Warnung: in dieser Reihe stelle ich schräge, drastische, extreme oder auf andere Weise merkwürdige Studien und Fallberichte vor, die die Forensischen Wissenschaften in ihrer ganzen Breite und Vielseitigkeit portraitieren sollen, die aber in ihrer Thematik und/oder den beigefügten Abbildungen nicht für alle LeserInnen geeignet sind und obgleich ich mich stets bemühen werde, nicht ins Sensationalistische abzugleiten, mag bisweilen die unausgeschmückte/bebilderte Realität bereits mehr sein, als manche(r) erträgt.
Nikotin ist ein überaus potentes Nervengift, das relativ leicht aus Tabakpflanzen extrahiert werden kann (ich verlinke absichtlich hier nichts), an die nikotinischen Acetylcholinrezeptoren bindet und in hohen Dosen (etwa 0,5 – 1 mg / kg) zum Tod durch Atemstillstand führt. Nicht umsonst wird es daher auch als wirkungsvolles Pestizid eingesetzt. Es kann aber auch, womit sich der Kreis zu einem vorigen Beitrag schließt, in suizidaler Absicht zur Selbstvergiftung verwendet werden. Nikotin kann inhaliert, oral eingenommen oder über die Haut (transdermal) aufgenommen werden.
Im hier besprochenen Fall [1] eines geplanten, komplexen Suizids (die Erscheinungsformen des Suizids habe ich hier schon erläutert) kamen selbst hergestellte Nikotinpflaster zum Einsatz. Derartiges ist in der Literatur zuvor noch nicht beschrieben worden wohingegen es bereits mannigfache Berichte über tödliche verlaufene Zuführungen (auf verschiedenen Wegen) von Nikotin gibt. Die meisten Fälle von Nikotinvergiftungen treten nach oraler Einnahme nikotinenthaltender Lösungen, z.B. Pestizide, auf sowie nach dem akzidentellen Mißbrauch von Nikotinpflastern durch Kinder.
Nikotinpflaster werden häufig bei der Unterstützung der Rauchentwöhnung eingesetzt, um die Entzugserscheinungen zu lindern. Die Aufnahme von Nikotin durch die Haut erfolgt langsam und stetig, ohne den „Kick“ im Hirn zu erzeugen, der durch Inhalation ausgelöst wird. Durch die transdermale Aufnahme mit der Haut als Reservoir ist die Halbwertszeit von Nikotin etwa 12 h. So können auch durch transdermale Zufuhr toxische Nikotinkonzentrationen erreicht werden und es wurden bereits mehrere Fälle tödlich verlaufenen Mißbrauchs kommerziell erhältlicher Nikotinpflaster beschrieben [2-4].
Die klinischen Anzeichen einer Nikotinvergiftung sind nicht sehr charakteristisch. Darunter sind Erhöhung von Pulsfrequenz und Blutdruck sowie Gefäßverengung, außerdem kommt es zu Übelkeit, Erbrechen und Unruhe. Deshalb kann eine Nikotinvergiftung leicht mit einem epileptischen Anfall oder einer akuten Meningitis verwechselt werden.
Im vorliegenden Fall war ein 51-jähriger Mann, nachdem er einige Tage lang nicht gesehen worden war, tot in seiner Wohnung aufgefunden worden. Die Tür war von innen verschlossen, die Rolläden heruntergelassen. Der Mann lag in Rückenlage und bis zum Hals zugedeckt in seinem Bett. Die Polizei entdeckte über den Bauch des Toten verlaufend, zwei Elektrokabel, die miteinander verbunden und unter dem Bett festgeknotet, jedoch ohne jegliche elektrische Verbindung waren. Die rechte Hand des Toten steckte in einer plüschbesetzten Handschellenhälfte, die andere plüschfreie Hälfte war um die Kabel gelegt:
Solche und ähnliche Auffindesituationen lassen die Vermutung eines autoerotischen Unfalls zu und weitere Ermittlungen müssen dann ein solches Geschehen ausschließen.
Nachdem der Leichnam entkleidet worden war (was zu einer lege artis durchgeführten Leichenschau zwingend dazugehört), zeigte sich auf dem Oberkörper eine großes Stück Plastikfolie, die mit Klebestreifen befestigt worden war. Unter der Folie waren dunkel gefärbte Pflaster bzw. mit einer Flüssigkeit getränkte Kompressen fixiert worden (s. Abbildung links), in denen sich dunkelbraune Partikel fanden und die einen süßlichen Tabakgeruch verströmten.Auch die Vorderseiten der Oberschenkel wiesen insgesamt 12 dieser Kompressen auf. Auf einem Tisch neben dem Leichnam stand ein Glas mit einer korrespondierenden dunkelbrauen Substanz.
Die medizinische Vorgeschichte des Verstorbenen konnte nicht ermittelt werden. Äußere Leichenschau und Obduktion erbrachten keinerlei Hinweise für Gewalteinwirkung, es konnten allerdings bereits erste Fäulnisanzeichen festgestellt werden. Autoptisch ergaben sich darüber hinaus keine Feststellungen irgendwelcher pathologischen Veränderungen, die todesursächlich hätten gewesen sein können. Die Lunge war schwer und blutgefüllt, die Blase enthielt 350 ml Urin. Im Magen fanden sich ca. 300 ml schwärzlich-bräunlicher Flüssigkeit, darin einige Maiskörner und fein geschnittene und an Tabak erinnernde Partikel.
Die feingewebliche Untersuchung bestätigte die autoptischen Befunde. Außerdem ließ eine Färbung von Lungenpräparaten mit Sudanrot 7B sogenannte „Rauchermakrophagen“ erkennen, was darauf hindeutet, daß der Verstorbene ein starker Raucher gewesen war.
Zur forensisch-toxikologischen Untersuchungen gelangten Proben von Herzblutserum, Serum aus peripherem Blut, Urin und Mageninhalt, außerdem wurde die Substanz in den Kompressen analysiert. Man erhielt folgende Befunde:
Probentyp | untersuchte Substanz |
Konzentration in ng/ml |
Herzblutserum | Nikotin |
190 |
Cotinin |
1900 |
|
Serum aus periph. Blut | Nikotin |
310 |
Cotinin |
1600 |
|
Diphenhydramin |
~7600 |
|
Tetrazepam |
82 |
|
Urin | Nikotin |
1300 |
Cotinin |
3700 |
|
Diphenhydramin |
meßbar |
|
Tetrazepam |
meßbar |
|
Mageninhalt | Nikotin |
2400 |
Cotinin |
meßbar |
|
Diphenhydramin |
meßbar |
|
Tetrazepam |
meßbar |
|
Kompresseninhalt | Nikotin |
meßbar |
Die Nikotinkonzentration im Herzblutserum und besonders im Serum aus dem peripheren Blut lagen im toxischen Bereich. Nikotin fand sich auch im Urin und im Mageninhalt, vom Nikotinmetaboliten Cotinin wurden hohe Konzentrationen in Serum und Urin festgestellt. Außerdem fanden sich sehr hohe Mengen des häufig als Schlafmittel genutzten Antihistaminikums Diphenhydramin in den Körperflüssigkeiten, die Serumkonzentration von ~7600 ng/ml kann dabei toxisch und möglicherweise lebensgefährlich gewesen sein. Es fanden sich auch Spuren von Ethanol und dem Beruhigungsmittel Tetrazepam, jedoch in harmlosen Mengen.
Alle Untersuchungsergebnisse zusammenfassend wurde als Todesursache eine Mischintoxikation durch Nikotin und Diphenhydramin in Gegenwart geringer Mengen Tetrazepams festgestellt. Die Todesart wurde auf Grundlage der polizeilichen Ermittlungen als komplexer Suizid klassifiziert.
Der Verstorbene war wahrscheinlich starker Raucher, belegt durch die Lungenpräparate und die Konzentrationsverhältnisse von Nikotin und Cotinin. Offenbar hatte er aus Tabak einen Nikotinextrakt hergestellt und damit die Kompressen getränkt, um selbstgemachte Nikotinpflaster zu erhalten. Diese legte er dann an mehreren Stellen auf seinem Körper auf, fixierte sie zum Teil und nahm zusätzlich noch eine Überdosis Diphenhydramin ein. Sein Mageninhalt ließ noch den weiteren Schluß zu, daß er auch von der Nikotin/Tabak-Lösung getrunken hatte, die gesamte Nikotinmenge im Magen jedoch war zu gering, um toxisch zu sein. Daß er sich selbst mit Kabeln und Handschellen fixiert hatte, ließ initial die Vermutung einer autoerotischen Betätigung zu. Dies konnte jedoch nicht bestätigt werden, zumal Selbstfesselung auch schon im Zusammenhang mit Suiziden beobachtet wurde. Insgesamt kann man übrigens getrost davon ausgehen, daß es kein angenehmer Tod war.
Die sehr begrenzten Daten aus anderen publizierten Fällen von Tod durch Anwendung von Nikotinpflastern ließen keinen belastbaren Vergleich zu, die Autoren spekulieren daher, daß die Nikotinkonzentration im Serum so hoch war, daß sie toxisch wirkte. Die unterschiedlichen Konzentrationen in Herzblutserum und dem Serum aus peripherem Blut erklären sich möglicherweise durch die Applikationsstellen der Nikotinkompressen.
Diphenhydramin hat neben seinen anderen oben beschriebenen auch eine antiemetische Wirkung. Auch in anderen Suizidfällen, in denen Nikotin zum Einsatz kam, wurde zuätzlich Diphenhydramin eingenommen: wenn Nikotin oral eingenommen wird, hat es eine erhebliche Erbrechen auslösende Wirkung, die dann durch das antiemetische Diphenhydramin kompensiert wird. Es bleibt ungeklärt, ob dies vom Verstorbenen so beabsichtigt worden war, oder ob er das Diphenhydramin als zusätzliches Gift eingenommen hat, um den tödlichen Verlauf sicherzustellen.
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Referenzen:
[1] Lardi, C., Vogt, S., Pollak, S., & Thierauf, A. (2014). Complex suicide with homemade nicotine patches Forensic Science International, 236 DOI: 10.1016/j.forsciint.2013.12.017
[2] P.M. Kemp, G.S. Sneed, C.E. George, R.F. Distefano, Postmortem distribution of nicotine and cotinine from a case involving the simultaneous administration of multiple nicotine transdermal systems, J. Anal. Toxicol. 21 (1997) 310–313.
[3] P. Sanchez, J.L. Ducasse, M. Lapeyre-Mestre, O. Martinet, P. Rouge, M.F. Jorda, B. Cathala, Nicotine poisoning as a cause of cardiac arrest? J. Clin. Toxicol. 34 (1996) 475–476.
[4] B. Solarino, B. Rießelmann, C.T. Buschmann, M. Tsokos, Multidrug poisoning involving nicotine and tramadol, Forensic Sci. Int. 194 (2010) e17–e19.
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