Ein zentral wichtiges Element des Buches ist auch die faktenbasierte und sehr gut belegte Dekonstruktion des uns allen geläufigen und gesellschaftlich sanktionierten Narrativs von Drogen, Drogensucht und wie sie entsteht und Drogensüchtigen mit ihrem vermeintlich reduzierten Wert als Menschen und ihrer angeblichen Unfähigkeit zu Beitrag zur und Partizipation an der Gesellschaft. Dafür hat er mit zahlreichen Wissenschaftlern, Forschern, Soziologen, Sozialarbeitern und -aktivisten gesprochen, die ihm die wichtigen Mosaiksteine für ein neues, realistisches Bild von Drogen, Drogensucht und -süchtigen lieferten. Ich nenne hier nur ein wichtiges von zahlreichen Beispielen: “Rat Park“. Hari läßt sich von Bruce Alexander erklären, warum nicht die biochemischen Eigenschaften von Heroin (oder letztlich einer anderen Droge) ein Lebewesen, gleich ob Affe, Ratte oder Mensch, süchtig machen, sondern daß (soziale) Isolation und Einsamkeit für die Sucht vulnerabel machen und daß damit die derzeit gängige Drogenpolitik, die eine Ausgrenzung, Entmenschlichung, Isolation und Stigmatisierung Süchtiger sanktioniert, das Problem der Sucht nur verschlimmert.
Ein bedeutender und erhellender Teil von Haris Dekonstruktion ist deshalb auch die Untersuchung von Ländern und Systemen, darunter Portugal und die erzkonservative Schweiz, die bereits mit Entkriminalisierung bzw. Legalisierung (nicht identisch) von Drogen experimentiert und gute Erfolge zu verzeichnen haben. Hari spricht dafür mit Menschen, die am Aufbau der Programme beteiligt waren, mit solchen, die davon profitier(t)en und dadurch wieder ein normales Leben führen können und mit solchen, z.B. dem “sehr konservativen” (Selbsteinschätzung) Polizisten und Chef des Lissabonner Drogendezernates João Figueira, die zuerst dagegen waren sich aber, konfrontiert mit dem nicht zu bezweifelnden Erfolg der Strategie, eines anderen besannen. Besonders interessant fand ich auch die Gegenüberstellung der politischen Strategien zur Legalisierung von Cannabis in den Bundesstaaten Colorado und Washington der USA, einem Land, in dem Minderjährige für 20 Jahre zu Mördern und Vergewaltigern ins Gefängnis müssen, weil sie mit ein paar Gramm Dope erwischt wurden, einem Land, in dem prozentual mehr Schwarze vornehmlich wegen Drogendelikten im Gefängnis sitzen, als in Südafrika zu Zeiten der Apartheid, einem Land, in dem Schwerstkriminelle vor Ablauf ihrer Haftstrafe auf freien Fuß gesetzt werden, um in den überfüllten Gefängnissen Platz für 17-jährige, kiffende Schüler zu schaffen. In Colorado beruhte die Argumentation auf einer Gegenüberstellung von Marihuana und Alkohol und der Tatsache, daß Alkohol schädlicher und gefährlicher ist als THC. In Washington hingegen stellte man auf die Ungerechtigkeit und völlige Unzulänglichkeit bestehender Drogengesetze ab und argumentierte mit den Steuereinnahmen und den davon zu finanzierenden gesundheitsfördernden Programmen, die eine reglementierte Abgabe von THC bewirken würden. In beiden Staaten hat die Strategie funktioniert und kann THC nun legal erworben werden.
Im Zusammenhang mit der Beschreibung dieser ersten Ansätze zur Abschaffung der Totalprohibition und den Gesprächen, die er führte, legt Hari nicht nur die objektiven Zahlen und Fakten vor, die den Erfolg der Maßnahmen dokumentieren, sondern geht auch auf die Argumente und Ängste der Kritiker und vielleicht manche eines Lesers ein. Z.B. auf die Frage, ob eine Legalisierung nicht den Drogenkonsum erhöhen würde und wie Kinder davor geschützt werden können. Er tut diese Ängste nicht ab, sondern nimmt sie ernst, indem er zugibt, einige davon selbst zu teilen bzw. geteilt zu haben, aber er zeigt auch auf, daß die bisherigen Entwicklungen die Befürchtungen nicht bestätigen.
“Ich habe aufgehört, einen Krieg gegen die Drogen in meinem eigenen Kopf zu führen. Ich bin mir bewußt – jetzt mehr denn je – daß das ein Privileg ist, das ich genieße, weil ich ein weißer Zugehöriger der Mittelklasse bin und in einer Ecke Westeuropas lebe, wo Leute wie ich die schlimmsten Auswirkungen des Kriegs gegen die Drogen nicht voll abbekommen. Ich denke immer an die all die Leute, die ich getroffen habe, die wegen ihrer Hautfarbe oder weil sie am falschen Ort zur Welt kamen, nicht in den Genuß dieses Privilegs kommen. Das ist nicht richtig. Es sollte nicht so sein – und das muß es auch nicht.”
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