Gerade hat Belgien einen weiteren Schritt in Richtung Humanität getan und den Abstand zum ohnehin abgehängten Deutschland noch weiter vergrößert aber auch verdeutlicht: in Belgien erhielt nun ein psychisch schwer und unheilbar kranker Häftling das Recht zu sterben. Er darf seinem Leben unter ärztlicher Überwachung selbst ein Ende setzen, obgleich sein körperlicher Zustand ein Weiterleben problemlos erlauben würde. Grund allein ist das unerträgliche und durch ärztliche Bemühungen nicht zu stillende Leid, dem ausgesetzt zu sein er glaubhaft vermittelt hat und ihm zugleich nicht zugemutet werden darf.

Zuvor hatte Belgien bereits und bewundernswerterweise die willkürliche Altersgrenze bei der Sterbehilfe abgeschafft und es so auch unheilbar kranken Kindern und Jugendlichen ermöglicht, denen auf Grundlage objektiv beurteilbarer Reife und damit zurecht eine eigene Entscheidung über ihr Leben und dessen Ende zuzutrauen ist, sterben zu dürfen, um nicht grund- und hoffnungslos leiden zu müssen.

Wenn ich von solchen Fortschritten erfahre und dann die beklagenswerte Situation in Deutschland dagegen halte (von Ländern wie Polen ganz zu schweigen), empfinde ich Zorn und Scham zugleich. Ich schäme mich für ein Land, das schwerst an Leib oder Seele erkrankte Menschen, die ohne Hoffnung auf Besserung nicht mehr leben wollen, entweder zum Sterbetourismus zwingt, sofern sie es sich denn leisten und über sich bringen können, fern von zu Hause ihr Leben zu beenden, oder eben weiter zu leiden, oder, wenn sie noch können und es wagen, den Suizid und seine Durchführung selbst in die Hand zu nehmen – mit, wie ich aus meinem Alltag weiß, durchaus ungewissem und nicht selten unwürdigem Ausgang.

Und ich bin zornig darüber, daß es, wieder einmal und wie so oft die Religion ist, die sich qua Klerus und Institutionalisierung der Politik infundiert, den Menschen grundlegende Rechte streitig macht, ja deren Existenz in Abrede stellt und sie in Geiselhaft einer von ihnen nicht notwendig geteilten, vollkommen absurden und irrationalen Vorstellung von Herkunft und Wert des Lebens und einer menschenverachtenden Verherrlichung des Leids nimmt.

Das Leben wurde dem Universum, der Erde, uns nicht von irgendeiner übernatürlichen Instanz zugeteilt. Es entstand zufällig, ohne Plan, ohne Sinn, ohne Wille, ohne Richtung und vor Milliarden Jahren aus den Kollisionen umherwimmelnder Komponenten des Lebendigen und vererbt sich seitdem weiter. Erst mit der Entstehung von Bewußtsein und Urteilskraft entstand die Möglichkeit, das Leben zu bewerten und überhaupt als sinnvoll aufzufassen und deshalb erhält es seinen Sinn und Wert auch nicht von außen. Ob also das Leben eines Menschen Sinn und einen Wert an sich hat, entscheidet dieser Mensch für sich allein!

Es ist zwar gut und richtig, daß der Staat das menschliche Leben grundsätzlich würdigt und machtvoll schützt und vorsorglich davon ausgeht, daß jeder Mensch sein Leben schätzt und erhalten will. Das gilt aber nur, weil dies fast immer und bei allen Menschen der Fall und also in deren Interesse ist, bzw. sein wird, sobald der Mensch sein Leben selbst bewerten, bzw. selbst dann, wenn ein Mensch sich nicht mehr mitteilen kann. Der Staat darf hingegen nicht entscheiden und hat zurückzutreten, wenn ein Mensch als Individuum, der in Kenntnis aller verfügbaren Information glaubhaft vermittelt, keinen Wert mehr auf sein Leben zu legen, in Würde sterben will. Und erst recht nicht darf er ein Verbot durch eine absurde religiöse Vorstellung inspirieren lassen, die durch nichts als die Beteuerungen von deren fragwürdigen Vertretern belegt ist. Nicht umsonst lautet der erste Artikel des deutschen Grundgesetzes nicht „Das Leben“, sondern: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Hervorhebung von mir)  In einigen Fällen ist nun aber dieser Aufgabe, die Würde eines Menschen zu achten und zu schützen, nur beizukommen, indem man ihn selbstbestimmt sein Leben aufgeben, loslassen und sterben lässt.

Um die vorhersehbaren Einwürfe vorwegzunehmen: ich selbst messe meinem und dem Leben anderer Menschen einen unermesslich hohen Wert bei und finde die Vorstellung, es – und erst recht leichtfertig – fortzuwerfen, schwer erträglich, und zwar gerade weil danach höchstwahrscheinlich und entgegen religiöser Phantastereien nichts mehr kommt und für uns alles endet. Unser Leben ist das einzige, ist alles, was wir haben und haben werden, dieser „verschwindend kurze Augenblick, den wir uns gegen das entropische Fortgerissenwerden anzustemmen vermögen“ und die Wahrscheinlichkeit, daß es jede/n einzelne/n von uns gibt, ist atemberaubend gering.

Doch genauso sehr wie vom Wert des Lebens bin ich von der Eigenverantwortlichkeit und unbedingten Freiheit des Menschen überzeugt. Diese Eigenschaften verleihen uns die Kompetenz und die Berechtigung, unser Leben als sinnvoll und wertvoll und wert, fortzudauern, oder aber als qualvoll, unwürdig und schmerzvollen Weg unabsehbarer Dauer zu beurteilen. Niemand, kein anderer Mensch, kein Staat und erst recht kein Kleriker, hat das Recht, einem Lebensmüden den ernsthaft und vernunftvoll ersehnten Tod zu verwehren oder gar, einen solchen Wunsch als krankhaft zu verunglimpfen. Und da jeder Mensch anders mit Schmerz und Hoffnungslosigkeit umgeht, sind auch Durchhalteparolen oder die Aussicht auf theoretische Heilungsmöglichkeiten irgendwann in unbestimmter Zukunft keine Hilfe.

Jede Anspruchshaltung gegenüber Lebensmüden, wie sehr sie ihr Leben gefälligst zu schätzen hätten und welche Anstrengungen sie zu unternehmen und welches Leid sie zu ertragen hätten, um doch noch einmal Lebensmut zu schöpfen, gehen von einer Vorstellung des Werts dieses Lebens aus, die entweder einer religiösen Konvention oder der individuellen und – mit Verlaub – unerheblichen Privatauffassung des Aufmunternden entsprechen aber jedenfalls nicht der auf die es einzig und allein ankommt: die der betroffenen Person. Und selbst wenn man sich in die Position des/der Leidenden versetzen kann (was in den allermeisten Fällen nicht gegeben sein dürfte) und selbst wenn man selbst in dieser Lage anders handeln, anders entscheiden würde, so darf das und auch, was Jesus und Konsorten tun oder dazu sagen würde, keine, überhaupt keine Rolle für die Freiheit der betroffenen Person spielen, anders zu sein und anders zu entscheiden.

Ich plädiere deshalb dafür, daß jede Form der Sterbehilfe ungehindert nur denjenigen zuteil werden sollte, die in dieser Sache noch oder schon für sich selber entscheiden können (oder konnten), mehreren unabhängigen, neutralen (!) Gutachtern glaubhaft machen können, daß sie nicht mehr leben wollen und daß sie diese Entscheidung in voller Kenntnis aller verfügbaren Informationen und Alternativen und aller bekannten zu erwartenden Konsequenzen getroffen haben. Die Beispiele von Belgien und anderen Ländern lassen mich jedenfalls hoffen, daß man eines Tages auch in Deutschland, dem nicht selten zögerlichen Schlußlicht humanistischer Entwicklung, selbstbestimmt über seinen eigenen Tod wird entscheiden können.

In seiner Zukunftsvision „Futurama“ hat Matt Groening übrigens den Ausgang dieser gesellschaftlichen Debatte recht deutlich vorweggenommen: im Neu New York des 31. Jahrhunderts stehen wie selbstverständlich „Suizidzellen“ auf den Straßen, in denen sich Lebensmüde „ambulant“ und gegen ein geringes Entgelt auf individuell angepasste Weise aus dem Leben befördern lassen können…

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Kommentare (41)

  1. #1 Fliegenschubser
    17/09/2014

    Volle Zustimmung.

  2. #2 Tetar
    17/09/2014

    Können die Organe der Sterbewilligen eigentlich noch gespendet werden? Wenn ja, dann wäre ein Euthanasie-Verbot meiner Meinung nach doppelt kriminell, da diese bei “unprofessionellem” Suizid mit Sicherheit in Mitleidenschaft gezogen werden (Gifte, Unfälle, …).

  3. #3 Cornelius Courts
    17/09/2014

    @Tetar: interessanter Punkt. Man müßte mal ermitteln, wie viele potentielle Organspender Suizid begehen und dabei mangels Alternative einen Modus wählen, der ein Organspenden unmöglich macht.
    Andererseits wäre es in Sinne einer Verbrechensabwehr vielleicht auch gut, zu verfügen, daß von Suizidenten grundsätzlich keine Organe entnommen werden dürfen.
    Schwieriges Thema…

  4. #4 Ludger
    17/09/2014

    Cornelius Courts: “Nicht umsonst lautet der erste Artikel des deutschen Grundgesetzes nicht „Das Leben“, sondern: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Hervorhebung von mir) In einigen Fällen ist nun aber dieser Aufgabe, die Würde eines Menschen zu achten und zu schützen, nur beizukommen, indem man ihn selbstbestimmt sein Leben aufgeben, loslassen und sterben lässt.”

    So ist es! So wird es aber mit unterschiedlichen Begründungen von vielen Meinungsbildnern nicht akzeptiert. Die angegebenen theologischen Gründe kann man sofort vom Tisch wischen. Die können nur für Mitglieder der jeweiligen Religion Gültigkeit haben. Sonst müssten wir auch die Ernährungsvorschriften der verschiedenen Religionen in unser Gesetzeswerk übernehmen. Die kommen schließlich auch alle von Gott oder Göttern und sind daher unwiderlegbar gültig. Schwerer wirkt da schon die Angst vor Missbrauch: Die pflegebedürftige Großmutter könnte sich genötigt fühlen, die pflegenden Kinder durch einen Suizid zu entlasten. Allerdings darf nie ein Grundrecht (Würde des Menschen) eingeschränkt werden, weil es missbraucht werden könnte. Missbrauch muss man anders verhindern. Insofern zählt das Argument nicht. Die derzeitige Rechtslage ist gruselig und alles andere als sicher. Die Sterbenden werden die Leidtragenden sein. Zum Nachlesen:

    https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-126830928.html
    “[…] Aber wollten Mutter und Sohn den sterbenden Vater überhaupt töten? Warum klingelten sie dann nach den Schwestern, als der Vater sich die Atemmaske vom Gesicht nahm und sein Todeskampf begann? Verzweifelt baten sie um einen Arzt, der dem Vater eine Notfalldosis Morphin hätte geben können. Es kam aber keiner.[…]”

  5. #5 Cornelius Courts
    17/09/2014

    @Ludger: ich stimme zu, aber das hier “Die angegebenen theologischen Gründe kann man sofort vom Tisch wischen. Die können nur für Mitglieder der jeweiligen Religion Gültigkeit haben”

    soll doch wohl nicht heißen, daß Du meinst, unser GG sei frei vom Pesthauch der Religionen, oder? Schön wäre es, ist es aber nicht.

  6. #6 Ludger
    17/09/2014

    “Pesthauch der Religionen”

    Das würde ich anders ausdrücken. Ich bin für eine strikte Trennung von Kirche und Staat, was aus historischen Gründen leider bisher nicht gelungen ist – ein Erbe aus dem Kaiserreich.

  7. #7 nihil jie
    17/09/2014

    Sehr interessanter und auch bewegender Artikel Cornelius.

    Ich schäme mich natürlich nicht aus Polen zu stammen. Es ist so wie es ist. Ich bin da geboren und kann das auch nicht ändern… ich will es auch nicht. Dennoch ärgern mich die gleichen Dinge an Polen wie alle anderen Atheisten oder Humanisten die es dort gibt. Zumal man in Polen manche Sachverhalte nicht mal äußern darf ohne dafür gleich von seinen Mitmenschen in “Schmerzhaft” genommen zu werden. Zumal Polen ein tief christlich-fundamentalistischer Staat ist.

  8. #8 Stefan Dewald
    Internet
    18/09/2014

    Guten Tag allerseits,

    es ist sehr bemerkenswert, dass ein Mensch, der nicht ausdrücklich der sog. säkularen Szene angehört (mir jedenfalls nicht bekannt) so ausdrücklich und gut argumentiert das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen über SICH SELBST darstellt.

    Viel Erfolg & Zukunft

    Stefan

  9. #9 Julian Estragon
    18/09/2014

    Vielen Dank für diesen Artikel! Schade, dass er so wenig repräsentativ ist. Schade, dass die Debatte größtenteils von bigotten Politikern und christlichen Leidensfreunden bestimmt wird.

    In Sachen Sterben befinden wir uns immer noch dort, wo wir beim Thema Sexualität vor 50 Jahren gestanden haben. Die reaktionären Argumente sind zum Teil sogar austauschbar: Auch in den 60ern wurde mit absurden slippery-slope-Spekulationen gegen die Legalisierung der Homosexualität agitiert.

    Leider gibt es – trotz einer klaren Bevölkerungsmehrheit für die Sterbehilfe – nur wenig offene Empörung über diese dreiste Bevormundung und das tausendfache Leid, das daraus resultiert.

  10. #10 Cornelius Courts
    18/09/2014

    @nihil je: “Ich schäme mich natürlich nicht aus Polen zu stammen.”

    Gut. Das wäre auch völlig unangebracht 🙂

    “Es ist so wie es ist. Ich bin da geboren und kann das auch nicht ändern…ich will es auch nicht. ”

    Recht so. Ich schäme mich auch nicht, Deutscher zu sein, also meiner Herkunft, für die ich nichts kann, aber ich schäme mich FÜR mein Land und das leider nicht so selten.

    @Stefan Dewald: “dass ein Mensch, der nicht ausdrücklich der sog. säkularen Szene angehört”

    Gibt es denn da eine echte “Szene” und wie sollte eine Zugehörigkeit dokumentiert sein? Ich bin (noch) in keinem Verein (GWUP, IBKA, gbs etc.), das ist richtig, hoffte aber, meine säkular-humanistische Gesinnung inzwischen anderweitig (hier im Blog, aber auch hier: https://who-is-hu.de/node/959) deutlich gemacht zu haben.

    “Viel Erfolg & Zukunft”

    Danke 🙂

    @Julian Estragon: “Auch in den 60ern wurde mit absurden slippery-slope-Spekulationen gegen die Legalisierung der Homosexualität agitiert”

    Stimme zu, guter Vergleich. Ein sehr gutes anderes Beispiel, wo es in der Bevölkerung nicht so viele Betroffene gibt, weshalb es nicht so prominent ist, wo aber die religiöse Durchtränkung des entspr. Verbots völlig offensichtlich ist, ist übrigens das Inzestverbot (https://scienceblogs.de/bloodnacid/2012/04/12/ist-inzest-ein-menschenrecht/)

  11. #11 noch'n Flo
    Schoggiland
    18/09/2014

    Besonders schlimm finde ich es ja immer wieder, wenn sich Politiker einer entsprechenden Diskussion mit Verweis auf die “Euthanasie”-Greuel der Nazi-Zeit verweigern, dabei völlig ignorierend, dass es zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe riesige Unterschiede gibt.

    Wobei ich durchaus froh bin, dass viele meiner Kollegen in Deutschland kein Problem damit haben, auf ausdrücklichen Patientenwunsch auch aktiv den Sterbewunsch zu unterstützen. Und wem das zu heiss ist, der kann dem Sterbewilligen ja für dessen Schmerzen eine Flasche mit einem Morphin dalassen und ihm erklären, wie man dieses richtig dosiert, und wie man es besser nicht dosieren sollte. Funktioniert erfahrungsgemäss sehr gut.

  12. #12 Bullet
    18/09/2014

    @CC:

    Ich plädiere deshalb dafür, daß jede Form der Sterbehilfe ungehindert nur denjenigen zuteil werden sollte, die in dieser Sache noch oder schon für sich selber entscheiden können (oder konnten), mehreren unabhängigen, neutralen (!) Gutachtern glaubhaft machen können, daß sie nicht mehr leben wollen und daß sie diese Entscheidung in voller Kenntnis aller verfügbaren Informationen und Alternativen und aller bekannten zu erwartenden Konsequenzen getroffen haben.

    Dieses Plädoyer ist nach dem Aufbau des Artikels nur konsequent und eigentlich auch nachvollziehbar. Jedoch … äh, Moment … *Advocatus-Diaboli-Maske-aufsetz* … ähem, erinnert mich das fatal an Begründungen einiger dunkelbraun angekleckerter Kackbratzen zur Forderung nach Zwangsentleibung von Straftätern, deren Opfer deutlich minderjährig sind. Die verstecken sich bisweilen hinter solch fluffigen Formulierungen wie “bei eindeutiger Sachlage”, wobei ich ausgerechnet dich hier als die Alpha-Kompetenz ansehe, was “Eindeutigkeit” bei Straftaten bedeutet, so daß du mglw. am besten weißt, wie häufig – oder besser: selten – solche Eindeutigkeiten vorliegen.
    Soll heißen: es besteht die Gefahr, daß deine verständliche Absicht, ein nachvollziehbares Modellszenario herzustellen, das allen positiven Kriterien genügt, dieses gerade wegen der ethischen Absicherung mit einer Hintertür versieht, die man nur ausnutzen muß, um einem Sterbewilligen seinen Wunsch zu verweigern. Also: es muß nur einer der Gutachter der Meinung sein, daß der Suizidist nicht weiß, wovon er spricht – und schon wars das mit dem friedlichen Ableben zuhaus. Und ich rede nicht einmal davon, daß irgendwer mit Interesse am Weiter-Nichtsterben des Betreffenden einem Gutachter eine gehörige Summe Geldes zukommen lassen könnte, damit die Entscheidung gelenkt werde.
    Da du ja richtig schreibst, daß wir noch lichtjahrweit von einer echten Trennung zwischen Kirche und Staat entfernt sind, ist kaum auszuschließen, daß eine/r der Entscheider einen religiös verseuchten Hintergrund hat und somit auch religiös entscheidet. Das wäre dann die Sache mit dem “neutral”. Muß sich eben belegen lassen, daß alle “neutral” sind. Ich halte das für zumindest schwierig, wenn nicht sogar im Ernstfall durch kirchennahe Kräfte sabotierfähig.

  13. #13 Hobbes
    18/09/2014

    Entgegenhalten kann man hier aber auch das Argument, dass der Mensch eben kein durchgehen konstantes religiöses Wesen mit einer Seele ist sondern eine Ansammlung von Zellen die ständigen Wandel unterliegen.
    Mein heutiges ich muss nichts mit dem ich vor 10 Jahren mehr gemein haben, genau so wenig wie es mit dem in 10 Jahren identisch seien muss (gerade bei Kindern kann das innerhalb weniger Jahre eine 180° Wende geben) welches Recht hätte also diese Person die “spätere” umzubringen?
    Welches Recht hat eine Person denn den Angehörigen ein so hohes Leid zu zu fügen? Sicherlich wirkt die Freiheit der Selbstbestimmung hier höher und bei Leuten die eh bald sterben werden somit nur sehr begrenzt zusätzliches Leid erzeugen. Aber wie sieht es bei geistigen (oder anderen nicht letalen aber ewigen ) Erkrankungen aus? Selbst wenn diese unheilbar sind?

    Ein Beispiel: Eine Geisteskrankheit ist wird in 10 Jahren überraschend heilbar sein. Man hat die Person jetzt 10 Jahre zum Leben gezwungen aber nach der neuen Behandlung ist er froh darüber. Hätte man dann nicht vor 10 Jahren den heutigen “geheilten” Menschen ermordet?

    Abschließend will ich noch einmal eben sagen, dass das von mir bisher geschriebene nicht meine Ansicht ist. Es sind nur die kontroversen Punkte die mir beim Nachdenken dazu einfallen.
    Ich persönlich bin jemand für den die Freiheit zu den Sachen gehört für die ich bereit wäre zu sterben. Wenn ich jetzt mit einem Leiden (Pädophile oder oder sexuelle Gewalttriebe etc.) geboren wäre, welches trotz Sterilisation und allen möglichen Behandlungen sich nicht so weit reduzieren lässt das ich mit der Gesellschaft interagieren kann. Dann wäre der Zwang für mich dieses Leben leben zu müssen die schlimmste Folter die ich mir vorstellen könnte. Und ich würde jede physische Folter vor ziehen.

  14. #14 Cornelius Courts
    18/09/2014

    @Bulltet “Advocatus-Diaboli-”

    Alles richtig. Das Modell ist nicht perfekt und meines Erachtens kann es ohne Gedankenlesemaschine auch kein perfektes (i.e. nicht in die eine oder andere Richtung manipulierbare) Verfahren geben. Denn zu laxe Bedingungen sind auch verheerend, indem sie Sterben zulassen könnten, wo es eben nicht im echten Interesse des vermeintlich Sterbewilligen liegt.
    Die Frage, wer aus welchen Gründen als Gutachter in Frage kommt, ob sie einstimmig sein müssen, wie ihre Neutralität sicherzustellen ist etc. habe ich bewußt offen gelassen, auch das in dem Bewußtsein, daß auch solche Gutachter nicht perfekt sind.
    Das Hauptproblem liegt eben in der (religiös gefärbten) Bewertung des Lebens als etwas “heiliges” o.ä., die also nicht neutral und im Sinne des Lebensmüden erfolgt. Es wirkt so, als würde man einem solchen Menschen eine Gnade gewähren, so, als wäre er ein Bittsteller und nicht, als sei er selbst in der Lage, mündig und kompetent zu entscheiden, daß er nicht mehr zu leben wünscht. Anders ausgedrückt: die Tatsache, daß ein Mensch sein (Rest)leben ablehnt und nicht mehr zu erhalten wünscht, mag man ja bedauerlich/schlimm/feige etc. finden, doch dies sollte nicht die Beurteilung der Kompetenz des Lebensmüden beeinflussen.

    Ich tendiere dennoch dazu, eher einmal zu wenig als einmal zu oft zu gestatten, da das “zu viel” irreparabel ist. Bei “zu wenig” kann ja wenigstens ein neuer Anlauf genommen werden.

  15. #15 Cornelius Courts
    18/09/2014

    @Hobbes: “welches Recht hätte also diese Person die “spätere” umzubringen?”

    Jedes Recht. Daß man potentiell irgendwann mit einer (auch endgültigen) Entscheidung unzufrieden sein könnte (z.B. weil man sich persönlich verändert hat), ist weder theoretisch noch recht offensichtlich praktisch ein Grund, eine solche Entscheidung nicht zu fällen und mit Recht hat das schon gar nichts zu tun: den Richter möchte ich sehen, der einen Mörder laufen läßt, der erst 10 Jahre nach der Tat gefaßt wird und dann sagt: “ich bestand damals aus anderen Zellen und war ein anderer Mensch, mein heutiges Ich hat und hätte die Tat nicht begangen.”

    “Hätte man dann nicht vor 10 Jahren den heutigen “geheilten” Menschen ermordet?”

    Nein, die Mordmerkmale sind ja recht klar definiert und Sterbehilfe fällt nicht darunter. Man hätte ihm vielmehr, seinem ernsten und echten Wunsch folgend, geholfen, selbstbestimmt zu sterben. Daß es für seine Erkrankung in der Zukunft eine Heilung geben könnte, war ihm da bereits bewußt und nicht ausreichend, seinen Entschluss zu ändern. Daß es dann auch wirklich in der Zukunft eine Heilung gibt, erfährt er nicht mehr und schadet ihm daher auch nicht.

  16. #16 Bullet
    18/09/2014

    @CC:

    Ich tendiere dennoch dazu, eher einmal zu wenig als einmal zu oft zu gestatten, da das “zu viel” irreparabel ist. Bei “zu wenig” kann ja wenigstens ein neuer Anlauf genommen werden.

    Genau meine Schiene.

  17. #17 Dr. Webbaer
    18/09/2014

    Offensichtlich ist die Selbsttötung nicht wirksam zu verhindern, sie ist insofern ein Recht und meist relig. motivierte Gegenrede abzulehnen, bes. Formalismus (‘mehreren unabhängigen, neutralen (!) Gutachtern’) scheint nicht erforderlich,
    MFG
    Dr. W (der die Art und Weise, wie die alten Cowboys das früher geregelt haben, gar nicht so schlecht findet)

  18. #18 Ezri
    Schweiz
    18/09/2014

    Mein Leben gehört mir, mein Tod auch…

  19. #19 Julian Estragon
    18/09/2014

    @nochnFlo:

    “Besonders schlimm finde ich es ja immer wieder, wenn sich Politiker einer entsprechenden Diskussion mit Verweis auf die “Euthanasie”-Greuel der Nazi-Zeit verweigern, dabei völlig ignorierend, dass es zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe riesige Unterschiede gibt.”

    Wobei die aktive Sterbehilfe zur Diskussion steht. Die passive “Sterbehilfe” ist ja schon legal, aber ein Euphemismus, denn die “Hilfe” besteht nur darin, den Patienten nicht gegen seinen Willen weiterzubehandeln. Das ist so, als würde ich darauf verzichten, die Hauptstraße zu blockieren, und mir einbilden, ich hätte den Menschen geholfen, nach Hause zu kommen.

    Was den Nazi-Vergleich absurd macht, ist der Unterschied zwischen liberaler Sterbehilfe und Mord. Dieser Unterschied ist genauso eindeutig wie der zwischen einvernehmlichem Sex und einer Vergewaltigung.

    @Hobbes:
    “Mein heutiges ich muss nichts mit dem ich vor 10 Jahren mehr gemein haben, genau so wenig wie es mit dem in 10 Jahren identisch seien muss (gerade bei Kindern kann das innerhalb weniger Jahre eine 180° Wende geben) welches Recht hätte also diese Person die “spätere” umzubringen? ”

    Nach dieser Logik wäre jede Heirat eine Zwangsverheiratung des zukünftigen Ich, und jede freiwillige body modification eine Körperverletzung am zukünftigen Ich.

    Schon heute dürfen Menschen auf die Fortsetzung einer Behandlung verzichten und dadurch passiv ihren Tod einleiten. Das müsste nach deiner Logik ja auch verboten werden.

    Das gilt übrigens auch für die Gegner der aktiven Sterbehilfe, die immer unterstellen, ein Mensch in dieser Extremsituation könne keine freie Entscheidung mehr treffen. Oder noch besser: Auch der Todeswunsch eines Schwerkranken sei im Grunde Ausdruck einer heilbaren Depression, die den Patienten vorübergehend daran hindert, den Wert seines Lebens zu erkennen. Komisch, dass diese Leute nicht auch für ein Verbot der passiven Sterbehilfe und damit für die komplette Entmündigung des Patienten eintreten. Aber ich will sie nicht auf dumme Gedanken bringen.

  20. #20 nihil jie
    18/09/2014

    @Cornelius

    Ja.. ist ja auch nicht nötig sich dafür zu schämen. Dennoch, es ärgert mich manchmal sehr, dass es in Polen so zugeht. Von latenten Antisemitismus bis hin zur Faschistischen Tendenzen seitens der gläubigen. Da tun mir die gemäßigten Christen da richtig Leid, weil sie das genau so verstört.

  21. #21 noch'n Flo
    Schoggiland
    19/09/2014

    Hat hier gerade zufällig jemand die Diskussion bei “Beckmann” in der ARD zum Thema “Sterbehilfe” verfolgt? Ich war mehrmals hart davor zu kotzen, wenn die selbsternannten Hüter der “Ethik” ihre abgedroschenen Phrasen zum Besten gaben. Vor allem wieder einmal der Kirchen-Vertreter war ja wohl unterirdisch.

  22. #22 noch'n Flo
    Schoggiland
    19/09/2014

    @ J. Estragon:

    Wobei die aktive Sterbehilfe zur Diskussion steht.

    Wo denn?

    Die passive “Sterbehilfe” ist ja schon legal,

    Wo bitteschön?

    aber ein Euphemismus, denn die “Hilfe” besteht nur darin, den Patienten nicht gegen seinen Willen weiterzubehandeln.

    Nee, sie besteht vielmehr darin, dem Todkranken Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen, sein Leben selbstbestimmt zu beenden, ohne diesen Vorgang selber zu vollziehen.

    Das ist so, als würde ich darauf verzichten, die Hauptstraße zu blockieren, und mir einbilden, ich hätte den Menschen geholfen, nach Hause zu kommen.

    Bitte informiere Dich erstmal über das Thema, bevor Du hier solchen Dummfug verbreitest.

    Was den Nazi-Vergleich absurd macht, ist der Unterschied zwischen liberaler Sterbehilfe und Mord.

    Das stimmt. Zumindest ungefähr.

    Dieser Unterschied ist genauso eindeutig wie der zwischen einvernehmlichem Sex und einer Vergewaltigung.

    Eher nicht.

    Oh Mann, ich hasse es, wenn Typen, die nicht den Deut einer Ahnung vom Thema haben, meinen, ihren Meinungsfurz dazu ablassen zu müssen!

    Geht mal an die Patienten-Front! Redet mit den Sterbenden und ihren Angehörigen. Und wenn Ihr das mindestens 10x getan habt, kommt wieder in Demut.

  23. #23 Julian Estragon
    19/09/2014

    “Nee, sie besteht vielmehr darin, dem Todkranken Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen, sein Leben selbstbestimmt zu beenden, ohne diesen Vorgang selber zu vollziehen.”

    Falsch. Du verwechselst passive Sterbehilfe mit assistiertem Suizid. Vielleicht solltest du beide Begriffe einmal nachschlagen. Assistierter Suizid ist selbstverständlich eine echte Hilfe und eine diskutable Alternative zur aktiven Sterbehilfe.

    “Oh Mann, ich hasse es, wenn Typen, die nicht den Deut einer Ahnung vom Thema haben, meinen, ihren Meinungsfurz dazu ablassen zu müssen!”

    Das nette Kompliment kann ich zurückgeben.

  24. […] ist ein Menschenrecht, blooDNAcid am 17. September […]

  25. #25 Künstler
    Bonn
    21/09/2014

    Zitat:
    ERSTER ARZT: Niemand darf einem menschlichen Leben ein Ende setzen. Das verstieße gegen seine Würde.
    WINTER: Würde? Wovon sprechen Sie?
    ERSTER ARZT: Die Würde eines Lebens besteht darin, daß es ein Geschenk Gottes ist. Deshalb können wir nicht darüber verfügen.
    WINTER: Ich möchte nicht durch eine Vorstellung von Würde tyrannisiert werden, die mir fremd ist und die ich nicht einmal verstehe. Ich will Ihnen sagen, worin meine Würde besteht: in meinem selbständigen und selbstbestimmten Willen. Wenn Sie meine Würde respektieren wollen, dann müssen Sie meinen Willen respektieren, der lautet: Ich will, daß man mir zu sterben hilft. Wenn Sie diesem Willen nicht nachkommen, obwohl Sie es könnten: Das ist ein Verstoß gegen meine Würde.
    ZWEITER ARZT: Sich hier auf ein göttliches Verbot zu berufen, hat in der Tat nichts mit unserer Rolle als Ärzte zu tun. Und auch ich verstehe diese Idee von Würde nicht. Was kann eine Würde sein, die sich nicht um den Willen einer Person schert und sich ihm so kompromißlos entgegenstellt wie in diesem Fall? Eine rücksichtslose Würde? Sie muß doch für Herrn Winter in seinem Gefängnis aus Lähmung und Dunkelheit wie Hohn klingen. Trotzdem, Herr Winter: Sie können von meinem Kollegen nicht erwarten, daß er gegen seine religiöse Überzeugung handelt. Das wiederum hat mit seiner Würde im Sinne der Stimmigkeit seiner Person zu tun.
    WINTER: Das kann ich akzeptieren. Jedenfalls abstrakt betrachtet. Aber wir wollen festhalten: Er mißachtet damit meine Würde im Sinne der Selbstbestimmung. Er sagt zu mir: Ihre persönliche Würde gilt mir weniger als die göttliche Würde, an die ich glaube. Und das ist keine Kleinigkeit. Ich frage mich: versteht der Mann, was er damit macht? Hat er sich jemals vorgestellt, wie das ist: sich nicht mehr bewegen können? nie mehr? Und dazu noch blind sein, so daß ich mit der Welt nicht einmal mehr sehend und lesend in Verbindung treten kann? Ist ihm klar, was das für eine Hölle der Ohnmacht ist? Und ist ihm klar, was es für eine Grausamkeit bedeutet, wenn er zu mir sagt: Ihr Leid vermag mich nicht in Bewegung zu setzen, denn da ist dieses göttliche Verbot?
    ERSTER ARZT: Ich bin durchaus in der Lage, meine religiöse Überzeugung einzuklammern. Ich würde trotzdem niemanden auf sein Verlangen hin töten. Denn wir können seinen Willen nie abschließend kennen. Ist er wirklich ganz bestimmt? Ist er wirklich ganz klar im Sinne der unwiderruflichen Konsequenzen? Ist er echt? Ist es wirklich SEIN Wille, frei von fremden Einfluß? Ist er frei von Selbsttäuschungen?
    WINTER: Wenn ich ein Gesetz zu machen hätte, würde ich mit größtem Nachdruck hineinschreiben: All das über einen längeren Zeitraum prüfen und nochmals prüfen! Und jeden vernünftigen Zweifel ernst nehmen. Aber wissen Sie: Irgendwann weiß man es. So, wie man es auch bei anderen lebensbestimmenden Entscheidungen weiß, die einer trifft. Wenn Sie jetzt zu mir sagten: »Herr Winter, ich höre, was Sie über Ihren Willen zu sterben sagen, ich höre es seit Tagen, seit Wochen, aber wie kann ich sicher sein, daß Sie Ihren Willen wirklich kennen und verstehen? Wie kann ich sicher sein, daß Sie nicht DOCH an Ihrem Leben in der Lähmung und Dunkelheit hängen?« Wenn ich Sie das sagen hörte, dann würde mich eine ohnmächtige Wut überschwemmen. Was für eine unglaubliche Arroganz, versteckt hinter einer scheinheiligen Fassade gedanklicher Sorgfalt!, würde ich denken. Als könnte ich mich über meinen eindeutigen, verzweifelten Willen täuschen!
    ZWEITER ARZT: Aber könnte sich Ihr Wille zu sterben nicht doch noch ändern? Wäre es nicht immerhin denkbar?
    WINTER: Jeder Wille kann sich rein theoretisch gesehen, ändern. Daraus kann nicht folgen, daß wir ihn so, wie er ist, nicht als selbstbestimmten Willen respektieren. Denn sonst könnte es überhaupt keine Achtung vor der Selbstbestimmung eines Menschen geben und also keine Achtung vor seiner Würde.
    ZWEITER ARZT: Gut. Aber es geht um Ihren letzten Willen!
    WINTER: Daß es mein letzter ist und nach seiner Verwirklichung unwiderruflich, ändert nichts daran, daß er selbstbestimmt und zu respektieren ist. Es müßte sonst das absurde Prinzip gelten: Ein Wille, weil er der letzte in diesem Leben wäre, braucht nicht ernstgenommen zu werden.
    […]
    ERTER ARZT: »Euthanasie« und »Holocaust« hat neulich jemand gemurmelt, als auf der Station von diesen Dingen die Rede war.
    WINTER: Das ist dummes, unwürdiges, verantwortungsloses Geschwätz. Ein Zeichen gedanklicher Verwahrlosung. Wer das faschistische Vernichtungsprogramm nicht vom Respekt vor einem selbstbestimmten Willen unterscheiden kann, gehört nicht an eine Klinik.
    ZWEITR ARZT: Solchen Entgleisungen brauchen wir in der Tat keine Beachtung zu schenken. Aber neulich sagte jemand zu mir: »Es wäre ein bewußtes, absichtliches Töten. Wäre es dann nicht Mord?« Und auch Richter reden manchmal so, wenn sie einen ohnmächtigen Patienten das Recht aufs Sterben durch fremde Hand streitig machen.
    WINTER: Solchen Leuten müßte man ein Wörterbuch in die Hand drücken. Mord – das ist das Töten von jemandem gegen seinen Willen und aus niedrigen Beweggründen. Beides ist hier nicht gegeben. Auch hier gilt, was ich zu Beginn sagte: Leute lassen sich leicht von den Wörtern wegschwemmen und vergessen darüber das Denken.
    […]
    ERTER ARZT: Ich würde mir vorstellen, wie Sie nachher tot vor mir lägen, und ich müßte denken: Ich war es. Ich glaube, ich würde aus dem Zimmer gehen.
    ZWEITER ARZT: Es wäre schwer für mich, mit einer Tötung weiterzuleben. Aber vielleicht könnte es mir gelingen, mir ganz Ihre Perspektive zu eigen zu machen und mir zu sagen: Es ist vor allem eine Erlösung. In einer Klinik, an der ich früher war, gab es einen älteren Patienten, der am ganzen Körper gelähmt war und außer den Augen nur noch einen Muskel am Kinn bewegen konnte. Er mußte künstliche beatmet und künstlich ernährt werden. Man installierte am Kinn einen Fühler, mit dem er Impulse an einen Computer senden konnte. Auf dem Bildschirm sah der Mann das Alphabet. Über die Buchstaben glitt langsam ein Lichtpunkt. Wenn der Punkt auf dem richtigen Buchstaben war, gab der Mann mit seinem Kinnmuskel das Signal, und der Buchstabe wurde ausgewählt. Der Bildschirm füllte sich mit Worten. Der Mann schrieb. Er schrieb ein Buch über die Geschichte des Gotthardpasses. Es dauerte viele Jahre. Als er fertig war, schrieb er: Ich mag nicht mehr. Kremieren. Wir hatten eine Abmachung: daß ich ihm, wenn ich diese Worte läse, helfen würde. In der folgenden Nacht starb er von selbst. Ich stand lange an seinem Bett. Ich war froh, daß ich es nicht hatte tun müssen. Aber ich glaube, ich wäre bereit gewesen.

    Zitat Ende

    aus: Peter Bieri: Eine Art zu leben – Über die Vielfalt menschlicher Würde; München 2013; S. 364 ff.

  26. #26 ulfi
    21/09/2014

    Ich fürchte leider, dass das obige Zitat durch die Länge und die fehlende Einbettung in einen größeren Beitrag leider nicht mehr durch das Zitatrecht gedeckt ist.

  27. #27 Künstler
    21/09/2014

    Allerdings könnte dieses lange Zitat einige animieren, das Buch zu kaufen …

  28. #28 Joseph Kuhn
    21/09/2014

    Ein schwieriges Thema. Auch, weil die eigene Entscheidung darüber, was man noch erträgt, nicht von den verfügbaren palliativmedizinischen und pflegerischen Angeboten, von der Diagnostik psychiatrisch behandelbarer Probleme, vom Umgang des familiären und sozialen Umfelds mit Leiden und Tod und auch nicht von den gesellschaftlichen Einstellungen zum Wert des Lebens zu trennen sind. Nietzsches “freier Tod” sollte denen, die dazu fähig sind, nicht verweigert werden, aber man sollte nicht aus den Augen verlieren, dass eine “liberalere” juristische Regelung dieser Problematik Nebenwirkungen haben wird.

  29. #29 Dr. Webbaer
    23/09/2014

    Nietzsches “freier Tod” sollte denen, die dazu fähig sind, nicht verweigert werden, aber man sollte nicht aus den Augen verlieren, dass eine “liberalere” juristische Regelung dieser Problematik Nebenwirkungen haben wird.

    Man sollte das nicht aus den Augen verlieren, vgl. : -> https://www.stern.de/panorama/belgien-sexualstraftaeter-erkaempft-recht-auf-sterbehilfe-2138679.html (‘Recht auf Sterbehilfe’ – angeblich gibt es Dutzende weitere Kandidaten)

    D.h. ‘Nebenwirkungen’ sind zu beachten, grundsätzlich sollte es aber in die richtige Richtung gehen.

    MFG
    Dr. W

  30. #30 Trottelreiner
    25/09/2014

    @Webbaer:
    Nur scheint die Situation nach Durchlesen des Stern-Artikelns nicht so schön eindeutig zu sein, wie sich das hier so mancher vorstellt:

    Der Gefangene habe mehrfach beantragt, in eine niederländische Strafanstalt verlegt zu werden, wo er wegen eines psychischen Leidens behandelt werden könne. Anderenfalls wolle er sterben. “Wir haben niemals eine klare Antwort bekommen”, sagte der Anwalt. Schließlich sei der Transfer in die Niederlande abgelehnt worden. Deshalb habe man vor Gericht die Sterbehilfe durchgesetzt.

    Die Deutsche Stiftung Patientenschutz kritisierte das Vorgehen der belgischen Behörden. “Der Fall des belgischen Strafgefangenen zeigt auch was passiert, wenn der Staat kein Therapie-Angebot bereit hält. Dann wird nicht die Hilfe zum Leben, sondern der Weg in den Tod organisiert”, heißt es in einer am Dienstag in Berlin veröffentlichten Erklärung.

    Was sich dann schon etwas anders anhört.

    Siehe auch diesen Artikel:
    https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/sterbehilfe-in-belgien-debatte-ueber-haeftling-frank-van-den-bleeken-a-991988.html

    Ich kann den Spaß, mal wieder über die Relidioten herziehen zu können ja nachvollziehen, aber irgendwie hört sich das nicht mehr so eher nach einem Fall von menschlicher Freiheit sondern eher von Kostenminimierung im Gesundheitswesen an…

  31. #31 Trottelreiner
    25/09/2014

    @Julian Estragon:

    Was den Nazi-Vergleich absurd macht, ist der Unterschied zwischen liberaler Sterbehilfe und Mord. Dieser Unterschied ist genauso eindeutig wie der zwischen einvernehmlichem Sex und einer Vergewaltigung.

    Ähm, schon das letzte Begriffspaar ist gar nicht so eindeutig unterschieden, wie man vielleicht denkt, die verschiedenen Definitionen von “Vergewaltigung” und “Einvernehmen” mal ganz außen vorgelassen.

    § 177 des StGB spricht davon, daß eine andere Person durch Gewalt, mit Drohung mit Gefahr für Leib und Leben oder “unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist” zu sexuellen Handlungen genötight wird. Was die interessante Frage aufwirft, wie man die Sache nennt wenn der, ähm, Täter nicht das Opfer, sondern z.B. dem Opfer nahestehende Personen bedroht.

    Natürlich könnte man das unter “schutzlos ausgeliefert sein” einordnen, nur könnte man das dann auch auf Prostituierte in Notsituationen oder, ähm, Dinge die beim Seelenklempnern bei Beziehungsproblemen im Freundeskreis, Alkohol optional passieren können anwenden. Etc. ad nauseam.

    Inwiefern das erste Begriffspaar eindeutiger zu unterscheiden ist, wäre jetzt getrennt zu klären.

  32. #32 Trottelreiner
    25/09/2014

    Nachtrag:
    Im StGB griffen einige der angedeuteten Fälle wohl in § 179
    (Sexueller Mißbrauch widerstandsunfähiger Personen) über, der u.a. auch “Wehrlosigkeit” durch psychische Erkrankungen umfasst. Nur haben wir dann den Spaß, festzulegen, was diese umfaßt, wegen einer leichten Neigung zur saisonabhängigen Depression die Hälfte des Jahres im Zölibat zu leben wäre eine konsequente, aber oft etwas unpraktische Lösung…

  33. #33 Cornelius Courts
    25/09/2014

    @Trottelreiner: “Ich kann den Spaß, mal wieder über die Relidioten herziehen zu können ja nachvollziehen,”

    mein Artikel war durchaus nicht spaßig bzw. als lustvolles Religionsbashing gemeint und das Beispiel des Häftlings war nur der Aufhänger, ich nannte ja außerdem noch die Sterbehilfe für Jugendliche und Kinder als belgische Errungenschaft.

    Es geht darum, daß die Sterbehilfe in Deutschland (und vielen anderen Ländern) aufgrund religiös gefärbter Motive viel zu stark eingeschränkt ist. Daß es schön(er) wäre, wenn ein Staat möglichst viel tut, damit sich seine Bürger möglichst selten zu sterben wünschen, ist klar, steht aber hier nicht zur Debatte.

  34. #35 Cornelius Courts
    26/09/2014
  35. #36 Michael S.
    10/10/2014

    Ich muss ehrlich gestehen, dass ich mich an den ethischen, moralischen und theologischen Diskussionen mit ihren Spitzfindigkeiten zu diesem Thema nicht beteiligen kann (und will). Ich kann nur meine Sicht der Dinge schildern.
    Nächstes Jahr werde ich 40 Jahre alt und wenn meine Großmutter an dem Tag noch lebt, werde ich mehr als die Hälfte meines Lebens pflegender Angehöriger gewesen sein (21 Jahre). Es begann mit meinem Großvater (mehrere schwere Schlaganfälle, nach denen nur noch rudimentäre Gehirnfunktionen und heftige Schmerzen zurück blieben), setzte sich mit meinem Vater (Krebspatient, der elendiglich verreckte) fort und jetzt ist es meine Großmutter mit ihrer Demenz, die meine Familie und ich betreuen. An der Pflegesituation ist meine Partnerschaft gescheitert und ich leide eben aufgrund dieser Situation an Depressionen.
    Ich habe erlebt, wie mein lebenslustiger und immer aktiver Großvater zu einem Haufen Fleisch ohne Verstand wurde. Ich habe meinen Vater gesehen, der vor Schmerzen halb wahnsinnig geworden ist und seine Ärzte anbettelte, ihm eine Spritze zu geben, damit er sich töten könnte. Und jetzt erlebe ich, wie meine Großmutter den Verstand verliert und noch nicht mal mehr die Kontrolle über ihre Schließmuskel hat.
    Und nun diese öffentliche Diskussion um die Sterbehilfe. Was sehe ich, wenn ich den Fernseher einschalte? Selbstzufriedene Priester jedweder Rangstufe, die sich aufspielen zu den Herren über derartige Fragen, feige Politiker, die den Pfa.. rrern den A…. lecken und gescheite Ethikräte und Professoren, die hochintellektuell daherreden.
    Und wisst ihr was? Keiner von denen weiß wovon er spricht. Keiner von denen hat seine Angehörigen je gewickelt, gewaschen, gefüttert, ist nicht zu jeder Nachtzeit aufgestanden und hat die Windeln gewechselt, hat nie bis zu den Ellenbogen in Exkrementen, Blut und Schmadder gesteckt. Jede von diesen Pfeifen würde doch schon vor Ekel speiben, wenn er eitrige Wunden oder einen Dekubitus verbinden müsste. Und diese „Menschen“ maßen sich aufgrund eines imaginären Freundes namens Gott an, andere Menschen in diese Hölle zu schicken? Was sind das bloß für UN-Menschen?
    Mir hat so ein „Gottesmann“ mal erklärt, dass nur Gott allein ein Leben beenden darf. Ich habe ihn dann gefragt, ob das dann auch nicht das Ende der modernen Medizin bedeuten würde, denn der Herzinfarkt, den der „Herr Pfarrer“ kurz vor diesem Gespräch hatte, war doch dann wohl auch Gottes Weg sein Leben zu beenden. Worauf ich stehen gelassen wurde.
    Jeden Hund behandeln wir menschlicher als unsere leidenden Mitmenschen. Ich könnte kotzen.
    Aber wahrscheinlich gibt es jetzt genügend gescheite Leute, die mir erklären können, warum ich Unrecht habe.

    P. S. Am meisten ärgern mich die Diskutanten, die Sterbehilfe für totkranke Patienten mit Euthanasie gleichsetzen.

  36. #37 Michael S.
    10/10/2014

    Und wenn ich erst an den ganzen Behördenärger mit Krankenkassen, Versicherungen, Pflegekasse, MDK etc. denke, dann könnte ich gleich weiterspeiben.

  37. #38 Cornelius Courts
    11/10/2014

    @Michael S.: erstmal danke für das Teilen Deiner Geschichte, die als Beispiel aus der Realität zeigt, worum es hier geht: Menschenwürde – nichts weniger – auch im Sterben und im Tod.

    “Aber wahrscheinlich gibt es jetzt genügend gescheite Leute, die mir erklären können, warum ich Unrecht habe. ”

    Nein, könnten sie nicht, weil Du recht hast.

  38. #39 Dr. Webbaer
    12/10/2014

    Ein aktuelles Beispiel für Handlung, die grundsätzlich Respekt verdient:
    -> https://www.handelsblatt.com/panorama/aus-aller-welt/udo-reiter-ist-tot-ehemaliger-mdr-intendant-begeht-selbstmord/10822616.html

    MFG
    Dr. W

  39. #40 Harald Schmitt
    03/11/2014

    Ich hoffe dass die Diskussion über ein Ende mit Würde zum selbstbestimmten Zeitpunkt. schnellstmöglich legalisiert wird. Auch das verstaubte Deutschland sollte seinen Bürgern die letzte Entscheidung selbst überlassen. Jeder Mensch kann nur für sich alleine entscheiden für welchen Weg er sich entscheidet. Es grenzt schon an Anmaßung wenn Politiker und Kirchen über mein Lebensende bestimmen. Auch die immer wieder argumentierte Befürchtung das Recht auf selbstbestimmtes Sterben würde zum Massensterben führen kann ich nicht erkennen. Ganz im Gegenteil Das Recht auf ein selbst bestimmtes Ende ermuntert mich auch schwierige Therapien entspannter anzugehen. Allein die Gewissheit auf Selbstbestimmung beim Lebensende hilt.

  40. #41 Ursula
    19/06/2017

    Aktuell in GB heiß diskutiert:

    https://orf.at/stories/2395447/2395446/

    Ich glaube. ich würde mein Baby sterben lassen, aber – solange es nicht selbst erlebt wird, ist die Einschätzung des eigenen Verhaltens wohl sehr schwer.

    Aus dem Artikel:
    “Der zehn Monate alte Charlie Gards aus Großbritannien leidet an mitochondrialer Myopathie, einer seltenen und schweren genetischen Krankheit. Die behandelnden Ärzte sehen keine Chance auf Heilung, weswegen ein Londoner Gericht im April die Abschaltung der lebenserhaltenden Maßnahmen verfügte. Die Eltern des Buben wehren sich dagegen. Nach kurzem Aufschub dürfte nun bald die endgültige Entscheidung fallen.”