Und so funktioniert seine Methode im Prinzip: er beobachtet sehr genau und sehr vollständig, fast nichts entgeht ihm, auch Kleinigkeiten bemerkt er, dann formt er, ausgehend von den Beobachtung und jeweils unter Anwendung zuvor mühselig erworbenen Spezialwisssens, seine Schlüsse. Ein Beispiel: Angenommen, Holmes untersucht einen anonymen Brief, der mittels aus einer Zeitung ausgeschnittener Buchstaben verfaßt wurde. Holmes würde nicht nur den Wortlaut und die Grammatik des Briefs nutzen, um Rückschlüsse auf den Verfasser zu ziehen, er würde auch genau die Zusammensetzung, Textur, Geruch, Tinte, Schriftsatz etc. des Zeitungspapiers analysieren. Nennen wir diesen gesammelten Befund „p“. Holmes folgert nun im modus ponens: wenn p, dann q: Er beobachtet p, also muß q zutreffen. „q“ ist in diesem Fall die Tatsache, daß es sich bei der verwendeten Zeitung um den, sagen wir, Leicester Mercury handelt. Dieser Schluß ist jedoch nur möglich, wenn man weiß – was Holmes tut – daß nur der Leicester Mercury exakt diese Kombination von Satz, Tinte, Papiertextur etc. aufweist, hier kommt also sein Spezialwissen zum Einsatz. Nun hat er ein neues „p“. Er folgert weiter: wenn p, dann q, und „q“ wäre im Folgenden etwa die naheliegende Tatsache, daß der Brief in Leicester verfaßt wurde etc.
Man weiß, daß Doyles medizinischer Lehrer, der Chirurg J. Bell an der Universität von Edinburgh und seine enorme Beobachtungsgabe, die er einsetzte um Patienten zu beeindrucken und dazu zu bringen, ihm zu vertrauen, ihm als Vorbild für die literarische Figur des Sherlock Holmes diente, Bell wurde sogar einmal von Scotland Yard bei Fragen zum vierten Ripper-Mord zu Rate gezogen.
Jahre nach seinem Studium schrieb Doyle ihm auch:
„…round the centre of deduction and inference and observation which I have heard you inculcate I have tried to build up a man who pushes the thing a far as it would go – further occasionally.
Rund um den Komplex aus Deduktion, Folgerung und Beobachtung, den ich Sie uns habe einschärfen hören, habe ich versucht, einen Mann zu konstruieren, der die Dinge so weit treibt, wie es nur geht, manchmal sogar ein wenig weiter ” Übersetzung CC
Holmes verfügt aber nicht nur über das oben erwähnte Spezialwissen in verschiedensten Bereichen, das und wie er es erworben hat in den Geschichten auch immer wieder erwähnt wird, er erfindet sogar neue Methoden, um Beobachtungen zu machen, z.B. den oben erwähnten Test zum Blutnachweis („I have found a reagent which is precipitated by haemoglobin and by nothing else“.). Teilweise ist er seiner Zeit damit voraus, denn in der realen Welt wurde dieser wissenschaftliche Grundstein für die forensische Biologie erst 1900 von P. Uhlenhuth gelegt. So wird er vom Theoretiker zum Praktiker und zwar auf zahlreichen Gebieten, denn er versteht sich nicht nur auf Chemie, sondern auch auf Botanik, Zoologie, Toxikologie, Anthropometrie, Psychologie u.v.a.m.
Natürlich war Doyles medizinisches und naturwissenschaftliches Wissen sehr hilfreich bei der Ausgestaltung von Holmes und Doyle selbst glaubte, daß er dank seiner medizinischen Ausbildung einen „gesunden Skeptizismus“ und das Bedürfnis, alle Fakten zu beweisen und nur von bewiesenen Fakten aus zu schlußfolgern, erworben hatte die hatte, was er für das „feinste Fundament allen Denkens“ hielt und ihn wahrscheinlich veranlasste, Holmes zum größten aller „gesunden Skeptiker“ zu machen.
So geriet ihm Holmes aber auch zum öffentlichen Vorbild für modernes wissenschaftliches Denken und Handeln. In der Geschichte „Der Daumen des Ingenieurs“ von 1892 erwähnt er den Einsatz von Phenol (nach Lister) zur Wunddesinfektion und schon vor Freuds allgemeiner Bekanntheit befaßte Holmes sich mit versteckten, unbewußten Begierden und Impulsen, z.B. in der Geschichte „Silberstern“, stütze seine Schlußfolgerungen aber auf objektivere Kriterien. In „Die Liga der Rotschöpfe“ praktiziert er so etwas wie eine Denkmeditation, als er einen Fall nur durch bloßes in sich vertieftes Dasitzen und fokussiertes Nachdenken löst und zuvor Watson gegenüber, den er darum bittet, ihn 50 Minuten lang nicht anzusprechen, das Ganze als ein „Drei-Pfeifen-Problem“ bezeichnet. Hoch fokussierte, störungsfreie Kontemplation? Klingt nach der Vorwegnahme des Achtsamkeitsprinzips und in der Tat erfährt man in „The Hidden Years“, daß Holmes, nach seinem Sturz in den Reichenbachfall, unter anderen zwei Jahre durch Tibet reiste, Lhassa besuchte und sich dort mit dem führenden Lama traf. Und daß Gefühle und die durch sie verursachten kognitiven Verzerrungen keine guten Ratgeber beim Treffen von Entscheidungen sind, erklärt und Holmes bereits in „Das Zeichen der Vier“: „Ein Klient ist für mich lediglich eine Einheit, ein Faktor in einem Problem. Emotionen stehen rationalem Denken antagonistisch gegenüber“, mehr als 100 Jahre vor „Schnelles Denken, langsames Denken“ von D. Kahnemann.
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