Warnung: in dieser Reihe stelle ich schräge, drastische, extreme oder auf andere Weise merkwürdige Studien und Fallberichte vor, die die Forensischen Wissenschaften in ihrer ganzen Breite und Vielseitigkeit portraitieren sollen, die aber in ihrer Thematik und/oder den beigefügten Abbildungen nicht für alle LeserInnen geeignet sind und obgleich ich mich stets bemühen werde, nicht ins Sensationalistische abzugleiten, mag bisweilen die unausgeschmückte/bebilderte Realität bereits mehr sein, als manche(r) erträgt.
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Eines meiner Forschungsgebiete ist die molekulare Ballistik, worüber ich hier ja schon öfters berichtet habe. Dabei befassen wir uns mit der molekularbiologischen Analyse von Spuren, dem sog. „Backspatter“, wie sie bei Schüssen auf biologische Ziele entstehen und die außerhalb dieser Ziele am Tatort, auf dem Schützen, an oder in der Schußwaffe gesichert und untersucht werden können.
Die Wundballistik hingegen befaßt sich mit den Auswirkungen eines Projektils, z.B. der Kugel aus einer Schußwaffe, im Inneren eines biologischen Ziels (zu Forschungszwecken schießt man auf ballistische Modelle, an deren Verbesserung wir ebenfalls arbeiten). An Wundkanal, Schmauchhöhle, Rissen und Fissuren des Gewebes, Knochenbrüchen und sonstigen Verletzungen kann man etwa auf den Einschußwinkel, die Schußdistanz, die Energie des Projektils, die Art der Waffe etc. schließen. Auch diese Erkenntnisse, die meist im Rahmen einer Obduktion und durch bildgebende Verfahren erhoben werden, können maßgeblich zur Rekonstruktion eines Tathergangs beitragen.
Eine solche Rekonstruktion kann indes erheblich dadurch erschwert werden, daß manchmal das Opfer einer Schußwaffenverletzung nicht sofort stirbt und – selten – selbst nach mehreren Kopfschüssen noch eine Weile lang handlungsfähig bleibt. Gerade bei mehreren Kopfschußwunden an einer Leiche liegt zunächst der Verdacht auf Fremdbeibringung, also ein Tötungsdelikt, nahe und ist die korrekte Abgrenzung zum Suizid entscheidend. Im Suizidfall hätte der Suizident ja den ersten Schuß überlebt und wäre ausreichend handlungsfähig geblieben, um die Waffe erneut anzusetzen und abermals abzufeuern. In der Tat finden sich in der forensischen Literatur einige Berichte über Suizide mit zwei oder mehr Schußwunden am Kopf, die diese Möglichkeit belegen und demnach bei Vorliegen eines solchen Befundes voreilige Schlüsse auf ein Tötungsdelikt untersagen sollten.
Ich beschreibe heute eine Serie von vier genau solcher Fälle aus Cook County, Chicago, zwischen 2005 und 2012, die Arunkumar et al. im Journal of Forensic Sciences publiziert haben [1]. Alle Opfer dieser Fälle waren obduziert und auch toxikologisch untersucht worden.
Fall 1: Dies war sicher der ungewöhnlichste Fall, da das Opfer, ein 56-jähriger Schwarzer, der schwer verletzt auf dem Boden seiner Wohnung liegend aufgefunden worden und erst 22 Stunden später im Krankenhaus verstorben war, nicht weniger als acht Kopfschußwunden aufwies! Am Auffindeort fand man auch einen sechsschüssigen .22er-Revolver, sowie Blut des Opfers auf einer abschließbaren Kassette, worin Munition aufbewahrt wurde. Der Frau des Verstorbenen zufolge litt dieser unter Depressionen, habe mehrfach angekündigt, sich töten zu wollen und kurz zuvor die Diagnose „Lymphom“ erhalten. Außerdem seien gerade am Haus Reparaturkosten in Höhe von 30.000 $ veranschlagt worden.
Die Untersuchung des Leichnams erbrachte Anzeichen von acht Schußverletzungen am Kopf, es gab jedoch keine Hinweise auf Nahschüsse wie Schmauch oder Reste der Treibladung auf der Haut. Nur zwei der Schüsse hatten den Schädel durchschlagen und das Hirn verletzt.
Eine Wunde war an der rechten Schläfe, die auch einen Abstreifring und ein nebenstehendes Hämatom aufwies. Der Wundkanal führte durch den Schläfenknochen, den rechten Schläfenlappen und bis hinein ins Kleinhirn. Der Schuß hatte rechtsseitig ein subdurales Hämatom verursacht
und das deformierte Projektil wurde im Hirn steckend aufgefunden.
Der andere durchdringende Schuß war auf der rechten Hinterkopfseite angesetzt worden, auch hier fand sich ein Abstreifring. Der Wundkanal erstreckte sich vom Hinterkopf (os parietale) durch den rechten Parietallappen in den rechtsseitigen frontalen Sinus und zahlreiche Fragmente des Projektils fanden sich im Bereich des frontalen Sinus des Gesichtsschädels von wo sie nicht geborgen werden konnten. Auch hier fand man ein subdurales Hämatom an der Einschußstelle.
Bei den anderen Schüssen, deren Verteilung über den Kopf auf rechtshändige Ausführungen schließen ließen, waren die Projektile durch den Aufprall auf dem Schädel zerborsten und Fragmente der Projektile fanden sich in der Kopfschwarte am Schädel anliegend.
Anhand einer graphischen 3D-Rekonstruktion kann man die Dynamik der beiden durchdringenden Schüsse nachvollziehen:Die toxikologische Analyse verlief negativ für Alkohol, Opiate und Kokain.
Fall 2: Ein 49-jähriger Weißer wurde leblos und bäuchlings auf dem Boden seines Kellers liegend aufgefunden. Neben ihm lag ein 357er Magnum-Revolver, der mit drei Patronen geladen war, wovon zwei abgefeuert worden waren. Der Verstorbene hatte unter Depressionen gelitten, seit er seine Anstellung verloren hatte, ein Abschiedbrief wurde nicht gefunden. Bei der Untersuchung des Leichnams fand sich eine Einschußwunde knapp unter dem Kinn, 1 cm im Durchmesser mit Anzeichen eines aufgesetzten Schusses (Mündungsabdruck). Das Projektil hatte hier das Kinn und den Kiefer durchschlagen, innere Unterlippe und Zunge verletzt, den Oberkiefer und das Nasenskelett durchbrochen und war im subkutanen Gewebe unterhalb der Augenbrauen zum Stillstand gekommen, von wo man es deformiert bergen konnte. Eine zweite Schußwunde fand sich auf der rechten Schädelseite im Bereich des Os parietale, auch hier mit Spuren eines aufgesetzten Schusses. Hier hatte das Projektil den Schädel durchschlagen und auf seinem Weg quer durch Kopf den rechten Parietallappen verletzt, die Basalganglien durchdrungen und war im linken Parietallappen schließlich zum Halten gekommen. Dabei war es zerbrochen und man konnte noch zwei Projektilfragmente bergen. Die toxikologische Analyse war ohne Befund.
Fall 3: Man hatte den 64-jährigen Weißen schon monatelang nicht mehr in seinem Haus gesehen, vor dem schon so lange das „Zu verkaufen“-Schild stand, als man ihn eines Tages tot in einer großen Blutlache liegend auf der rückseitigen Veranda eben dieses Hauses fand, neben Kopf und Füßen je einen Revolver unbekannter Bauart. Ein Abschiedbrief fand sich nicht, dafür aber zwei Schußwunden am Kopf: die eine an der rechten Schläfe mit Nahschußzeichen. Das Projektil hatte die Schläfe durchschlagen, beide Schläfenlappen und das Mittelhirn verletzt und war auf der anderen Seite wieder aus dem Schädel ausgetreten. Der zweite Einschuß fand sich am harten Gaumen, das Projektil war durch den Gaumen gedrungen, hatte den Schädelknochen durchschlagen und war am Hinterkopf in der Occipitalregion wieder ausgetreten wo es eine typisch sternförmige Austrittswunde hinterlassen hatte. Die toxikologische Analyse war ohne Befund.
Fall 4: Den 38er-Revolver noch in der rechten Hand fand man einen 65 Jahre alten Schwarzen tot auf seinem Sofa sitzend. Seine Freundin sagte aus, daß er nach einer Prostata-Operation ständig über große Schmerzen geklagt habe, die so schlimm waren, daß er mehrmals angekündigt habe, sich umzubringen, weil er das nicht mehr aushalte. Einen Abschiedsbrief hatte er nicht hinterlassen. Bei der Untersuchung fand man eine Einschußwunde mit Nahschußzeichen an der rechten Schläfe. Das Projektil hatte die Schläfe durchschlagen, den Kopf komplett durchquert und war kurz neben dem linken Ohr wieder ausgetreten, wie der dort vorfindlichen Austrittswunde abzulesen war. Submental gab es eine zweite Schußwunde, auch hier ein aufgesetzter Schuß. Das Projektil war durch den Mund und das Gesicht gegangen, hatte das Nasenskelett zerschlagen und den frontalen Sinus perforiert. Ein Bleigeschoss mittleren Kalibers konnte aus dem oberen Hirnbereich geborgen werden. Die toxikologische Analyse war ohne Befund.
In all diesen Fällen war das Opfer nach dem ersten durchdringenden Schuß (, dem im ersten Fall noch 6 nicht durchdringende Schüsse und ein Nachladevorgang vorausgegangen waren) handlungsfähig und in der Lage geblieben, die Waffe ein weiteres Mal gegen den eigenen Kopf abzufeuern. Ob und in welchem Ausmaß nach einem Kopfschuß die Handlungsfähigkeit (definiert als die Fähigkeit zur feststellbaren Interaktion zwischen Opfer und Täter bzw. zwischen Opfer und Umgebung) erhalten bleibt, hängt vor allem von der Stelle des Einschusses und den dadurch verursachten Verletzungen aber auch von der physischen und mentalen Verfassung des Opfers ab. Handlungsunfähig ist, wer keine komplexen und längeren Bewegungen mehr durchführen kann. Handlungsunfähigkeit ist also die physische Aktivität, die nach einem schweren Trauma bis zum Zeitpunkt des Zusammenbrechend noch übrig ist.
Für die juristische Bewertung von Tathergängen ist es oftmals sehr wichtig, ob eine Person, die eine Verletzung erlitten hat, danach noch eine Weile handlungsunfähig oder sofort tot war. Gerade hinsichtlich Schußverletzungen existiert die falsche Auffassung, daß es unmöglich sei, eine oder mehrere erlittene oder selbst beigebrachte Schußwunden zu überleben. Zahlreiche Berichte und Befunde aus der rechtsmedizinischen Praxis belegen das Gegenteil, z.B. interferiert ein Blutverlust durch eine Verletzung erst ab ca. 20-25% der Gesamtblutmenge mit der Handlungsfähigkeit [2].
Bei Kopfschüssen tritt Handlungsunfähigkeit dann ein, wenn die Verletzung das zentrale Nervensystem direkt durch Zerstörung oder indirekt durch Einschränkung der Sauerstoffzufuhr beschädigt (der gespeicherte Sauerstoff reicht für ca. 10 s). Eine sofortige Handlungsunfähigkeit wird nur hervorgerufen, wenn das Projektil Gehirnareale zerstört, die essentiell für die physische Aktivität sind. Projektile mit vergleichsweise niedriger Geschwindigkeit, denen also nicht eine ultrakurze (2 ms) Schallschockwelle vorausgeht, welche auch das den Wundkanal selbst in einiger Entfernung umgebende Nervengewebe noch signifikant schädigen kann, richten deutlich weniger Zerstörung an. Deshalb stellt sich auch bei den meisten Fällen überlebter Erst- oder Mehrfachkopfschüsse heraus, daß Munition mit geringer Mündungsgeschwindigkeit verwendet worden ist und daß der erste bzw. die ersten Schüsse nicht direkt die o.g. kritischen Hirnareale verletzt haben. Selbst wenn dabei Schläfen- und Frontallappen beschädigt werden, kann vollständige Handlungsfähigkeit erhalten bleiben [3 und s. auch hier]. Viele Kopfschüsse führen übrigens gar nicht wegen direkt verletzter, lebenswichtiger Hirnareale, sondern wegen der durch die Verletzung erzeugten Blutung und/oder das entstehende sekundäre Hirnödem und den dadurch erhöhten Hirndruck zum Tod.
Neben den vier Fällen aus der eigenen Praxis haben die Autoren der hier besprochenen Studie auch noch in der forensischen Literatur nach ähnlichen Fällen gesucht. Insgesamt fanden sie 81 Berichte über einen, 17 Berichte über zwei, fünf Berichte über drei und drei Berichte über vier überlebte penetrierende Kopfschüsse. Ein Bericht aus dem Jahr 1906 beschrieb, wie das Opfer ganze sieben selbstbeigebrachte Kopfschüsse überlebte und sich schließlich erhängte [4]. In den Fällen 2-4 in dieser Studie überlebten die Opfer jeweils den ersten Schuß und erreichten dann mit dem zweiten Schuß eine Verletzung essentieller Hirnregionen, wodurch sie sofort handlungsunfähig wurden. Beim ersten Fall, der die bisher höchste Anzahl überlebter Kopfschüsse repräsentiert, kam es durch die ersten sechs Treffer nicht zu einer Handlungsunfähigkeit, da das blutende Opfer noch imstande war, seine Munitionskassette aufzuschließen und seine Waffe nachzuladen. Diese exzessive Anzahl von Schüssen ist begründet durch das kleine Kaliber (1,9 g Projektil) und die geringe kinetische Energie (95 J) der verwendeten .22er Munition. Die Waffe war ein kleiner, alter Revolver und die geringe Menge an Treibladung in der Patrone verhinderte auch, daß sich die üblichen Nahschußzeichen (Schmauchhöhle etc.) bildeten, so daß die Gefahr besteht, solche Schüsse als Fernschüsse fehlzudiagnostizieren. In solchen Fällen kann nur eine sorgfältige Untersuchung der Wunde gepaart mit mikroskopischer und radiologischer Analyse die korrekte Interpretation ermöglichen. Ebenfalls typisch war das Nichtaustreten und Deformieren bzw. Fragmentieren des Projektils, das bei nahezu allen Kaliber .22-Kopfschüssen beobachtet wird.
Obduktionen nach mehreren Schußverletzungen am Kopf sollten also grundsätzlich mit Verdacht auf ein Tötungsdelikt (also mit entsprechendem Aufwand und Vorsicht) durchgeführt werden und zwar bis Beweise für einen anderen Hergang erbracht werden können. Andererseits sollte, abhängig von der Auffindesituation, der medizinischen Vorgeschichte und der Art der Verletzungen ein Suizid auch nicht ausgeschlossen werden und sobald Suizid in Frage kommt, müssen die Hirnverletzungen ganz genau betrachtet und analysiert und auf die Frage nach Vereinbarkeit mit möglicher Handlungsfähigkeit beurteilt werden.
So, zum Schluß noch mein Lieblings-Hirntraumawitz (funktioniert nur auf Englisch): „What’s the name of the measuring device for brain trauma? Phineas gauge.“
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Referenzen:
[1] Arunkumar, P., Maiese, A., Bolino, G., & Gitto, L. (2015). Determined to Die! Ability to Act Following Multiple Self‐inflicted Gunshot Wounds to the Head. The Cook County Office of Medical Examiner Experience (2005–2012) and Review of Literature. Journal of forensic sciences, 60(5), 1373-1379.
[2] Di Maio, VJM. Physical activity following gunshot wounds. In: Di Maio VJM, editor. Gunshot wounds – practical aspect of firearms, ballistics and forensic techniques. Bloody bodies and bloody scenes, 2nd edn. New York, NY: CRC Press, 1999;254–256.
[3] Hejna, P., Šafr, M., & Zátopková, L. (2012). The ability to act–multiple suicidal gunshot wounds. Journal of forensic and legal medicine, 19(1), 1-6.
[4] Lacassagne A. Précis de médecine légale [Französisch]. Paris, France: Masson, 1906;718.
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