Vor zwei Jahren argumentierte ich hier dafür, daß Sterben ein Menschenrecht ist, welches im rückständigen Deutschland, wie andere Grundrechte auch, aus ideologischen Gründen eingeschränkt ist und blickte anerkennend und neidvoll nach Belgien, wo
die willkürliche Altersgrenze bei der Sterbehilfe abgeschafft und es so auch unheilbar kranken Kindern und Jugendlichen […], denen auf Grundlage objektiv beurteilbarer Reife und damit zurecht eine eigene Entscheidung über ihr Leben und dessen Ende zuzutrauen ist, [ermöglicht wurde], sterben zu dürfen,
In diesen zwei Jahren hat sich – natürlich – nichts verbessert. Im Gegenteil: im August hat der BGH die in Deutschland üblichen Patientenverfügungen und die Formulierung, daß „keine lebenserhaltenden Maßnahmen“ gewünscht werden, für zu ungenau und damit nichtig erklärt und damit den Inhabern solcher Verfügungen aufgebürdet, sie spezifisch für jede einzelne mögliche Maßnahme zu formulieren. Dies ist dem Normalbürger gar nicht möglich, so daß eine Beratung zur Abfassung der eigenen, rechtssicheren Patientenverfügung zwingend erforderlich wird. Wo diese herkommen soll, wie sie organisiert ist und ob ihre Ergebnisse praxistauglich sind, ist jedoch völlig unklar. Was bleibt, ist die überaus mißliche Situation, daß Hunderttausende Menschen nun mit anfechtbaren und daher womöglich ignorierbaren Verfügungen dastehen und nicht einmal mehr diesen kleinen Schutz vor einem unwürdigen und gefürchteten Dahinvegetieren genießen, den sie sich davon versprochen hatten, eine solche Verfügung abzufassen.
Ganz anders unser Nachbarland die Niederlande (wo man bekanntlich in vielen humanistischen Entwicklungsprozessen dem zurückgebliebenen Deutschland weit voraus ist):
Die niederländische Regierung will ihr Gesetz zur Sterbehilfe reformieren. Ältere Menschen sollen Hilfe zum Suizid bekommen können, wenn sie der Meinung sind, ein “erfülltes Leben” hinter sich zu haben. In einer gemeinsamen Erklärung der Minister für Gesundheit und für Justiz heißt es, der Schritt müsse nach “gründlicher Überlegung” der Kandidaten sowie unter “strengen Bedingungen” und “genauen Kriterien” geschehen. (Quelle)
Ist das nicht großartig? Ganz genau so muß ein Gesetz, das sich nicht an überkommenen, menschenfeindlichen Ideologien sondern am Wert des Lebens und den Menschenrechten aber eben auch der Menschenwürde orientiert, beschaffen sein. Die einzige Person, die über Sinn, Erfülltheit und Ende ihres Lebens zu entscheiden hat, ist die Person, um deren Leben es geht. Gegen diese Aussage gibt es kein rationales Argument.
Und es geht weiter:
Bisher ist aktive Sterbehilfe in den Niederlanden nur gestattet, wenn ein Patient unheilbar krank ist und “unerträglich und aussichtslos leidet”.
Nur! Davon können unzählige zum qualvollen Leben verurteilte Sterbewillige hier nur träumen. Und weiter:
Die Politiker sind allerdings zu dem Entschluss gekommen, dass großes Leid auch ohne eine schwere Krankheit möglich sein und einen legitimen Grund für Sterbehilfe sein könnte.
Unglaublich, daß dieses kleine Land direkt an das unsere angrenzt und doch so beschämend viel weiter ist, als Deutschland. So wie auch Belgien, wo
ein psychisch schwer und unheilbar kranker Häftling das Recht zu sterben [erhalten hat]. Er darf seinem Leben unter ärztlicher Überwachung selbst ein Ende setzen, obgleich sein körperlicher Zustand ein Weiterleben problemlos erlauben würde. Grund allein ist das unerträgliche und durch ärztliche Bemühungen nicht zu stillende Leid, dem ausgesetzt zu sein er glaubhaft vermittelt hat und ihm zugleich nicht zugemutet werden darf. (Quelle)
Ja, Leid ist auch ohne Krankheit und ohne Schmerzen möglich, wenn die Betroffenen “keine Möglichkeit mehr sehen, ihrem Leben einen Sinn zu geben”, “tief betroffen vom Verlust ihrer Unabhängigkeit” sind, sich “isoliert oder einsam vielleicht wegen des Verlusts eines geliebten Menschen” fühlen oder “überwältigt von einer vollständigen Müdigkeit und dem Verlust ihres Selbstwertgefühls” sind.
Niemand sollte gezwungen werden dürfen, unnötig zu leiden und – wenn dies eben und traurigerweise synonym geworden ist – zu leben. Nichts ist heilig, auch nicht das Leben und ich hoffe sehr, daß der niederländische Gesetzentwurf recht bald angenommen wird. Ich erwarte zwar nicht, daß man sich hierzulande ein Beispiel am zivilisatorischen Fortschritt des Nachbarn nimmt, aber vielleicht hat man in den Niederlanden ja Mitleid und erweitert dieses Recht auf Erlösung vom Leid auch auf Flüchtlinge aus Sterberechtsentwicklungsländern (#Sterbeasyl).
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