Gegen 11 Uhr klingelte ihr Telefon. Sie schaute aufs Display und verdrehte genervt die Augen. Nicht der schon wieder! Ihr Ex hatte wieder einmal bei ihr übernachtet, weil sie es immer noch nicht über sich brachte, ihn rauszuschmeißen. Um 8 hatte sie ihn in ihrer Wohnung zurückgelassen und war zur Arbeit gegangen. Er hatte Probleme, kam nicht klar mit seinem Leben und dann noch der Selbstmordversuch vor einem Jahr…Trotzdem: er nervte! Das Telefon klingelte weiter und sie ging ran: „Du…“, hörte sie ihn keuchen, „mir geht’s nicht gut. Ich habe ganz plötzlich Blut erbrochen und ich…“ Wütend drückte sie ihn weg und schaltete das Telefon auf lautlos. Das wäre nicht das erste Mal, daß er Schmerzen oder irgendwelche körperlichen Probleme vortäuschte, um ihre Aufmerksamkeit zu erschleichen.
Nach der Arbeit fuhr sie nach Hause. Gegen 16 Uhr dort angekommen steckte sie den Schlüssel ins Schloss, doch dieser ließ sich nicht drehen. Sie versuchte es erneut, es ging nicht. Sie war aus ihrer eigenen Wohnung ausgesperrt! Sie klopfte an die Tür und rief nach ihrem Ex-Freund. Keine Reaktion. Ungehalten zog sie ihr Telefon heraus und rief ihn an. Durch die Tür hörte sie es klingeln, „Na warte!“, dachte sie. Es klingelte 6, 7 mal, dann antwortete die Mailboxansage. Sie legte auf, rief wieder an, es klingelte erneut, dann wieder: Mailboxansage. Sie versuchte es nochmal. Und nochmal. Endlich gab sie entnervt und nun auch etwas besorgt auf und alarmierte Polizei und Notarzt. Als diese, nach ihrem Eintreffen, die Wohnungstür aufgebrochen hatten, stellten sie fest, daß die Tür abgeschlossen und der Schlüssel von innen stecken gelassen worden war. Rasch durchsuchten sie die Wohnung und im Schlafzimmer fanden sie den Ex-Freund der Frau leblos auf dem Boden liegend. Ein Zettel lag neben ihm und um kurz vor halb sechs wurde er für tot erklärt.
So stelle ich mir jedenfalls, ausgehend von den Schilderungen in einem Fallbericht über einen Suizid durch Koffeinintoxikation in Forensic Science, Medicine and Pathology [1], die Geschehnisse an jenem Tag in Italien vor. Im Polizeibericht heißt es weiter, der Tote habe sich vollständig bekleidet in Rückenlage befunden, der Zettel neben ihm sei ein Abschiedsbrief gewesen, in dem er ankündigte, sein Leben beenden zu wollen und seine Ex-Freundin gebeten habe, sich um seine Eltern zu kümmern. Es habe keinerlei Anzeichen eines gewaltsamen Eindringens oder der Einwirkung Dritter gegeben, man habe keine Werkzeuge oder Gegenstände in der unmittelbaren Nähe des Leichnams gefunden, alle elektrischen Geräte seien ausgeschaltet gewesen und es seien keine offensichtlichen Anzeichen von Drogenmißbrauch sowie keine Medikamente oder Tabletten in der Wohnung festgestellt worden.
Leichenschau und Obduktionsergebnisse: Der Tote (31) war 175 cm groß und wog 65 kg. Die äußere Leichenschau erbrachte keine nennenswerte Befunde, insbesondere wurden keinerlei äußere Verletzungen festgestellt. Bei der Obduktion fand man ein normales, gesundes Herz und unauffällige Herkranzgefäße. Die Lungen waren ödematös und blutgestaut, die Leber schwer und gelbbraun aber ohne Anzeichen von Regenratknötchenbildung (Vorstufe einer Zirrhose). Das Hirn war mit 1400 g leicht ödematös, Milz, Nieren und der restliche Körper waren unauffällig. Speiseröhre und Magen enthielten insgesamt 200 g einer weißlich-bräunlichen Substanz darin noch Reste unverdauter Tabletten.
Die feingewebliche Untersuchung der Leber erbrachte Anzeichen fokaler Fibrosen, die ein Anzeichen für Alkoholmißbrauch sein können, die Untersuchung des Nierengewebes ergab Hinweise auf leichte Nierenschäden in Form von Tubulusnekrosen, die ein Anzeichen für Vergiftungen sein können. Insgesamt konnten also keine den Tod erklärenden traumatische Einwirkungen oder pathologische Veränderungen festgestellt werden, so daß eine umfangreiche postmortale biochemische und toxikologische Untersuchung von Blut und Urin an die Obduktion angeschlossen wurde.
Biochemische und toxikologische Befunde: Die Ergebnisse der biochemischen Untersuchung nieren-, leber- und herzrelevanter Parameter passte zu einer verminderten Nierenfunktion kurz vor dem Nierenversagen. Die toxikologische Analyse brachte schließlich des Rätsels Lösung: nachdem eine Reihe von Standardtests auf gängige Drogen und Gifte wie Kohlenmonoxid, Zyanide etc. negativ verlaufen und nicht kritische Mengen von 0,24 g/l Ethanol und 169 mg/l ASS im Blut festgestellt worden waren, wurde auch Koffein in die Analyse miteinbezogen. Mittels „high performance liquid chromatography – ultraviolet/diode array detection“ (HPLC–UV-DAD) wurden 170 mg Koffein pro Liter Blut gemessen: eine toxische und potentiell lebensbedrohliche Konzentration. In anderen Geweben fand man 10,204 mg/ml (Mageninhalt), 79 mg/l (Urin), 365 mg/l (Gallenflüssigkeit), 544 mg/l (Hirn), 811 mg/l (Lunge), 556 mg/l (Leber), 824 mg/l (Milz) und 1755 mg/l (Niere).
Zusammen mit der Konzentration im Mageninhalt und der bei der Obduktion bestimmten Menge des Mageninhalts konnte die Menge an Koffein im Mageninhalt auf etwa 2 g geschätzt werden. In Anbetracht der sehr hohen Koffeinkonzentration im Blut, die auch anderen Berichten aus der Literatur über tödlich verlaufene Koffeinvergiftungen zufolge als toxisch einzuschätzen ist, und mangels pathologischer, todeswürdiger Befunde im Rahmen von Obduktion und Histologie wurde als Todesursache akute Koffeinvergiftung festgestellt.
Im Nachgang konnte durch polizeiliche Ermittlungen, Hinzuziehung medizinischer Aufzeichnungen und Befragungen im Umfeld des Verstorbenen noch in Erfahrung gebracht werden, daß er Alkoholiker war und ein Jahr vor seinem Tod einen Suizidversuch durch Einnahme des Schmerzmittels Ibuprofen unternommen hatte. Einige Wochen nach seinem Tod wurde noch aufgeklärt, woher das tödliche Koffein stammte: seine Ex-Freundin fand in einer alten Sporttasche, die er bei ihr deponiert hatte, ein leeres Tablettenröhrchen, das 100 konzentrierte Koffeintabletten enthalten hatte. Sie hatte diese Tabletten völlig vergessen, die sie sich etwa 1 Jahr zuvor als Abnehmhilfe besorgt, aber nicht vertragen und daher nicht mehr eingenommen hatte. Sie war sehr überrascht, diese Tabletten in der Tasche ihres Ex-Freundes zu finden, da sie nicht für möglich gehalten habe, daß das Mittel eine Rolle bei seinem Suizid gespielt haben könne.
_____
Daß Koffein eine Modedroge [2] und nicht ganz ohne ist [3], hatte ich hier ja neulich schon beschrieben, doch die schädliche Wirkung von Koffein ist schon seit langem sogar dem Volks(lied)mund (damals noch auf Kaffee bezogen) bekannt: es „schwächt die Nerven, macht Dich blass und krank“.
Koffein wird als Inhaltsstoff sehr vielen Lebensmitteln und Convenience-Produkten wie Appetitzüglern zugesetzt und inzwischen sogar in Reinform als Koffeinanhydrat zum Selbermischen verkauft. Dennoch sind Todesfälle im Zusammenhang mit Koffein nicht sehr häufig, kommen aber durchaus in der forensischen Literatur vor [4-7]. In den letzten Jahren ist zudem wegen seiner leichten Verfügbarkeit die Häufigkeit absichtlicher und akzidenteller Aufnahme toxischer Mengen Koffeins gestiegen.
Der Tod nach Koffeinvergiftung tritt meistens als Folge ventrikulärer Rhythmusstörungen ein, obwohl Koffein noch weitere Auswirkungen auf das Herzkreislaufsystem hat. Oral aufgenommen wird es schnell und vollständig resorbiert und seine Wirkung tritt innerhalb von 15 min ein. Die chronische Einnahme von Alkohol und bestimmten Medikamenten verlängert die Halbwertszeit von Koffein im Körper um bis zu 72% und kann so zu seiner toxischen Wirkung beitragen. Blutkonzentrationen von 80-100 mg/l gelten allgemein als tödlich. Dies kann theoretisch durch die Einnahme von 50-100 Tabletten mit 100 mg Koffein pro Stück erreicht werden.
Der Suizident im vorgestellten Fall hat die tödliche Dosis sehr wahrscheinlich durch Einnahme zahlreicher Koffeintabletten erreicht, wobei die exakte Menge des eingenommenen Koffeins nicht zu klären war. Wenn die Angaben seiner Ex-Freundin aber stimmen, sich in dem Röhrchen bis zu 90 Tabletten befunden hatten und er diese alle auf einmal eingenommen hat, so hätte er sich insgesamt 9 g Koffein zugeführt, was mehr als genug für und konsistent mit der gemessenen tödlichen Konzentration war.
Der Fallbericht zeigt damit nicht nur die Gefahren leichter Zugänglichkeit großer Mengen hochkonzentrierten Koffeins auf, sondern belegt auch die Wichtigkeit umfangreicher und nicht nur standardmäßiger toxikologischer Analysen für die hypothesengestützte Todesursachenbestimmung bei inkonklusivem Obduktionsergebnis.
________
Referenzen:
[1] Bonsignore A, Sblano S, Pozzi F, Ventura F, Dell’Erba A, & Palmiere C (2014). A case of suicide by ingestion of caffeine. Forensic science, medicine, and pathology, 10 (3), 448-51 PMID: 24771479
[2] Hoyte, Christopher O., Donald Albert, and Kennon J. Heard. “The use of energy drinks, dietary supplements, and prescription medications by United States college students to enhance athletic performance.” Journal of community health 38.3 (2013): 575-580.
[3] Sepkowitz, Kent A. “Energy drinks and caffeine-related adverse effects.” Jama 309.3 (2013): 243-244.
[4] Winek, C. L., et al. “Caffeine fatality: a case report.” Forensic science international 29.3 (1985): 207-211.
[5] Riesselmann, B., et al. “Fatal caffeine intoxication.” Forensic science international 103 (1999): S49-S52.
[6] Holmgren, Per, Lotta Nordén-Pettersson, and Johan Ahlner. “Caffeine fatalities—four case reports.” Forensic science international 139.1 (2004): 71-73.
[7] Jabbar, Seema B., and Mark G. Hanly. “Fatal caffeine overdose: a case report and review of literature.” The American journal of forensic medicine and pathology 34.4 (2013): 321-324.
Kommentare (8)