­­Im Wald wird eine Leiche wird gefunden. Sie verwest bereits aber es gibt noch Hinweise, daß ein Kampf stattgefunden hat. Was ist hier passiert? War es ein Tötungsdelikt, vielleicht sogar Mord? Und vor allem: wann ist es passiert? Wie lange liegt der Tote schon da und wie kann man das herausfinden?

Den Zeitpunkt einer Tat, z.B. eines Mordes zu kennen, kann entscheidend für den Erfolg einer forensischen Ermittlung sein. Wenn es keine Zeugen gibt, bleibt nur, den Tatzeitpunkt indirekt herauszufinden, indem man den Zeitpunkt des Todes anhand des Leichnams feststellt. Doch auch dafür muß man einen indirekten Weg gehen, indem man die seit dem Eintritt des Todes verstrichene Zeit, das post-mortem Intervall (PMI) ermittelt. Dafür gibt es einige klassische rechtsmedizinische Methoden, darunter die Temperaturmethode, die Beurteilung der Totenstarre und der Totenflecken etc., doch diese sind nur kurze Zeit nach dem Tod anwendbar. Für längere PMI ist auch die Untersuchung des Entwicklungsstadiums leichenbesiedelnder Insekten und damit der Rückschluß auf den frühestmöglichen Zeitpunkt der Eiablage (der gewöhnlich dem Todeszeitpunkt entspricht) eine Möglichkeit (die ich auch woanders schon erwähnt habe).

Ein weiterer Ansatz der PMI-Bestimmung kommt aus „meiner Ecke“, der forensischen RNA-Analytik, indem man die differentielle Degradation verschiedener RNA-Spezies mißt und ins Verhältnis setzt (einen Artikel dazu gab es auch schon). Die Anwendbarkeit dieser Methode ist jedoch abhängig von der Zugänglichkeit der Leiche für Insekten sowie von der Jahreszeit.

Doch es gibt noch eine andere und wie ich finde besonders spannende Möglichkeit, die sich die Charakterisierung der Zusammensetzung und Abfolge der mit Fäulnis und Verwesung assoziierten Gesellschaften von Mikroorganismen (Destruenten) zunutze macht. (Über die forensischen Einsatzmöglichkeiten der Mikrobiomik habe ich auch schon mal geschrieben.).

In einer sehr aufwendigen, komplexen und weitgefassten Studie in Science hat die Gruppe um Jessica Metcalf verschiedene Techniken wie die NGS-basierte Charakterisierung mikrobieller Gemeinschaften, die Rekonstruktion metabolischer Prozesse auf Ebene von Organismengemeinschaften und die biogeochemische Untersuchung von Bodenproben kombiniert, um die Prinzipien zu verstehen, die dem Aufbau und der Zusammensetzung mikrobieller Gemeinschaften während der Verwesung von Säugerkadavern, darunter menschliche Leichen, auf verschiedenen Bodenarten zugrunde liegen [1].

Wenn ein Mensch stirbt, bricht sehr rasch sein Immunsystem zusammen und für die Billionen von Mikroorganismen, die wir stets auf und in uns tragen, beginnt ein neues Leben, wenn sie damit beginnen, sich zu vervielfältigen und den toten Körper zu zersetzen. Liegt der Leichnam dabei auf einem natürlichen Boden, treten zu diesem Prozeß auch zahlreiche Mikroorganismen, darunter Bakterien aber auch  Einzeller und Pilze aus dem Boden hinzu. Durch die Zersetzungsprozesse entstehenden Faulgase wird der Leichnam erst gebläht und aufgetrieben, bis er schließlich aufplatzt, was das Eindringen von Sauerstoff ermöglicht und aeroben Mikroorganismen die Oberhand verschafft, während sich die Bodenchemie und damit Zusammensetzung der mikrobiellen Gemeinschaft im Boden durch das Einsickern der freigesetzten, sehr nährstoffreichen Flüssigkeit aus dem Leichnam, drastisch verändert. Die großen Mengen von Bakterien dienen wiederum als Nahrung für mikroskopisch kleine Würmer (Nematoden), die ebenfalls in den Zersetzungsprozeß eingreifen.

Die Veränderungen, die sich in einer Leiche während der Fäulnis- und Verwesungsprozesse abspielen, sind für die forensische Wissenschaft von großem Interesse und ich habe schon von unserer eigenen Arbeit zur Messung der Fäulnis einer Leiche in Hinsicht auf die Durchführbarkeit von DNA-Analysen berichtet. Über die mikrobielle Stoffwechselvielfalt und die Abfolge mikrobieller Ökosysteme im Zusammenhang mit dem Verwesungsprozess weiß man jedoch erst wenig. Man versteht noch nicht, ob die mikrobiellen Taxa, die den Zersetzungsprozeß vorantreiben, ubiquitär und unabhängig von der Umgebung, der Jahreszeit und der Art des toten Lebewesens vorkommen. Auch weiß man nicht, ob diese Organismen vornehmlich aus dem Kadaver oder dem Boden, auf dem dieser liegt, stammen. Man fragt sich, wie die Verwesung eines Säugerkadavers die metabolische Kapazität mikrobieller Gemeinschaften beeinflußt.

Man weiß jedoch, daß diese Abfolgen von verschiedenen Arten und Zusammensetzungen der mikrobiellen Gemeinschaften grundsätzlich wie ein immer gleicher Reigen verlaufen, man könnte sagen, wie eine Suite mit einer festgelegten Reihenfolge von Tänzen, erst kommt die Gigue, dann die Bourée usf. Wie regelmäßig und reproduzierbar diese Vorgänge auch bei menschlichen Leichen auftreten und ob das ganze sogar vielleicht interessant für forensische Zwecke ist, hat Metcalfs Gruppe anhand vierer auf einer texanischen Body Farm zu zwei verschiedenen Jahreszeiten ausgelegter menschlicher Leichname untersucht.

S1

Die Körper gehörten Menschen, die sie zu Lebzeiten der Wissenschaft gespendet hatten und die Abbildung zeigt, wie die Leichname ausgelegt wurden und wann und von welchen Stellen der Leichname und des Bodens, auf dem sie lagen, Proben genommen worden waren. Die Leichname waren allen möglichen Umwelteinflüssen ausgesetzt und waren auch frei zugänglich für tierische Aasfresser (Geier waren diesmal, glaube ich, aber nicht dabei ;-). Über eine Dauer von 143 und 82 Tagen wurden regelmäßig (einen Monat lang täglich oder alle zwei Tage, danach in größeren Zeitabständen) Proben von Haut und Boden (hier bezeichnet als „Graberde“) genommen.

Aus den Proben wurde die DNA extrahiert und mittels NGS-Analyse von 16S- und 18S-rRNA sowie interner transkribierter spacer-Regionen die Zusammensetzungen der Metagenome der Gemeinschaften von Archaea, Bakterien, Einzellern und Pilzen dokumentiert und über die Zeitpunkte der Probennahmen hinweg verglichen.

 

Lorarithmisch skalierte Heatmap (Häufigkeitsdarstellung) operationaler taxonomischer Einheiten (OTUs) auf der Haut menschlicher Leichen. Jede Zeile entspricht einem Taxon. Man erkennt, wie sich mit der Zeit die Häufigkeit der verschiedenen Taxa verändert und wie ähnlich das entstehende Muster bei verschiedenen Leichen ist. aus [1]

Lorarithmisch skalierte Heatmap (Häufigkeitsdarstellung) operationaler taxonomischer Einheiten (OTUs) auf der Haut menschlicher Leichen. Jede Zeile entspricht einem Taxon. Man erkennt, wie sich mit der Zeit die Häufigkeit der verschiedenen Taxa verändert und wie ähnlich das entstehende Muster bei verschiedenen Leichen ist. aus [1]

S2

Relative Häufigkeit von Bakterienstämmen, charakterisiert anhand von 16S-rRNA-Daten auf menschlichen Leichen und assoziierter Graberde im Winter und Frühling. Die Proben sind gruppiert nach Probentyp und angeordnet nach Verwesungsdauer (Tage seit Deponierung). Jeder Balken repräsentiert die relative Häufigkeit der Bakterienstämme (farbig codiert) in einer einzelnen Probe. Stämme mit einer Häufigkeit < 0,1% sind hier nicht angezeigt. aus [1]

Dabei zeigte sich, daß die Abfolgen und Änderungen der Zusammensetzungen der gesammelten Mikrobiome so regelhaft und übrigens unabhängig von der Jahreszeit verliefen, daß sie sich mathematisch modellieren ließen und so eine Berechnung des PMI gestatteten. Anhand ähnlicher Versuche an Mauskadavern konnten die Gruppe zudem nachweisen, daß auch die Art des Bodens, auf der der Leichnam liegt, keinen Einfluß auf diesen Effekt hat.

Um das PMI zu berechnen, erstellten die Forscher ein Random-Forest-Regressions-Modell (ich habe das auch schon mal erklärt), das es ermöglichte, das PMI und damit den Todeszeitpunkt mit einer Genauigkeit von wenigen Tagen zu berechnen:

 

C

16S-rRNA-Daten-basiertes Random-Forest-Modell (RFM), das mit den Daten der Winter-Leichen trainiert wurde, um die PMI der Frühlings-Leichen zu berechnen. Jeder Punkt repräsentiert eine Probe, die nach einem bestimmten PMI genommen wurde, wobei die RFM-berechneten Werte in rot und zufällig vorhergesagte Werte in grau erscheinen, RMSE: root mean square error; aus [1]

Die Forscher probierten auch aus, welches Probennahme-Intervall die beste Vorhersagegenauigkeit ergab, indem sie die 16S-rRNA-Daten der Frühlings-Leichen in entsprechende Entnahmeintervalle unterteilten. Sie fanden, daß tatsächlich die tägliche Probennahme die genauesten Vorhersagen ermöglichte:

S15

RMSE (engl. root mean square error), ist eine Maßzahl zur Beurteilung der Prognosegüte. Sie gibt an, wie gut eine Funktionskurve an vorliegende Daten angepasst ist, beziehungsweise wie stark eine Prognose im Durchschnitt von den tatsächlichen Beobachtungswerten abweicht; aus [1]

Über die Herkunft der mikrobiellen Destruenten läßt sich aufgrund weiterer Daten sagen, daß ca. 40% aller Taxa schon zu Beginn der Experimente in sehr geringen Mengen im Boden vorhanden waren, womit der Boden die Hauptquelle für mikrobielle Destruenten ist. Die Forscher fingen aber sogar 79 leichenbesiedelnde Fliegen und untersuchten deren Beine auf die darauf befindlichen Mikroorganismen. So konnten sie zeigen, daß besonders im Frühling auch diese Fliegen als Quellen für mikrobielle Destruenten fungieren.

Insgesamt werden hier wichtige Daten zum Kontext der Funktion von Ökosystemen vorgelegt. Verwesung/Zersetzung (engl. decomposition) ist eine fundamentale und alle terrestrischen Ökosysteme überspannende, mikrobielle Funktion. Und obgleich Pflanzenmaterial die dominierende Quelle organischer Materie darstellt, kann das Einfließen der Materialien aus Wirbeltierkadavern eine wichtige Ressource darstellen. Neben ihrer mikrobiologischen und biogeochemischen Grundlagenbedeutung sind die hier vorgestellten Erkenntnisse aber auch forensisch interessant: nach ausreichender Validierung und „Entschlackung“ solcher mikrobiologischen, metagenomischen Datensätze könnten sie zur relativ präzisen Bestimmung des PMI auch bereits stark verwester Leichname dienen und ggf. sogar Aussagen über den Ort des Versterbens (durch Untersuchung von Bodenproben) ermöglichen.

 

Sobald wir sterben, bleibt unsere eigene Uhr stehen und beginnt die mirkobielle Todesuhr zu ticken…

___

Referenz:

Metcalf, J. L., Xu, Z. Z., Weiss, S., Lax, S., Van Treuren, W., Hyde, E. R., … & Haarmann, D. (2016). Microbial community assembly and metabolic function during mammalian corpse decomposition. Science, 351(6269), 158-162.

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Kommentare (4)

  1. #1 Roland B.
    29/05/2016

    Unabhängig von der Jahreszeit und vom Boden… Kann man das Ignorieren der Jahreszeiten übertragen von Texas auf nördliche Gebiete mit vermutlich stärkeren jahreszeitlichen Temperaturschwankungen? Beim Boden hätte ich schon Unterschiede erwartet, zumindest bei Moorböden oder Staunässeböden.

  2. #2 Crazee
    30/05/2016

    Beeindruckend. Ich sehe schon die CSI-Drehbuchschreiber mit den Hufen scharren. 😉

  3. #3 ulfi
    31/05/2016

    Irgendwas ist mit dem RF kaputt. Der ueberschaetzt nur und unterschaetzt nur beim laengsten Intervall. Gibt es da einen unterschied zwischen Verteilung der Trainings und Testdaten? Overfitting? Der Statistiker in mir haelt gerade 10 Warnlampen hoch.

  4. #4 Cornelius Courts
    31/05/2016

    @ulfi: “Gibt es da einen unterschied zwischen Verteilung der Trainings und Testdaten? ”

    weiß nicht, vielleicht liegt’s daran, daß das mit den Winter-Daten trainiert wurde, um die Frühlings-Daten vorherzusagen?
    Habe leider zu wenig Expertise in RFM, um es genauer zu sagen. Im Zweifel Mail schreiben an: jessica.metcalf_at_colorado.edu