Wie groß muss ein Kristall sein, damit er weiter wachsen kann? Im ersten Moment könnte man versucht sein, zu sagen, dass er so groß sein muss, dass seine Energie insgesamt kleiner ist als die des rein flüssigen Ausgangszustands – das wäre der Punkt, wo die Kurve die horizontale Achse schneidet. Das ist jedoch nicht richtig. Wenn sich nämlich erst einmal ein Teilchen gebildet hat, dessen Radius so groß ist, dass das Maximum der Kurve überschritten ist, dann kann das Teilchen ja unter Energiegewinn weiterwachsen. Es muss sich also mindestens ein Teilchen mit Radius r* bilden.
Weil sich aber meist nicht spontan einige Hundert, Tausend oder noch mehr Wassermoleküle zu Eis zusammenfinden, kann man Wasser auch unter 0°C abkühlen, ohne dass es gefriert. Man hat dann unterkühltes Wasser. Eiskristalle bilden sich dann meist an Stellen, wo das energetisch günstig ist, beispielsweise Staubteilchen oder Kratzer an einer glatten Oberfläche. (Beim Regen ist das übrigens ganz ähnlich, auch da kondensieren Tropfen nach der gleichen Logik, und auch das tun sie bevorzugt an irgendwelchen Staubteilchen oder ähnlichem, das in der Luft herumschwebt.) Solche günstigen Stellen und die kleinen Kristalle, die sich dort bilden, heißen auch Kristallisationskeime.
Hat man sehr reines Wasser in einem hinreichend glatten Gefäß, kann man es auch sehr stark unterkühlen. Dann reicht schon eine kleine Erschütterung, um genügend Energie zur Verfügung zu stellen, damit das Wasser gefriert. Dieses Video zeigt das sehr schön (ich empfehle, den Ton auszuschalten, es sei denn, ihr habt einen seeeehr seltsamen “Musik”-Geschmack (das Wort “Musik” kann man hier wirklich nur in weitestem Sinne verwenden…))
Den gleichen Trick verwenden auch Wärme-Packs – sie enthalten ein Poymer ein Salz (dank an Sebastian für die Korrektur), dass massiv unterkühlt ist und das ihr durch Knipsen eines Metallclips zum Gefrieren bringen könnt. Dabei wird Energie frei, die dann eure Hände wärmt.
Wenn ihr noch einmal auf das Bild oben schaut, in dem ich den Radius r* erklärt habe, der bestimmt, ab wann ein Keim wachsen kann, dann seht ihr, dass die Größe von r* natürlich davon abhängt, wie groß die beiden Energieterme relativ zueinander sind. Gewinne ich nur wenig Energie beim gefrieren, dann verläuft die untere Kurve (die proportional zum Volumen ist) sehr flach und r* ist sehr groß; gewinne ich viel Energie, dann ist r* entsprechend klein.
Und das ist jetzt genau der Grund, warum Eiskristalle verschieden groß sind, je nachdem, bei welcher Temperatur sie sich bilden. Der Gewinn an (freier) Energie ist direkt unter dem Gefrierpunkt sehr klein, sehr weit unter dem Gefrierpunkt groß. Direkt unter dem Gefrierpunkt brauche ich also extrem günstige Kristallisationskeime, damit die groß genug sind und wachsen können. Davon gibt es nur wenige, deswegen bekomme ich wenige große Kristalle. Weit unter dem Gefrierpunkt dagegen reicht auch schon ein kleiner Kristallisationskeim, so dass ich viele kleine Keime bekomme.
Beim Eis auf meiner Autoscheibe kommt allerdings auch hinzu, wie viel Wasserdampf in der Luft gelöst ist – auch das hat einen Einfluss auf dei treibende Kraft. Ähnlich ist es auch beim Schnee – für die Form und Größe von Schneeflocken spielt nicht nur eine Rolle, wie stark der Wasserdampf in der Luft unterkühlt ist, sondern auch, wie viel Wasserdampf in der Luft ist, wie stark die Luft also mit Wasser übersättigt ist. Weil dieser Artikel eh schon recht lang ist (und ich auch noch was über Metalle schreiben wollte), verweise ich für Details mal auf diese Seite hier , dort findet ihr auch noch einen link auf ein ziemlich ausführliches (aber auch nicht ganz einfaches) Paper zum Thema. Zum Wachsen von Schnneflocken empfehle ich auch diese Videos hier.
Schneeflocken und Eiskristalle sind ohne Frage hübsch und auch sicher nicht ganz unwichtig – aber das Prinzip des Kristallwachstums spielt auch in der Technik eine große Rolle. Um zu verstehen, wie das geht, müssen wir ganz kurz gucken, wie Metalle sich verformen (ausführlicher habe ich das hier erklärt): In Metallen gibt es Fehlstellen (so genannte Versetzungen), die sich durch den Kristall bewegen und dabei einen Teil des Materials gegen den Rest abscheren. Ein Bild einer Versetzung seht ihr übrigens oben in meinem Logo rechts in der Mitte. Um Metalle an der Verformung zu hindern, muss man deshalb die Versetzungen in ihrer Bewegung behindern (manchmal kann man das mit Nichts tun).
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