Gerade hat Belgien einen weiteren Schritt in Richtung Humanität getan und den Abstand zum ohnehin abgehängten Deutschland noch weiter vergrößert aber auch verdeutlicht: in Belgien erhielt nun ein psychisch schwer und unheilbar kranker Häftling das Recht zu sterben. Er darf seinem Leben unter ärztlicher Überwachung selbst ein Ende setzen, obgleich sein körperlicher Zustand ein Weiterleben problemlos erlauben würde. Grund allein ist das unerträgliche und durch ärztliche Bemühungen nicht zu stillende Leid, dem ausgesetzt zu sein er glaubhaft vermittelt hat und ihm zugleich nicht zugemutet werden darf.
Zuvor hatte Belgien bereits und bewundernswerterweise die willkürliche Altersgrenze bei der Sterbehilfe abgeschafft und es so auch unheilbar kranken Kindern und Jugendlichen ermöglicht, denen auf Grundlage objektiv beurteilbarer Reife und damit zurecht eine eigene Entscheidung über ihr Leben und dessen Ende zuzutrauen ist, sterben zu dürfen, um nicht grund- und hoffnungslos leiden zu müssen.
Wenn ich von solchen Fortschritten erfahre und dann die beklagenswerte Situation in Deutschland dagegen halte (von Ländern wie Polen ganz zu schweigen), empfinde ich Zorn und Scham zugleich. Ich schäme mich für ein Land, das schwerst an Leib oder Seele erkrankte Menschen, die ohne Hoffnung auf Besserung nicht mehr leben wollen, entweder zum Sterbetourismus zwingt, sofern sie es sich denn leisten und über sich bringen können, fern von zu Hause ihr Leben zu beenden, oder eben weiter zu leiden, oder, wenn sie noch können und es wagen, den Suizid und seine Durchführung selbst in die Hand zu nehmen – mit, wie ich aus meinem Alltag weiß, durchaus ungewissem und nicht selten unwürdigem Ausgang.
Und ich bin zornig darüber, daß es, wieder einmal und wie so oft die Religion ist, die sich qua Klerus und Institutionalisierung der Politik infundiert, den Menschen grundlegende Rechte streitig macht, ja deren Existenz in Abrede stellt und sie in Geiselhaft einer von ihnen nicht notwendig geteilten, vollkommen absurden und irrationalen Vorstellung von Herkunft und Wert des Lebens und einer menschenverachtenden Verherrlichung des Leids nimmt.
Das Leben wurde dem Universum, der Erde, uns nicht von irgendeiner übernatürlichen Instanz zugeteilt. Es entstand zufällig, ohne Plan, ohne Sinn, ohne Wille, ohne Richtung und vor Milliarden Jahren aus den Kollisionen umherwimmelnder Komponenten des Lebendigen und vererbt sich seitdem weiter. Erst mit der Entstehung von Bewußtsein und Urteilskraft entstand die Möglichkeit, das Leben zu bewerten und überhaupt als sinnvoll aufzufassen und deshalb erhält es seinen Sinn und Wert auch nicht von außen. Ob also das Leben eines Menschen Sinn und einen Wert an sich hat, entscheidet dieser Mensch für sich allein!
Es ist zwar gut und richtig, daß der Staat das menschliche Leben grundsätzlich würdigt und machtvoll schützt und vorsorglich davon ausgeht, daß jeder Mensch sein Leben schätzt und erhalten will. Das gilt aber nur, weil dies fast immer und bei allen Menschen der Fall und also in deren Interesse ist, bzw. sein wird, sobald der Mensch sein Leben selbst bewerten, bzw. selbst dann, wenn ein Mensch sich nicht mehr mitteilen kann. Der Staat darf hingegen nicht entscheiden und hat zurückzutreten, wenn ein Mensch als Individuum, der in Kenntnis aller verfügbaren Information glaubhaft vermittelt, keinen Wert mehr auf sein Leben zu legen, in Würde sterben will. Und erst recht nicht darf er ein Verbot durch eine absurde religiöse Vorstellung inspirieren lassen, die durch nichts als die Beteuerungen von deren fragwürdigen Vertretern belegt ist. Nicht umsonst lautet der erste Artikel des deutschen Grundgesetzes nicht „Das Leben“, sondern: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Hervorhebung von mir) In einigen Fällen ist nun aber dieser Aufgabe, die Würde eines Menschen zu achten und zu schützen, nur beizukommen, indem man ihn selbstbestimmt sein Leben aufgeben, loslassen und sterben lässt.
Um die vorhersehbaren Einwürfe vorwegzunehmen: ich selbst messe meinem und dem Leben anderer Menschen einen unermesslich hohen Wert bei und finde die Vorstellung, es – und erst recht leichtfertig – fortzuwerfen, schwer erträglich, und zwar gerade weil danach höchstwahrscheinlich und entgegen religiöser Phantastereien nichts mehr kommt und für uns alles endet. Unser Leben ist das einzige, ist alles, was wir haben und haben werden, dieser „verschwindend kurze Augenblick, den wir uns gegen das entropische Fortgerissenwerden anzustemmen vermögen“ und die Wahrscheinlichkeit, daß es jede/n einzelne/n von uns gibt, ist atemberaubend gering.
Doch genauso sehr wie vom Wert des Lebens bin ich von der Eigenverantwortlichkeit und unbedingten Freiheit des Menschen überzeugt. Diese Eigenschaften verleihen uns die Kompetenz und die Berechtigung, unser Leben als sinnvoll und wertvoll und wert, fortzudauern, oder aber als qualvoll, unwürdig und schmerzvollen Weg unabsehbarer Dauer zu beurteilen. Niemand, kein anderer Mensch, kein Staat und erst recht kein Kleriker, hat das Recht, einem Lebensmüden den ernsthaft und vernunftvoll ersehnten Tod zu verwehren oder gar, einen solchen Wunsch als krankhaft zu verunglimpfen. Und da jeder Mensch anders mit Schmerz und Hoffnungslosigkeit umgeht, sind auch Durchhalteparolen oder die Aussicht auf theoretische Heilungsmöglichkeiten irgendwann in unbestimmter Zukunft keine Hilfe.
Jede Anspruchshaltung gegenüber Lebensmüden, wie sehr sie ihr Leben gefälligst zu schätzen hätten und welche Anstrengungen sie zu unternehmen und welches Leid sie zu ertragen hätten, um doch noch einmal Lebensmut zu schöpfen, gehen von einer Vorstellung des Werts dieses Lebens aus, die entweder einer religiösen Konvention oder der individuellen und – mit Verlaub – unerheblichen Privatauffassung des Aufmunternden entsprechen aber jedenfalls nicht der auf die es einzig und allein ankommt: die der betroffenen Person. Und selbst wenn man sich in die Position des/der Leidenden versetzen kann (was in den allermeisten Fällen nicht gegeben sein dürfte) und selbst wenn man selbst in dieser Lage anders handeln, anders entscheiden würde, so darf das und auch, was Jesus und Konsorten tun oder dazu sagen würde, keine, überhaupt keine Rolle für die Freiheit der betroffenen Person spielen, anders zu sein und anders zu entscheiden.
Ich plädiere deshalb dafür, daß jede Form der Sterbehilfe ungehindert nur denjenigen zuteil werden sollte, die in dieser Sache noch oder schon für sich selber entscheiden können (oder konnten), mehreren unabhängigen, neutralen (!) Gutachtern glaubhaft machen können, daß sie nicht mehr leben wollen und daß sie diese Entscheidung in voller Kenntnis aller verfügbaren Informationen und Alternativen und aller bekannten zu erwartenden Konsequenzen getroffen haben. Die Beispiele von Belgien und anderen Ländern lassen mich jedenfalls hoffen, daß man eines Tages auch in Deutschland, dem nicht selten zögerlichen Schlußlicht humanistischer Entwicklung, selbstbestimmt über seinen eigenen Tod wird entscheiden können.
In seiner Zukunftsvision „Futurama“ hat Matt Groening übrigens den Ausgang dieser gesellschaftlichen Debatte recht deutlich vorweggenommen: im Neu New York des 31. Jahrhunderts stehen wie selbstverständlich „Suizidzellen“ auf den Straßen, in denen sich Lebensmüde „ambulant“ und gegen ein geringes Entgelt auf individuell angepasste Weise aus dem Leben befördern lassen können…
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