Oder: die ersten und die letzten Tage des Kriegs gegen die Drogen
Durch eine dringende Empfehlung bin ich auf Johann Haris Buch „Chasing the Scream“ aufmerksam geworden. Hari befaßt sich darin mit dem weltweit geführten Krieg gegen die Drogen und seinen Folgen, einem Thema, mit dem ich als Totalabstinenzler eigentlich keine nennenswerten Berührungspunkte hatte und das ich nur so mittelinteressant fand. Dachte ich. Und ich lag völlig falsch: Hari bringt zwingt ungemein eindringlich zu Bewußtsein und belegt nebenher sehr solide (ca. 70 Seiten Anmerkungen und Bibliographie), daß so gut wie alles, was die allermeisten über Drogen, Drogensucht und –süchtige und die Ursprünge der fast weltweiten Drogenprohibition und ihren Folgen zu wissen meinen, grundfalsch ist. Diese Erkenntnis, die einen während des Lesens immer wieder kalt erwischt und derer man sich nicht zu erwehren vermag sowie die damit einhergehende Notwendigkeit, seine eigenen, vermeintlich vernünftigen und vielleicht jahrelang gehaltenen Annahmen über Bord zu werfen, verstören und faszinieren im gleichen Maße. Immer wieder, während ich las, fragte ich mich: „Warum weiß das keiner?!“
Doch der Reihe nach: Das Buch ist hervorragend geschrieben und erzählt und ich habe es regelrecht verschlungen. Dazu trägt auch die brillante Stilistik und sein kongenialer Aufbau bei: Um die Exponenten zu verdeutlichen, zwischen denen sich das Netz des Kriegs gegen die Drogen aufspannte, unter dessen Ägide wir alle aufgewachsen sind, skizziert Hari zunächst die Geschichten von Harry Anslinger, dem Begründer dieses Kriegs, auf der einen und Arnold Rothstein, dessen erstem großen Profiteur und Marketender, auf der anderen Seite. Dabei arbeitet er sehr überzeugend heraus, wie, ganz analog zur mit Wucht gescheiterten Alkoholprohibition, ideologischer Fanatismus und im Falle Anslingers zudem unverhohlener Rassismus statt rationale und auf Belege gestützte Gründe die Ursache der Drogenprohibition waren und daß die einzigen, die wirklich von einer Prohibition profitieren, gewissenlose Verbrecher wie früher Rothstein und heute vor allem die mächtigen Drogenkartelle sind. Hari führt dem Leser aber auch das erste prominente und besonders tragische Opfer des Kriegs vor Augen, die überragende und heroinsüchtige Jazzsängerin Billie Holiday, die, von Anslinger gehasst und verfolgt, im Jahre 1959 in einem Krankenhaus unter unmenschlichen Bedingungen an den Folgen von Krankheit und Entzugserscheinungen verstarb.
Um die Auswirkungen der Drogenprohibition in ihrer Breite und Tiefe zu verstehen, führte Hari für sein Buch eine Reihe von Interviews mit zum Teil absolut faszinierenden Personen, die jede für sich auf ihre Weise mit dem Krieg gegen die Drogen in Kontakt kam. Darunter sind die heute noch lebenden Freunde von Billie Holiday, die ihre Verfolgung und ihren elenden Tod miterlebten, ein jüdischer Arzt, der als Baby nur knapp das Budapester Ghetto überlebte und heute mit Süchtigen arbeitet, um zu verstehen, was sie süchtig macht, ein transsexueller ehemaliger Crackdealer, dessen ganzes Leben, einschließlich seiner Zeugung bei der Vergewaltigung seiner cracksüchtigen Mutter durch einen Polizisten vom Drogendezernat, durch diesen Krieg bestimmt wurde und José Mujica, der, bevor er Präsident von Uruguay wurde und erste Schritte zu einer Legalisierung von Drogen unternahm, als Opfer einer Diktatur jahrelang auf dem Grund eines Brunnens gefangen gehalten worden war. (Die Interviews kann man im Originalklang auf Haris Homepage anhören.)
Hari wechselt geschickt die Perspektiven zwischen der Erzählung aus den Augen seiner Protagonisten und Interviewpartner, der Darlegung von Fakten und Studienergebnissen und seiner eigenen Innenwelt und oft ringt er dabei mit sich selbst, beschreibt, wie sich seine neuen, empirisch begründeten Einsichten und Erkenntnisse langsam gegen die zähen, jahrelang eingeprägten und gesellschaftlich konformen Vorurteile in seiner eigenen Anschauung durchsetzen und seine mitfühlenden, zutiefst menschlichen und niemals verurteilenden Schilderungen, die auch seinen Umgang mit seinem eigenen, drogensüchtigen Ex-Partner umfassen, haben mich berührt und begeistert.
Das Buch ist zwischendurch nur schwer zu ertragen, wenn Hari beispielsweise von Marsha berichtet, einer Amerikanerin, die, wegen bagatellhaften Drogenbesitzes inhaftiert, bei lebendigem Leib von noch heute Dienst tuenden texanischen Gefängniswärtern in einem Käfig in der glühenden Wüstensonne ausgesetzt und dort regelrecht „zu Tode gekocht“ wurde oder von Rosalio, den Hari im Gefängnis interviewt hat und der in einem Trainingscamp zum Soldaten und Mörder für ein mexikanisches Drogenkartell ausgebildet wurde und berichtet, daß die sich windenden und schlängelnden Nerven und Sehnen, die sichtbar werden, wenn man einem Menschen den Kopf absägt (auch darin wurde er geschult), aussehen, „als hätte er Würmer“, oder vom Abschreckungswettrüsten der Drogenkartelle, die ihren Widersachern bei lebendigem Leib das Gesicht abschneiden, auf einen Fußball nähen und diesen deren Familien vor die Tür legen. Diese grauenhaften Bilder und Szenen, das macht Hari unmißverständlich klar, sind allesamt Folgen der Drogenprohibition, der damit einhergehenden Beurteilung und Behandlung Süchtiger als untermenschliche Kriminelle sowie des ebenso unausweichlichen wie unfaßbar brutalen Kriegs um den größten Profit beim Drogenhandel.
Ein zentral wichtiges Element des Buches ist auch die faktenbasierte und sehr gut belegte Dekonstruktion des uns allen geläufigen und gesellschaftlich sanktionierten Narrativs von Drogen, Drogensucht und wie sie entsteht und Drogensüchtigen mit ihrem vermeintlich reduzierten Wert als Menschen und ihrer angeblichen Unfähigkeit zu Beitrag zur und Partizipation an der Gesellschaft. Dafür hat er mit zahlreichen Wissenschaftlern, Forschern, Soziologen, Sozialarbeitern und -aktivisten gesprochen, die ihm die wichtigen Mosaiksteine für ein neues, realistisches Bild von Drogen, Drogensucht und -süchtigen lieferten. Ich nenne hier nur ein wichtiges von zahlreichen Beispielen: “Rat Park“. Hari läßt sich von Bruce Alexander erklären, warum nicht die biochemischen Eigenschaften von Heroin (oder letztlich einer anderen Droge) ein Lebewesen, gleich ob Affe, Ratte oder Mensch, süchtig machen, sondern daß (soziale) Isolation und Einsamkeit für die Sucht vulnerabel machen und daß damit die derzeit gängige Drogenpolitik, die eine Ausgrenzung, Entmenschlichung, Isolation und Stigmatisierung Süchtiger sanktioniert, das Problem der Sucht nur verschlimmert.
Ein bedeutender und erhellender Teil von Haris Dekonstruktion ist deshalb auch die Untersuchung von Ländern und Systemen, darunter Portugal und die erzkonservative Schweiz, die bereits mit Entkriminalisierung bzw. Legalisierung (nicht identisch) von Drogen experimentiert und gute Erfolge zu verzeichnen haben. Hari spricht dafür mit Menschen, die am Aufbau der Programme beteiligt waren, mit solchen, die davon profitier(t)en und dadurch wieder ein normales Leben führen können und mit solchen, z.B. dem “sehr konservativen” (Selbsteinschätzung) Polizisten und Chef des Lissabonner Drogendezernates João Figueira, die zuerst dagegen waren sich aber, konfrontiert mit dem nicht zu bezweifelnden Erfolg der Strategie, eines anderen besannen. Besonders interessant fand ich auch die Gegenüberstellung der politischen Strategien zur Legalisierung von Cannabis in den Bundesstaaten Colorado und Washington der USA, einem Land, in dem Minderjährige für 20 Jahre zu Mördern und Vergewaltigern ins Gefängnis müssen, weil sie mit ein paar Gramm Dope erwischt wurden, einem Land, in dem prozentual mehr Schwarze vornehmlich wegen Drogendelikten im Gefängnis sitzen, als in Südafrika zu Zeiten der Apartheid, einem Land, in dem Schwerstkriminelle vor Ablauf ihrer Haftstrafe auf freien Fuß gesetzt werden, um in den überfüllten Gefängnissen Platz für 17-jährige, kiffende Schüler zu schaffen. In Colorado beruhte die Argumentation auf einer Gegenüberstellung von Marihuana und Alkohol und der Tatsache, daß Alkohol schädlicher und gefährlicher ist als THC. In Washington hingegen stellte man auf die Ungerechtigkeit und völlige Unzulänglichkeit bestehender Drogengesetze ab und argumentierte mit den Steuereinnahmen und den davon zu finanzierenden gesundheitsfördernden Programmen, die eine reglementierte Abgabe von THC bewirken würden. In beiden Staaten hat die Strategie funktioniert und kann THC nun legal erworben werden.
Im Zusammenhang mit der Beschreibung dieser ersten Ansätze zur Abschaffung der Totalprohibition und den Gesprächen, die er führte, legt Hari nicht nur die objektiven Zahlen und Fakten vor, die den Erfolg der Maßnahmen dokumentieren, sondern geht auch auf die Argumente und Ängste der Kritiker und vielleicht manche eines Lesers ein. Z.B. auf die Frage, ob eine Legalisierung nicht den Drogenkonsum erhöhen würde und wie Kinder davor geschützt werden können. Er tut diese Ängste nicht ab, sondern nimmt sie ernst, indem er zugibt, einige davon selbst zu teilen bzw. geteilt zu haben, aber er zeigt auch auf, daß die bisherigen Entwicklungen die Befürchtungen nicht bestätigen.
“Ich habe aufgehört, einen Krieg gegen die Drogen in meinem eigenen Kopf zu führen. Ich bin mir bewußt – jetzt mehr denn je – daß das ein Privileg ist, das ich genieße, weil ich ein weißer Zugehöriger der Mittelklasse bin und in einer Ecke Westeuropas lebe, wo Leute wie ich die schlimmsten Auswirkungen des Kriegs gegen die Drogen nicht voll abbekommen. Ich denke immer an die all die Leute, die ich getroffen habe, die wegen ihrer Hautfarbe oder weil sie am falschen Ort zur Welt kamen, nicht in den Genuß dieses Privilegs kommen. Das ist nicht richtig. Es sollte nicht so sein – und das muß es auch nicht.”
J. Hari in “Chasing the Scream” (Übersetzung CC)
FAZIT:
- Die allgemeine Auffassung und die darauf basierende Politik und Gesetzgebung zu Drogen, Drogensucht und Drogensüchtigen in den meisten Ländern der Welt ist falsch.
- Der „Krieg gegen die Drogen“ wurde federführend von einem einzelnen traumatisierten Heuchler und Rassisten entfesselt und wurde und wird noch heute aus völlig anderen Gründen geführt, als wir glauben (sollen). Er hat über 100 Jahre Zigtausende Menschenleben gekostet, dabei unaussprechliches Leid und Elend verursacht und muß endlich und endgültig als katastrophal gescheitert angesehen werden.
- Die Abschaffung des Kriegs gegen die Drogen wird weder die Zivilisation ins Chaos stürzen, noch ist sie ein Gefallen für Süchtige oder eine liberale Schnapsidee, sondern sie wäre im Sinne von Sicherheit und Schutz der Bevölkerung, Verbrechensbekämpfung, Reglementierung und Beteiligung des Staats durch Steuereinnahmen ein zutiefst konservatives Ziel.
- Ich bin überzeugt, daß jede/r dieses Buch lesen sollte!
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Nachtrag am 10.09.2015: Das Buch wird ab November auch auf Deutsch erhältlich sein.
Nachtrag am 06.10.2015: Wer aktuell eine filmische Umsetzung der Auswirkungen der Drogenprohibition in Form der Kartellkriminalität und deren Bekämpfung im US-grenznahen Mexico, v.a. der Stadt Juarez sehen möchte, sollte sich “Sicario” (gerade im Kino, mit tollen Schauspielern) ansehen.
Die Bilder und die Stimmung im Moloch Juarez sind wirklich überaus beklemmend und ich glaube, daß die Düsternis dieses Films (man beachte auch den Soundtrack, der Trailer beginnt mit diesem signaturhaften, tiefen, unheilvollen Ton) einschließlich der emotionalen Verwahrlosung einiger seiner Protagonisten schmerzhaft nahe an einer lokalen Realität sind, die einem westeuropäischen Beobachter furchteinflössend und völlig surreal vorkommt.
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Links:
Die Möglichkeit, sich an der Bekämpfung der Drogenprohibtion zu beteiligen
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