»Dr. Watson, Mr. Sherlock Holmes«, stellte Stamford uns vor.
[…] Holmes: »Was mich jetzt interessiert, ist die Frage des Hämoglobin. Ich nehme doch an, daß Sie die Bedeutung meiner Entdeckung sehen?«
»Sie ist chemisch gesehen sicher sehr interessant, aber praktisch. ..«
»Wieso, Mann das ist die allerpraktischste gerichtsmedizinische Entdeckung des Jahres.
[…]
»Wunderbar, wunderbar! Der alte Guaiacumtest war zu umständlich und ungenau und die mikroskopischen Untersuchungen von Blutteilchen sind es auch. Außerdem kann man sie nicht anwenden, wenn das Blut mehrere Stunden alt ist. Nein, dies hier scheint zu wirken, egal ob das Blut frisch oder alt ist. Wenn dieser Test schon eingeführt wäre, hätten hunderte von Leuten, die sich unentdeckt ihres Lebens freuen, schon lange die Todesstrafe für ihre Sünden erhalten.«
Holmes als Labor-Forensiker; Auszug aus „Eine Studie in Scharlachrot“ von A.C. Doyle
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»Guten Tag«, sagte er kollegial und schüttelte meine Hand so kräftig, wie ich es ihm gar nicht zugetraut hätte.
»Ich sehe, Sie sind in Afghanistan gewesen.«
»Wie um alles in der Welt können Sie das wissen?« fragte ich erstaunt. […]
»Genau so ist es. Ich arbeite mit meiner Intuition. Ab und zu taucht ein Fall auf, der ein bißchen schwieriger ist, dann muß ich hingehen und mir die Dinge mit eigenen Augen ansehen. Wie sie wissen, habe ich viele Spezialkenntnisse, mit denen ich den Problemen auf den Leib rücke. Meistens wirkt das wie ein Wunder. Die Regeln der deduktiven Schlußfolgerung, […], sind unbezahlbar wertvoll für mich in der praktischen Arbeit. Beobachten ist bei mir zur zweiten Natur geworden. Bei unserem ersten Treffen habe ich Ihnen gesagt, daß Sie aus Afghanistan kommen. Das hat Sie überrascht.«
»Sicherlich hat Ihnen das jemand vorher erzählt.«
»Nichts dergleichen. Ich wußte einfach, daß Sie in Afghanistan gewesen sind. Aus alter Gewohnheit heraus liefen mir die Gedankenfolgen so schnell durch den Sinn, daß ich mir der dazwischenliegenden Schritte gar nicht mehr bewußt wurde, bevor ich schon zum Schluß gekommen war. Aber es gab diese Schritte jedenfalls. Die Folge meiner Gedanken war etwa so: >Hier ist ein Gentleman, ein Mediziner, aber er hält sich soldatisch stramm. Ganz klar, er ist Militärarzt. Er ist gerade aus den Tropen zurückgekehrt, denn sein Gesicht ist braun. Das ist aber nicht die natürliche Färbung seiner Haut, denn seine Handgelenke sind hell. Er hat eine schwere Zeit und Krankheit hinter sich, wie sein eingefallenes Gesicht deutlich aussagt. Er hatte eine Verletzung am linken Arm, denn er hält ihn auf eine steife, unnatürliche Weise.
Wo in den Tropen könnte ein englischer Militärarzt sich eine Armverwundung geholt und eine schwere Zeit durchgemacht haben? Sicherlich doch in Afghanistan. Diese ganze Gedankenfolge dauerte keine Sekunde. Ich habe dann gesagt, Sie kämen aus Afghanistan und Sie waren erstaunt. «
Holmes als Deduzierer; Auszug aus „Eine Studie in Scharlachrot“ von A.C. Doyle
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Ich höre zur Zeit und wann immer ich Gelegenheit habe „Die große Sherlock-Holmes Edition“ (gelesen von O. Kalkofe, sehr empfehlenswert) und an Szenen wie den oben wiedergegebenen aus der „Studie in Scharlachrot“, der ersten Holmes-Geschichte überhaupt, die vor genau 130 Jahren erschien, fällt mir ein ums andere Mal auf, daß Holmes hier als Prototyp des forensischen Wissenschaftlers anzusehen ist, der einerseits neue Nachweisverfahren für forensisch bedeutsame Spuren, hier im Beispiel für Blut, entwirft – nichts anderes mache ich ja in meiner eigenen Forschung selbst – und andererseits auf Grundlage profunder Spezialkenntnisse mittels des kognitiven Werkzeugs der Deduktion Schlüsse zieht, die nicht nur jene, denen er bloß die Ergebnisse ohne Zwischenschritte schildert, in helles Erstaunen versetzen, sondern – und so erklärt sich sein Erfolg -, auch von den Straftätern, die er jagt, nicht antizipiert werden können, da sie sonst ja die oft scheinbar unbedeutenden Spuren, die Holmes findet und auswertet, nicht hinterlassen hätten.
Und so funktioniert seine Methode im Prinzip: er beobachtet sehr genau und sehr vollständig, fast nichts entgeht ihm, auch Kleinigkeiten bemerkt er, dann formt er, ausgehend von den Beobachtung und jeweils unter Anwendung zuvor mühselig erworbenen Spezialwisssens, seine Schlüsse. Ein Beispiel: Angenommen, Holmes untersucht einen anonymen Brief, der mittels aus einer Zeitung ausgeschnittener Buchstaben verfaßt wurde. Holmes würde nicht nur den Wortlaut und die Grammatik des Briefs nutzen, um Rückschlüsse auf den Verfasser zu ziehen, er würde auch genau die Zusammensetzung, Textur, Geruch, Tinte, Schriftsatz etc. des Zeitungspapiers analysieren. Nennen wir diesen gesammelten Befund „p“. Holmes folgert nun im modus ponens: wenn p, dann q: Er beobachtet p, also muß q zutreffen. „q“ ist in diesem Fall die Tatsache, daß es sich bei der verwendeten Zeitung um den, sagen wir, Leicester Mercury handelt. Dieser Schluß ist jedoch nur möglich, wenn man weiß – was Holmes tut – daß nur der Leicester Mercury exakt diese Kombination von Satz, Tinte, Papiertextur etc. aufweist, hier kommt also sein Spezialwissen zum Einsatz. Nun hat er ein neues „p“. Er folgert weiter: wenn p, dann q, und „q“ wäre im Folgenden etwa die naheliegende Tatsache, daß der Brief in Leicester verfaßt wurde etc.
Man weiß, daß Doyles medizinischer Lehrer, der Chirurg J. Bell an der Universität von Edinburgh und seine enorme Beobachtungsgabe, die er einsetzte um Patienten zu beeindrucken und dazu zu bringen, ihm zu vertrauen, ihm als Vorbild für die literarische Figur des Sherlock Holmes diente, Bell wurde sogar einmal von Scotland Yard bei Fragen zum vierten Ripper-Mord zu Rate gezogen.
Jahre nach seinem Studium schrieb Doyle ihm auch:
„…round the centre of deduction and inference and observation which I have heard you inculcate I have tried to build up a man who pushes the thing a far as it would go – further occasionally.
Rund um den Komplex aus Deduktion, Folgerung und Beobachtung, den ich Sie uns habe einschärfen hören, habe ich versucht, einen Mann zu konstruieren, der die Dinge so weit treibt, wie es nur geht, manchmal sogar ein wenig weiter ” Übersetzung CC
Holmes verfügt aber nicht nur über das oben erwähnte Spezialwissen in verschiedensten Bereichen, das und wie er es erworben hat in den Geschichten auch immer wieder erwähnt wird, er erfindet sogar neue Methoden, um Beobachtungen zu machen, z.B. den oben erwähnten Test zum Blutnachweis („I have found a reagent which is precipitated by haemoglobin and by nothing else“.). Teilweise ist er seiner Zeit damit voraus, denn in der realen Welt wurde dieser wissenschaftliche Grundstein für die forensische Biologie erst 1900 von P. Uhlenhuth gelegt. So wird er vom Theoretiker zum Praktiker und zwar auf zahlreichen Gebieten, denn er versteht sich nicht nur auf Chemie, sondern auch auf Botanik, Zoologie, Toxikologie, Anthropometrie, Psychologie u.v.a.m.
Natürlich war Doyles medizinisches und naturwissenschaftliches Wissen sehr hilfreich bei der Ausgestaltung von Holmes und Doyle selbst glaubte, daß er dank seiner medizinischen Ausbildung einen „gesunden Skeptizismus“ und das Bedürfnis, alle Fakten zu beweisen und nur von bewiesenen Fakten aus zu schlußfolgern, erworben hatte die hatte, was er für das „feinste Fundament allen Denkens“ hielt und ihn wahrscheinlich veranlasste, Holmes zum größten aller „gesunden Skeptiker“ zu machen.
So geriet ihm Holmes aber auch zum öffentlichen Vorbild für modernes wissenschaftliches Denken und Handeln. In der Geschichte „Der Daumen des Ingenieurs“ von 1892 erwähnt er den Einsatz von Phenol (nach Lister) zur Wunddesinfektion und schon vor Freuds allgemeiner Bekanntheit befaßte Holmes sich mit versteckten, unbewußten Begierden und Impulsen, z.B. in der Geschichte „Silberstern“, stütze seine Schlußfolgerungen aber auf objektivere Kriterien. In „Die Liga der Rotschöpfe“ praktiziert er so etwas wie eine Denkmeditation, als er einen Fall nur durch bloßes in sich vertieftes Dasitzen und fokussiertes Nachdenken löst und zuvor Watson gegenüber, den er darum bittet, ihn 50 Minuten lang nicht anzusprechen, das Ganze als ein „Drei-Pfeifen-Problem“ bezeichnet. Hoch fokussierte, störungsfreie Kontemplation? Klingt nach der Vorwegnahme des Achtsamkeitsprinzips und in der Tat erfährt man in „The Hidden Years“, daß Holmes, nach seinem Sturz in den Reichenbachfall, unter anderen zwei Jahre durch Tibet reiste, Lhassa besuchte und sich dort mit dem führenden Lama traf. Und daß Gefühle und die durch sie verursachten kognitiven Verzerrungen keine guten Ratgeber beim Treffen von Entscheidungen sind, erklärt und Holmes bereits in „Das Zeichen der Vier“: „Ein Klient ist für mich lediglich eine Einheit, ein Faktor in einem Problem. Emotionen stehen rationalem Denken antagonistisch gegenüber“, mehr als 100 Jahre vor „Schnelles Denken, langsames Denken“ von D. Kahnemann.
Holmes, dessen Abenteuer noch immer überall auf der Welt gelesen und oft und immer wieder verfilmt und neu interpretiert werden, kann also wirklich als Prototyp des forensischen Wissenschaftlers, als Vorbild für genaue Beobachtung, Faktenorientierung und rationales Denken und Schlußfolgern gelten und steht damit für Tugenden, die in unserer gefühlsduseligen „post-faktischen“ Zeit relevanter und wichtiger nicht sein könnten.
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Referenzen
- “Mastermind: How to Think Like Sherlock Holmes” von M. Konnikova, Penguin Books
- zu den Eigenschaften Holmes‘ und seines Schöpfers, Herrn Doyles, gibt es eine schöne Hoaxilla-Folge
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Bildquellen:
[a] https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3APaget_holmes.png; By Sidney Paget (1860-1908) (Strand Magazine) [Public domain], via Wikimedia Commons from Wikimedia Commons
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