Für die juristische Bewertung von Tathergängen ist es oftmals sehr wichtig, ob eine Person, die eine Verletzung erlitten hat, danach noch eine Weile handlungsunfähig oder sofort tot war. Gerade hinsichtlich Schußverletzungen existiert die falsche Auffassung, daß es unmöglich sei, eine oder mehrere erlittene oder selbst beigebrachte Schußwunden zu überleben. Zahlreiche Berichte und Befunde aus der rechtsmedizinischen Praxis belegen das Gegenteil, z.B. interferiert ein Blutverlust durch eine Verletzung erst ab ca. 20-25% der Gesamtblutmenge mit der Handlungsfähigkeit [2].
Bei Kopfschüssen tritt Handlungsunfähigkeit dann ein, wenn die Verletzung das zentrale Nervensystem direkt durch Zerstörung oder indirekt durch Einschränkung der Sauerstoffzufuhr beschädigt (der gespeicherte Sauerstoff reicht für ca. 10 s). Eine sofortige Handlungsunfähigkeit wird nur hervorgerufen, wenn das Projektil Gehirnareale zerstört, die essentiell für die physische Aktivität sind. Projektile mit vergleichsweise niedriger Geschwindigkeit, denen also nicht eine ultrakurze (2 ms) Schallschockwelle vorausgeht, welche auch das den Wundkanal selbst in einiger Entfernung umgebende Nervengewebe noch signifikant schädigen kann, richten deutlich weniger Zerstörung an. Deshalb stellt sich auch bei den meisten Fällen überlebter Erst- oder Mehrfachkopfschüsse heraus, daß Munition mit geringer Mündungsgeschwindigkeit verwendet worden ist und daß der erste bzw. die ersten Schüsse nicht direkt die o.g. kritischen Hirnareale verletzt haben. Selbst wenn dabei Schläfen- und Frontallappen beschädigt werden, kann vollständige Handlungsfähigkeit erhalten bleiben [3 und s. auch hier]. Viele Kopfschüsse führen übrigens gar nicht wegen direkt verletzter, lebenswichtiger Hirnareale, sondern wegen der durch die Verletzung erzeugten Blutung und/oder das entstehende sekundäre Hirnödem und den dadurch erhöhten Hirndruck zum Tod.
Neben den vier Fällen aus der eigenen Praxis haben die Autoren der hier besprochenen Studie auch noch in der forensischen Literatur nach ähnlichen Fällen gesucht. Insgesamt fanden sie 81 Berichte über einen, 17 Berichte über zwei, fünf Berichte über drei und drei Berichte über vier überlebte penetrierende Kopfschüsse. Ein Bericht aus dem Jahr 1906 beschrieb, wie das Opfer ganze sieben selbstbeigebrachte Kopfschüsse überlebte und sich schließlich erhängte [4]. In den Fällen 2-4 in dieser Studie überlebten die Opfer jeweils den ersten Schuß und erreichten dann mit dem zweiten Schuß eine Verletzung essentieller Hirnregionen, wodurch sie sofort handlungsunfähig wurden. Beim ersten Fall, der die bisher höchste Anzahl überlebter Kopfschüsse repräsentiert, kam es durch die ersten sechs Treffer nicht zu einer Handlungsunfähigkeit, da das blutende Opfer noch imstande war, seine Munitionskassette aufzuschließen und seine Waffe nachzuladen. Diese exzessive Anzahl von Schüssen ist begründet durch das kleine Kaliber (1,9 g Projektil) und die geringe kinetische Energie (95 J) der verwendeten .22er Munition. Die Waffe war ein kleiner, alter Revolver und die geringe Menge an Treibladung in der Patrone verhinderte auch, daß sich die üblichen Nahschußzeichen (Schmauchhöhle etc.) bildeten, so daß die Gefahr besteht, solche Schüsse als Fernschüsse fehlzudiagnostizieren. In solchen Fällen kann nur eine sorgfältige Untersuchung der Wunde gepaart mit mikroskopischer und radiologischer Analyse die korrekte Interpretation ermöglichen. Ebenfalls typisch war das Nichtaustreten und Deformieren bzw. Fragmentieren des Projektils, das bei nahezu allen Kaliber .22-Kopfschüssen beobachtet wird.
Obduktionen nach mehreren Schußverletzungen am Kopf sollten also grundsätzlich mit Verdacht auf ein Tötungsdelikt (also mit entsprechendem Aufwand und Vorsicht) durchgeführt werden und zwar bis Beweise für einen anderen Hergang erbracht werden können. Andererseits sollte, abhängig von der Auffindesituation, der medizinischen Vorgeschichte und der Art der Verletzungen ein Suizid auch nicht ausgeschlossen werden und sobald Suizid in Frage kommt, müssen die Hirnverletzungen ganz genau betrachtet und analysiert und auf die Frage nach Vereinbarkeit mit möglicher Handlungsfähigkeit beurteilt werden.
So, zum Schluß noch mein Lieblings-Hirntraumawitz (funktioniert nur auf Englisch): „What’s the name of the measuring device for brain trauma? Phineas gauge.“
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Referenzen:
[1] Arunkumar, P., Maiese, A., Bolino, G., & Gitto, L. (2015). Determined to Die! Ability to Act Following Multiple Self‐inflicted Gunshot Wounds to the Head. The Cook County Office of Medical Examiner Experience (2005–2012) and Review of Literature. Journal of forensic sciences, 60(5), 1373-1379.
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