Über zwei Monate ist es nun her, daß ich meinen Arbeitsplatz nach Kiel verlagert habe und meine Befürchtung, aus Zeitmangel gar nicht mehr zum Schreiben zu kommen, hat sich nicht bewahrheitet, denn ich habe die freie Zeit an den Abenden unterschätzt, die ich ja nicht, wie noch daheim, mit sozialer Interaktion füllen kann.
Inzwischen hat sich viel getan: die Eingewöhnungszeit ist eigentlich ganz gut bewältigt, ich kenne schon viele Namen und viele kennen uns, das RNA-Labor ist eingerichtet, die Anschaffung neuer Geräte ist im Gange, ich schreibe fleißig Gutachten, Paper und Anträge, unterrichte nebenbei und versuche, angesichts der opulenten Messen in Krach-Moll, die die Monsterbaustelle auf dem Campus(rest) hier täglich zelebriert, nicht die Nerven zu verlieren. Was nicht immer so leicht ist, wenn es im Büro ungefähr so laut ist, wie in einem laufenden Antonov-Düsentriebwerk, in dem gerade Motörhead auftritt.
Zu allem Überfluss hat man direkt vor meinem Fenster offenbar diejenigen Bauarbeiter postiert, die, wie soll ich sagen, vermutlich „besonders begabt“ sind und daher gesondert beschäftigt werden müssen: daraufhin, und ich übertreibe und erfinde nichts, haben sie mehrfach (!) die Gehwegplatten vor meinem Fenster und entlang der Gebäudeseite abgeräumt, den Boden akribisch mit einer dieser monströs lauten Rüttelplatten planiert und die Gehwegplatten wieder hingelegt. Zwischendurch haben sie einen Holzzaun gebaut (Zweck unbekannt) und wieder von vorne mit Gehwegplatten ab- und hinräumen und zwischendurch planieren angefangen.
Jedesmal, wenn sie diese Monstrosität auf- und abschieben, ist es nicht nur irre laut, sondern der ganze Boden vibriert, so daß ich zwar einen angenehmen Massageeffekt auf meinem Stuhl verspüre, andererseits aber auch besorgt an unsere empfindlichen Geräte denke und hoffe, daß die Messungen nicht beeinträchtigt werden. Nach einer Runde Planieren stehen die drei behelmten Herrschaften dann gerne zusammen, trinken ein Erfrischungsgetränk, kraulen sich die Wampen und besprechen, wer als nächstes planieren darf. Einmal, auch das keine Erfindung, war gerade Grünhelm mit Planieren dran und weil offenbar das Erfrischungsgetränk alle und die Langeweile groß, der Krach aber noch nicht groß genug war, hat Gelbhelm eine riesige Flex hergeholt und 50 cm unter meinem Fenster damit begonnen, hingebungsvoll Steine zu zerflexen (Grund unbekannt). Die solchermaßen orchestrierte Lärm-Orgie, die dann losging, war derartig grotesk, daß ich nur noch lachend Kaffee trinken gehen konnte.
Im Moment machen Bob und seine Freunde wohl Pause und es ist selbst ihnen zu kalt draußen, um nur rumzustehen (das Erfrischungsgetränk würde auch festfrieren). Also haben sie offenbar ein paar Kumpels angerufen, die jetzt im Inneren des Instituts und nur zwei Räume entfernt von meinem Büro die Wände mit Stemm- und Vorschlaghämmern malträtieren, damit ich auch ja auf meine täglich Dosis an Dezibel komme.
Doch von diesen Malaisen einmal abgesehen habe ich mich schon ganz gut hier eingewöhnt. Es fehlt eigentlich an nichts wesentlichem, was ich auch in meiner Heimatstadt schätzte (sogar Kartoffelbrötchen in Fußreichweite) und statt einem popeligen Fluß gibt es ein nettes Meer, das man z.B. in Laboe besichtigen kann,
es gibt die üblichen Geschäfte, ausreichend Parks und Gaststätten und sogar eine Oper. Was es, soweit ich das beurteilen kann, nicht gibt, ist ein Nachtleben. Jedenfalls keins, das über das rege Treiben im Rotlichtviertel am Hafen nach Einsetzen der Dunkelheit (, wo in meiner Phantasie natürlich grölende Seemänner mit Augenklappen und Holzbeinen ihre Heuer durchbringen und einander duellieren) und die üblichen Gestalten, die sich ohne Reiseabsicht in Bahnhofsnähe aufhalten, hinausgeht, die nach Konsum von reichlich Spirituosen einander aber auch zufälligen Passanten ihre wahlweise unverständlichen oder aggressiven Sentenzen bzw. Gesuche um finanzielle Zuwendungen aufdrängen. Da ich am Kölner Nachtleben aber auch nicht gerade regen Anteil nahm, erscheint mir dieser Mangel verschmerzbar. Ich habe aber dafür schon mehrere KielerInnen kennengelernt, die dieses Blog lesen und sich mal mit mir treffen wollten, was mich natürlich sehr gefreut hat.
Was nicht so toll ist, ist der ÖPNV, der sich hier ausschließlich in Form eines verwirrenden und unpraktischen Busnetzwerks abspielt und die Anschaffung eines Kfz doch wieder sinnvoll erscheinen läßt, sofern man auch mal in die nähere Ferne schweifen möchte z.B. hierhin oder dahin oder nach Lübeck:
Innerhalb von Kiel läßt sich aber dafür fast alles zu Rade erledigen und mein Fahrrad ist mir hier ein treuer Begleiter geworden, Draht- und Lastenesel, den ich nur „Paquito“ nenne, auf dem ich oft mit je einer schweren Tasche an jeder Lenkerseite, Rucksack auf dem Rücken und unförmigem Karton auf dem Gepäckträger bei Wind, Wetter und eisiger Kälte durch die Straßen eiere und dem ich für seine treuen Dienste im Sommer einen Strohhut (mit Löchern für die Lenkstangen) spendieren werde 🙂
Die Jammerei über das Wetter habe ich ja schon erledigt und über das Kieler Umland kann ich noch nicht viel sagen. Das verschiebe ich auf den nächsten Bericht. Falls ich bis dahin nicht von einem Eisbären verzehrt worden bin, heißt das, die sich derzeit in Kiel (besser hieße es Cool) wohler fühlen dürften, als in ihrer klimawandelgebeutelten Heimat.
Nachtrag am 27.01.: Gerade wurde das Magnum Opus-Manuskript meiner Doktorandin, in dem Jahre Arbeit stecken, ohne Revision bei FSI:Genetics angenommen. Bin sehr stolz auf sie und diese Arbeit 🙂
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