Kürzlich erst habe ich berichtet, wie die forensische Genetik dazu dienen kann, unschuldig Verurteilte zu entlasten. In jenem Fall war ein Mann aufgrund gefälschter Beweise und einer lausigen forensischen Analyse von Blutspuren unschuldig zum Tode verurteilt worden. In der Tat sind in vielen forensischen Laboren Menschen die wichtigsten Analyseinstrumente, daher gründen solche Fehlurteile selten auf technischem Versagen und oft auf menschlichen Fehlern, z.B. der Voreingenommenheit forensischer Analytiker, und während die Geräte und Technologien immer besser und genauer werden und meßtechnische Rückführung und lückenlose Fehlerverfolgung in jedem guten, akkreditierten forensischen Labor etabliert sein müssen, kommt die Schulung des Personals hinsichtlich der Vielfalt und des Einflusses kognitiver Verzerrungen auf ihr Urteilsvermögen oft viel zu kurz. Mögliche Folgen sind dann Skandale, wie der gerade bekannt gewordene beim FBI, das eigentlich über hervorragende forensische Labors und hohe Standards verfügt:
Die Rede ist von einem der größten Justizskandale der US-Geschichte: Jahrzehntelang lieferte das FBI den Gerichten falsche Haaranalysen und half so mit, dass womöglich Hunderte Angeklagte nicht nur unschuldig hinter Gittern landeten – sondern in vielen Fällen sogar hingerichtet wurden. […] Fast jeder forensische FBI-Fahnder habe “in fast allen Prozessen fehlerhaft ausgesagt”, zitiert die “Washington Post” erste Erkenntnisse des Berichts. So hätten in 257 der 268 bisher untersuchten Prozesse 26 von 28 Experten des FBI-Labors Haarvergleiche zugunsten der Anklage “überbewertet”. […] In 32 Fällen hätten die Gerichte anschließend Todesstrafen verhängt. 14 Verurteilte seien bereits hingerichtet worden oder im Todestrakt verstorben – davon allein fünf in Texas. (Spiegel Online, 20.04.2015)
Wichtig ist mir hier, zu betonen, daß es sich bei diesen Haaranalysen nicht um DNA-basierte sondern um mikroskopische Untersuchungen und Vergleiche zwischen an Tatorten gefundenen Haaren mit solchen von Tatverdächtigen handelt. Es gibt nicht und gab nie wirklich belastbare wissenschaftliche Evidenz für die Genauigkeit und vor allem den Fehlerbereich dieser Methode, bei der ja ein menschlicher Untersucher mit dem Auge wahrgenommene Strukturmerkmale vergleichen und ein Maß an Ähnlichkeit feststellen muß. Wer um die Vielzahl der kognitiven Verzerrungen weiß, denen jeder Mensch – auch unterbewußt – unterliegen kann sowie um die erhebliche Neigung, Urteilsheuristiken zu bilden, die extrem anfällig für äußere Einflüsse sind, der kann nur fassungslos zur Kenntnis nehmen, wie unkritisch die Aussagen solcher Haaranalytiker entgegengenommen wurden. Insofern ist das Geschehene zum Teil auch eine Folge des CSI-Effekts, der dazu führt, daß sich Gerichte zu ausschließlich auf forensische Befunde stützen und zu unkritisch auf die Unfehlbarkeit der Urteile menschlicher Forensiker vertrauen.
Dabei ist dieses Problem keineswegs unbekannt oder unerforscht [2-8] und bereits 2009 hatte die NAS eine scharfe Kritik an verschiedenen forensischen Analyseverfahren veröffentlicht [1], darunter die Haaranalyse, die als völlig unzureichend für die Identifikation eines Tatverdächtigen eingeschätzt wurde. So heißt es im Abschnitt zu „ANALYSIS OF HAIR EVIDENCE“:
Die Ergebnisse von Haarvergleichsanalysen werden typischerweise nur als Klassenassoziationen angenommen; das heißt, die Schlußfolgerung einer “Übereinstimmung” bedeutet lediglich, daß das Haar von einer Person gekommen sein könnte, deren Haar – innerhalb eines Bereichs von Meßunsicherheit – die gleichen mikroskopischen Charakteristika aufweist, aber sie steht nicht für die Identifikation einer einzelnen Person. Dennoch kann diese Information nützlich sein, um die Menge der Verdächtigen zu reduzieren, indem bestimmte Personen aufgrund der Ergebnisse daraus ausgeschlossen werden können. […]
Es gibt keine wissenschaftlich anerkannte Statistik über die Häufigkeit, mit der bestimmte Haarmerkmale in der Bevölkerung/Population vorkommen. Es scheint zudem keinen allgemein gültigen Standard für die Mindestanzahl von Merkmalen zu geben, die Haare gemeinsam haben müssen, ab der ein Untersucher eine “Übereinstimmung” feststellen darf. […]
In Fällen, in denen es eine morphologische Übereinstimmung von Haaren zu geben scheint (, die mikroskopisch festgestellt wurde), muß diese durch mtDNA-Analyse bestätigt werden; mikroskopische Untersuchungen allein sind nur von eingeschränkter Aussagekraft.
(Übersetzung und Hervorhebung von CC)
Hätte man sich an diese Empfehlungen gehalten, hätten erstens seitens der Ermittler nie so starke Aussagen auf die Haaranalysen begründet werden dürfen, zweitens alle qua Haaranalysen festgestellten Übereinstimmungen mittels DNA-Analyse bestätigt werden müssen und drittens, denn auch Richter hätten die NAS-Empfehlungen kennen sollen, keine Urteile auf Identifikationen durch Haaranalysen begründet werden dürfen. Das ganze wäre also von vorneherein völlig vermeidbar gewesen, hätte mangelnde Kompetenz nicht zur Überschätzung der eigenen Kompetenz geführt [9] und die 14 bereits vollstreckten Todesurteile sind ohne jede Abschwächung als Justizmorde aus Fahrlässigkeit zu bezeichnen!
Solange Menschen an forensischen Ermittlungen beteiligt sind, wird es in diesen Ermittlungen zu Fehlern kommen. Solange es theoretisch zu Fehlern kommen kann, die nachträglich entdeckt und korrigiert werden können, darf kein Urteil mit endgültigen Folgen darauf gegründet werden. Dieses einfache (wenngleich nicht einzige) Argument sollte für jeden vernünftigen und nicht völlig verrohten Menschen ausreichen, um die sofortige und weltweite Abschaffung der Todesstrafe zu befürworten.
Nicht einmal die DNA-Analyse, die eigentlich als forensischer „Goldstandard“ gilt, ist immun gegen Fehler: beispielsweise eröffnet die Analyse von Mischspuren (eines der kompliziertesten Probleme in der DNA-Analytik) größeren Spielraum bei der Interpretation und Dror und Hampikian konnten zeigen, daß kognitive Verzerrung in Form des „contextual bias“, also die vorherige Kenntnis kontextueller Informationen, auf die Interpretation einer solchen Spur einen erheblichen Einfluss haben kann [10]. Als DNA-Analytiker muß ich mir dessen bewußt sein, bin ich aber dennoch froh, daß die forensische Untersuchung, die meine tägliche Arbeit darstellt, die am wenigsten fehlerbehaftete bzw. „elastische“ [11] ist und sogar herangezogen wird, um die Ergebnisse anderer Methoden zu überprüfen bzw. sogar nachträglich zu verwerfen (s. Innocence-Projekt). Im NAS-Bericht heißt es dazu:
Mit Ausnahme der Analyse nukleärer DNA konnte bisher für keine einzige forensische Untersuchungsmethode unter strengen Anforderungen nachgewiesen werden, daß sie konsistent und mit einem hohen Grad an Sicherheit eine Verbindung zwischen Beweismaterial und einem spezifischen Individuum bzw. einer Quelle belegen kann. […] Neue Zweifel an der Genauigkeit einiger forensischer Praktiken sind im Zuge der steigenden Anzahl DNA-basierter Entlastungen Unschuldiger (und der konkomitanten Erkenntnis, daß viele Schuldige noch frei sind) entstanden. Die Ansprüche an präzise forensisch-wissenschaftliche Beweisführung, die durch DNA-Untersuchungen stark erhöht wurden, erzwingen nun eine eingehende Prüfung anderer forensischer Techniken. (Übersetzung CC)
Wie bereits angedeutet, besteht ein grundsätzliches Problem darin, daß forensische Untersuchungsmethoden, die (in hohem Maß) auf der Interpretation eines Experten beruhen, besonders fehleranfällig sind (eben wie ein Mensch). Einzuräumen, daß der größte Schwachpunkt in einem Analyseverfahren sie selbst sind, kratzt jedoch an der Eitelkeit mancher Untersucher und die für wissenschaftliche Arbeit unerlässliche aber auch für die Routineforensik zu fordernde Bereitwilligkeit, eigene Annahmen und Hypothesen im Lichte neuer bzw. gegenläufiger Evidenz zu verwerfen, ist nicht bei allen Menschen gleich ausgeprägt. Erschwert wird das Problem noch durch einen verbreiteten Verleugnungsreflex: die Annahme, daß einem selbst keine Fehler unterlaufen und man gefeit vor kognitiver Verzerrung sei, ist selbst eine kognitive Verzerrung. Hier hilft nur, die Existenz und Auswirkungen kognitiver Verzerrung durch regelmäßige Schulungen und Fortbildungen bewußt zu machen und zu halten und auf technischer, personeller aber auch organisatorischer und institutioneller Ebene Maßnahmen zu ergreifen, die Fehler zwar vermeiden, aber auch entdecken können und dann eine Offenlegung und Diskussion ermutigen.
In meinen Augen ist es daher grundfalsch, wenn Forensiker diesen CSI-konformen, populär-medialen Nimbus der Unfehlbarkeit kultivieren und am Ende sogar selbst darauf hereinfallen [9]. Wie gefährlich das sein kann, zeigt (nicht nur) der aktuelle Skandal. Es ist aber auch überhaupt nicht nötig: ich finde nicht, daß das wichtige Vertrauen in die Forensik(er) erschüttert oder ihre Bedeutung für Strafverfolgung und Rechtsprechung geschmälert wird, wenn wir offen einräumen, daß wir genauso anfällig für Fehler sind, wie andere Menschen auch. Da unsere Gutachten aber von besonders großer Tragweite sein und besonders schwere Folgen für andere Menschen haben können, müssen wir in unseren Methoden die Einflussmöglichkeit menschlicher Fehler, deren neuronale und psychologische Grundlagen wir kennen sollten, so gering wie möglich halten, Systeme zur Aufspürung und Nachverfolgung von Fehlern einrichten und mit unseren Abläufen untrennbar verflechten und bei der Bericht- und Gutachtenerstattung immer und grundsätzlich auf die Grenzen der Aussagekraft sowie die Fehlerbereiche der jeweils angewandten Methoden verweisen. Und da Angst vor Fehlern nicht mit der Vermeidung von Fehlern korreliert, ist es entscheidend, eine Fehler-Kultur zu etablieren, in der Fehler konsequent und offen aber ohne Angst kommuniziert und nachverfolgt werden können und in der die Vertuschung eines Fehlers, die viel schlimmer ist, als der Fehler selbst, von niemandem als notwendig empfunden wird.
Irren ist menschlich, aber auf Irrtümern zu beharren ist teuflisch.
_____
Referenzen:
[1] Committee on Identifying the Needs of the Forensic Sciences Community; Committee on Science, Technology, and Law; Committee on Applied and Theoretical Statistics; Policy and Global Affairs; Division on Engineering and Physical Sciences; National Research Council. “Strengthening Forensic Science in the United States: A Path Forward (2009)”
[2] Kassin, S. M., Dror, I. E., & Kukucka, J. (2013). The forensic confirmation bias: Problems, perspectives, and proposed solutions. Journal of Applied Research in Memory and Cognition, 2(1), 42-52.
[3] Dror, I. E., Kassin, S. M., & Kukucka, J. (2013). New application of psychology to law: improving forensic evidence and expert witness contributions. Journal of Applied Research in Memory and Cognition, 2(1), 78-81.
[4] Ditrich, H. (2015). Cognitive fallacies and criminal investigations. Science & Justice.
[5] Dror, I. (2012), Letter to the Editor—Combating Bias: The Next Step in Fighting Cognitive and Psychological Contamination. Journal of Forensic Sciences, 57: 276–277. doi: 10.1111/j.1556-4029.2011.01940.x
[6] Dror, I. (2013). The ambition to be scientific: Human expert performance and objectivity. Science and Justice, 53(2), 81-82.
[7] Busey, T. A., & Loftus, G. R. (2007). Cognitive science and the law. Trends in cognitive sciences, 11(3), 111-117.
[8] Saks, M. J., Risinger, D. M., Rosenthal, R., & Thompson, W. C. (2003). Context effects in forensic science: A review and application of the science of science to crime laboratory practice in the United States. Science & Justice, 43(2), 77-90.
[9] Kruger, J., & Dunning, D. (1999). Unskilled and unaware of it: how difficulties in recognizing one’s own incompetence lead to inflated self-assessments. Journal of personality and social psychology, 77(6), 1121.
[10] Dror, I. E., & Hampikian, G. (2011). Subjectivity and bias in forensic DNA mixture interpretation. Science & Justice, 51(4), 204-208.
[11] Ask, K., Rebelius, A., & Granhag, P. A. (2008). The ‘elasticity’of criminal evidence: A moderator of investigator bias. Applied Cognitive Psychology, 22(9), 1245-1259.
Kommentare (26)