014)

[2] Gold, J.: The death of Paganini or the hand that held the bow. Berkeley (2004)

[3] Jürgens, H.W.: Erhebung anthropometrischer Maße zur Aktualisierung der DIN33402 – Teil 2. Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Forschung, Fb1023, Dortmund, Berlin, Dresden (2004)

 [4] Prod’homme, J.G.; translated from the original French edition by Mattullath, A.: Nicolò Paganini, a biography. Fischer, New York (1911)

[5] van Mensvort, M.: https://www.handresearch.com/diagnostics/how-to-assess-your-finger-length.htm, 2002-2013

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Kommentare (7)

  1. #1 CM
    26/06/2014

    Super interessant! Anm: Da Niccolò Paganini auch als Gitarrenvirtuose galt, ist auch seine Rechte eine “Spielhand” – wenngleich natürlich gänzlich anders als die Linke beim Violinenspiel.

  2. #3 Cornelius Courts
    26/06/2014

    @CM: “auch als Gitarrenvirtuose”

    ah, endlich mal einer, der sich auskennt. Dann kannst Du Dich schon auf die kommende Sonntagsklassik freuen 🙂

  3. #4 noch'n Flo
    Schoggiland
    27/06/2014

    @ CC;

    Dann kannst Du Dich schon auf die kommende Sonntagsklassik freuen

    *mitfreu”

  4. #5 CM
    27/06/2014

    Oh, da bin ich auch gespannt – nur leider werde ich am Sonntag nicht reinschauen können: Ich gebe ein Konzert 😉 /angebermodus:aus

  5. #6 Der Schmidtpunkt
    Speyer
    29/06/2014

    Toller Artikel! Da ich mich noch nicht ganz von der schlechten Filmumsetzung aus dem letzten Jahr erholt habe, ist es schön diesen Beitrag zu lesen. Ich bin schon seit einiger Zeit sehr fasziniert von Paganini.
    Bei der Musikauswahl hätte ich allerdings Caprice no.24 von Alexander Markov bevorzugt 🙂

  6. #7 Newshammer
    26/07/2014

    Hier stellt sich mir allerdings eine Frage:
    Was ist z. B. mit extrem dehnbaren Gelenken, beispielsweise bei Leuten, deren Finger sich nach oben krümmen können?