Warum man dann nicht gleich immer die mtDNA für forensische Analysen untersucht? Das hat zunächst rein praktische Gründe: eine Sequenzierung ist aufwendiger, schwieriger und teurer als eine STR-Analyse. Die mtDNA hat zudem entscheidende Nachteile, die ihre forensische Brauchbarkeit deutlich einschränkt: sie ist ein Haplotyp, d.h. sie wird, so wie sie ist, sozusagen en bloc, weitervererbt, ohne daß Rekombination stattfindet und somit die für die enorme Diskriminierungsfähigkeit der STR-DNA-Profile erforderliche kombinatorische Vielfalt entstehen kann. Außerdem wird sie stets und ausschließlich über die mütterliche Linie vererbt: die Kinder einer Mutter erhalten immer das komplette mitochondriale Genom der Mutter, die mtDNA des Vaters wird nie vererbt*. Das bedeutet, daß alle Personen, die in mütterlicher Linie verwandt sind, theoretisch die gleiche mtDNA-Sequenz haben, was eine forensische Ermittlung erheblich erschweren kann, wenn für eine Tat beispielsweise auch der Bruder und/oder die Schwester eines Tatverdächtigen in Frage kommt, man aber nur das mtDNA-Profil als Vergleichsbasis hat. Hier ein Beispiel aus einem hypothetischen Mordfall:
Aber selbst wenn nur eine einzige Person in Frage kommt und ihr mtDNA-Profil mit demjenigen aus der Spur an einer Mordwaffe übereinstimmt, besteht immer noch die Möglichkeit, daß die Übereinstimmung zufällig ist, weil manche mtDNA-Haplotypen sogar relativ häufig in der Bevölkerung bzw. bestimmten Subpopulationen vorkommen. Daher ist die mtDNA in forensisch-genetischen Ermittlungen immer eher ein letzter Rettungsanker, kann aber immerhin sicher den Ausschluß einer verdächtigen Person von der Täterschaft begründen, wenn deren mtDNA-Profil nämlich von dem eines entscheidenden Asservates eindeutig abweicht.
Aber auch in der Abstammungsbegutachtung, einer weiteren Routinedisziplin der forensischen Genetik, kann die mtDNA nützlich sein, indem man mit ihr eine mütterliche Linie verfolgen kann. Das kann hilfreich sein, wenn man es mit komplexeren als den üblichen Fragestellungen etwa nach der Vaterschaft eines Mannes zu einem Kind zu tun hat. Ein Beispiel für eine solche wären zwei Menschen, die wissen wollen, ob sie Halbgeschwister sind und von derselben Mutter abstammen oder unverwandt sind. Mit den standardmäßig verwendeten STR-Systemen gelangt man in solchen Fällen häufig nicht zu einer befriedigenden Antwort. Bezieht man die mtDNA ein, erhält man bei nicht übereinstimmenden Profilen einen sicheren Ausschluss einer gemeinsamen Mutter und bei übereinstimmenden Profilen einen weiteren mehr oder weniger starken Hinweis auf eine Halbgeschwisterschaft. Wie stark der Hinweis ist, hängt von der Seltenheit des gemeinsamen mtDNA-Haplotypen ab, die man unter Zurateziehung öffentlicher Datenbanken wie EMPOP ermitteln oder aber zumindest abschätzen kann.
Ein weiteres Beispiel für eine komplexe Abstammungsbegutachtung wäre folgendes: Eine Großmutter “X” möchte wissen, ob ihre Enkelin “Z” von ihrer Tochter “A”, die sie mit einem anderen Mann als ihren Sohn “Y” gezeugt hat und die demnach eine Halbschwester von “Y” ist, abstammt oder von “B”, die mit ihr, der Großmutter zwar unverwandt, jedoch eine Halbschwester von “Y” ist und mit diesem einen gemeinsamen Vater hat. Weder A noch B sind jedoch verfügbar für einen Test und da die Beteiligten zu einer sehr kleinen, nach außen quasi isolierten ethnischen Gruppe gehören, die Verhältnisse in dieser Familie sehr “unübersichtlich” sind und laut Y durchaus auch B als Mutter von Z in Frage kommt, ist das auf STR-Systemen beruhende Ergebnis der Begutachtung, in die nur X, Y und Z einbezogen wurden, nicht zufriedenstellend.
Hier kann die mtDNA helfen: wenn Z wirklich über A von X abstammt, muß Z eine identische mtDNA wie X haben. Dies war nicht der Fall, also konnte A als Mutter ausgeschlossen werden. Aber auch für Fragestellungen, die über konkrete Abstammungsverhältnisse weit hinaus gehen und die Genealogie über zahlreiche Generationen betreffen, spielt die mtDNA eine wichtige Rolle. So kann mtDNA-Haplotypen so weit zurückverfolgen, daß man sogar von einer mitochondrialen Eva spricht.
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