Grundzustand und Ordnungsparameter
So, jetzt haben wir es also geschafft, ein ungeordnetes System zu erzeugen. Das Ganze sollte aber ja dazu dienen, um solche Systeme besser verstehen zu können. Dabei ging es vor allem darum, wie sich solche Systeme mit der Temperatur verhalten.
Nehmen wir nochmal unser Modell eines Ferromagneten, das Ising-Modell. Am energetisch günstigsten ist es, wenn alle Spins gleichgerichtet sind (entweder nach oben oder nach unten), das ist klar und eindeutig (bis auf die oben-unten-Freiheit.) In diesem Zustand ist das System also magnetisiert. Bei hohen Temperaturen ändert sich das Bild aber – durch thermische Fluktuationen haben wir genügend Energie, um einzelne Spins auch in eine andere Richtung zeigen zu lassen. (Warum? Das erkläre ich ein wenig in dem Artikel über negative Temperaturen und in meiner Artikelserie über Phasenübergänge – klickt rechts bei Artikelserien, wenn ihr einen Grundkurs Thermodynamik haben wollt…) Bei sehr hohen Temperaturen ist das System dann nicht mehr magnetisiert; die Spins sind im wesentlichen zufällig verteilt. Unser System macht einen Phasenübergang von einem Zustand, in dem sich alle Spins bevorzugt gleich ausrichten, zu einem, bei dem es zwar vielleicht noch lokal begrenzt eine Gleichrichtung gibt, aber nicht mehr auf große Entfernungen.
So sieht das Ganze aus, die Temperatur nimmt von oben nach unten zu, die Farbe symbolisiert die Spins
Oben links haben wir im wesentlichen alle Spins in blau, mit einzelnen Inseln von gelb. Je höher die Temperatur wird, desto mehr Unordnung bekommen wir im System (das ist die gefürchtete Entropie, die ich auch in meiner Artikelserie erkläre (jetzt klickt endlich!!!$$$)). In den beiden oberen Bildern ist das System noch ferromagnetisch, unten links ist es genau am Übergang, unten rechts ist es dann nicht mehr ferromagnetisch.
Solche Phasenübergänge sind in der Physik sehr wichtig (siehe die gerade schon angepriesene Thermodynamik-Serie für Beispiele).
Wie können wir einem System ansehen, ob es gerade einen Phasenübergang macht? Bei unserem Ising-Modell ist das einfach – vor dem Phasenübergang haben wir, wenn wir über das ganze System alle Spins mitteln, einen positiven oder negativen Wert (je nachdem, ob wir mehr gelb oder mehr blau haben), hinterher nicht. Wir können auch das System eine längere Zeit verfolgen und zwei Spins angucken, die weit voneinander entfernt sind. In einem Ferromagneten werden beide Spins häufig gleichgerichtet sein (entweder beide rauf oder beide runter), wenn auch nicht immer, aber doch im Mittel. Wir haben also – vornehm gesprochen – eine “langreichweitige Korrelation”, was heißt: Wissen wir den einen Spin, haben wir eine bessere Chance als 50%, dass der andere gleichgerichtet ist.
Parameter wie die Magnetisierung und die Korrelation nennt man in der Thermodynamik “Ordnungsparameter”. Ein anderes Beispiel für so einen Ordnungsparameter ist die Dichte in einem Gas oder einer Flüssigkeit – die macht genau am Phasenübergang einen Sprung; in der Flüssigkeit sind die Moleküle alle dicht beieinander, im Gas dagegen ist ihr mittlerer Abstand viel größer.
Um ein System thermodynamisch zu verstehen, muss man also mindestens zwei Dinge darüber wissen:
- Was ist der Grundzustand bei niedriger Temperatur?
- Was ist ein geeigneter Ordnungsparameter, mit dem man Phasenübergänge erkennen kann?
Und genau mit diesen beiden Fragen hat sich Parisi in seinen Arbeiten über Spingläser beschäftigt.
Bei unserem Ising-Modell ist das mit dem Ordnungsparameter relativ einfach; in einem Spinglas sieht die Sache aber anders aus. Denn wenn benachbarte Spins mal parallel und mal entgegengesetzt ausgerichtet sein wollen (“wollen” = “haben niedrige Energie”, aber zum Glück schreibe ich hier ja nen lockeren Blogtext, kein Fachbuch…), dann wird das System als Ganzes natürlich im Mittel genau so viele Spins rauf wie runter haben. Trotzdem wird es bei niedriger Temperatur Zustände geben, in denen die Konfiguration der Spins (welche sind rauf, welche sind runter?) stabil ist, weil diese Konfiguration energetisch günstig ist.
Mittlere Magnetisierung und Korrelationen über eine lange Entfernung scheiden damit als Ordnungsparameter aus; die mittlere Magnetisierung ist im Spinglas immer Null, und ob zwei Spins über lange Entfernung nun eher parallel oder entgegengesetzt ausgerichtet sind, hängt selbst in einem energetisch günstigen Zustand in komplizierter Weise davon ab, wie die Wechselwirkungen im System verteilt sind.
Edwards und Anderson hatten bereits Ordnungsparameter gesucht; sie hatten als Parameter vorgeschlagen, einen einzelnen Spin über die Zeit zu verfolgen; wenn das System in einem energetisch günstigen, stabilen Zustand ist, dann sollte der Zustand jetzt mit dem Zustand in langer Zeit korreliert sein; das System hat sozusagen ein Gedächtnis. Der war aber auch nicht unproblematisch. Edwards und Anderson hatten auch vorgeschlagen, immer mehrere Kopien des Systems zu untersuchen (die sogenannte “replica Methode”); man stellt sich also vor, man hat mehrere Versionen des Spinglases, in denen alle Wechselwirkungen identisch sind, in denen die Spins selbst aber unterschiedlich sein können.
Die Originalpaper sind hier leider ziemlich dicht und nicht so ganz leicht zu verstehen; zum Teil liegt es auch daran, dass sie bei Physical Review Letters erschienen sind, wo man auf 4 Seiten beschränkt ist. Wenn ich die zum Teil etwas kryptischen Sätze darin aber richtig deute, dann wurden auch Computersimulationen gemacht, um Spingläser zu untersuchen (damals noch mit Lochkarten-Eingabe und so…). Bei solchen Computersimulationen betrachtet man ja immer nur ein Spinglas zur Zeit und man merkte sehr schnell folgendes: Auch wenn man die Wechselwirkungen innerhalb des Systems konstant lässt und mehrere Simulationen macht (bei denen man mit einem mathematischen Verfahren, das sich “Monte-Carlo-Simulation” nennt [und über das ich auch mal bloggen könnte…], ein solches System über die Zeit verfolgt, so wie oben bei den Bildern vom Ising-Modell), wenn man also simuliert dann merkt man, dass mehrere Simulationen nicht zum selben Grundzustand führen, sondern durchaus zu unterschiedlichen Zuständen.
Es war damals nicht klar, woran das lag – es könnte beispielsweise sein, dass die Verfahren es einfach nicht schaffen, den Grundzustand korrekt zu finden; in einem Spinglas gibt es sehr viele Zustände mit sehr ähnlicher Energie, die sich oft stark unterscheiden, und das System war vielleicht einfach in einem lokalen Maximum gefangen. So etwa kann man sich das veranschaulichen – wobei die horizontale Achse hier sämtliche Spinkonfigurationen enthält.
By Wilke 06:56, 18 Jul 2004 (UTC) – en: [1], Public Domain, Link
B ist der energetisch günstigste Punkt (im Bild oben, weil das aus nem Artikel über Evolution stammt), aber wenn wir Pech haben, landen wir bei A oder C und denken vielleicht, dass wir den Grundzustand gefunden haben.
Kurz, die Situation war verwirrend.
Parisi tat in seinen Arbeiten vor allem zwei Dinge, um das Chaos zu entwirren: Zum einen erkannte er, dass es in einem Spinglas so sein musste, dass es (wenn das Spinglas unendlich groß ist) nicht bloß einen Grundzustand geben sollte, sondern unendlich viele solcher Grundszustände, die alle dieselbe Energie haben. Das klärte schon eine Menge Probleme und war auch theoretisch ziemlich interessant; zum Beispiel ist die Entropie ja definiert über die Zahl aller Möglichkeiten, einen Zustand zu erreichen (erkläre ich in der bereits mehrfach wie altbackene Brötchen angepriesenen Thermodynamik-Serie); normalerweise gibt es nur einen Grundzustand und die Entropie ist in dem Zustand dann Null. In einem Spinglas gibt es dann aber viele Möglichkeiten für den Grundzustand, was auch einige Unstimmigkeiten bei dem Versuch erklärte, die Entropie von Spingläsern in der Thermodynamik zu berechnen.
Als zweites ersann Parisi einen neuen, cleveren Ordnungsparameter. Er nutze dazu die zwei Ideen von Edwards und Anderson und machte folgendes: Wir betrachten nicht bloß die Korrelation eines Pins mit sich selbst in einem System, sondern wir betrachten viele Kopien (replicas) unseres Systems und schauen, wie die Spins zwischen diesen Kopien korreliert sind. Damit ergab sich dann auf trickreiche Weise eine unendliche Vielzahl von Ordnungsparametern.
Falls ihr jetzt weitere Details wissen wollt, muss ich ehrlicherweise passen – die verstehe ich auch nicht zu 100%, sondern nur eher vage. Selbst der deutlich mathematischere “scientific background” zum Nobelpreis sagt hier lakonisch “The mathematics are beyond the scope of this venue.”
Spingläser überall
Na, gut, überall ist übertrieben, aber die Logik, die Parisi bei den Spingläsern verstanden hat, lässt sich auch in anderen Systemen wiederfinden. Ein Beispiel sind etwa Kugelpackungen (mit denen Parisi sich auch deutlich später intensiv beschäftigt hat). Stellt euch einen Haufen Kugeln vor, die alle unterschiedliche Durchmesser haben und die ihr möglichst platzsparend anordnen wollt. Das ist ein ähnliches Problem mit Unordnung (weil die Kugeldurchmesser eben zufällig variieren) und auch hier ist es schwierig, den Grundzustand zu finden (also die tatsächlich dichteste Packung). Dieses Problem hat auch direkte praktische Relevanz; zum Beispiel spielen die Radien der Atome bei sogenannten metallischen Gläsern eine große Rolle für die Anordnung (in metallischen Gläsern hat man Metallatome, die aber nicht kristallin angeordnet sind, sondern eben wie in einem Glas, so wie in dem Bild am Anfang des Artikels. Auch wenn ihr euch mit Partikeltechnik beschäftigt, habt ihr solche Probleme: Körner unterschiedlicher Größe werden geschüttet, und wen ihr zum Beispiel einen Silo baut, in dem Sand gelagert wird und der wird dann rausgeschüttet, dann wollt ihr vermeiden, dass der erste Lastwagen den feinen und der letzte den groben abbekommt, da soll alles durchmischt sein. (Soweit meine sehr laienhafte Erklärung zur Partikeltechnik; wenn ihr darüber mehr wissen wollt, fragt bei uns an der TU die Kolleginnen vom IPAT [Institut für Partikeltechnik]).
Die Spingläser haben auch eine Verbindung zur theoretischen Elementarteilchenphysik und damit auch zu meinem Promotionsthema. Da ging es um die Quantenfeldtheorie, genauer gesagt, um die Quantenchromodynamik, die die Wechselwirkungen zwischen Quarks in einem Proton oder Neutron beschreibt. Diese Theorie ist sehr kompliziert und um sie besser in den Griff zu bekommen, formuliert man sie gern in ganz spezieller Weise als sogenannte “Gittereichtheorie”. Zu dem Thema habe ich auch mal einen langen Blogartikel geschrieben, deshalb mache ich die Erklärung kurz, dieser Artikel ist eh schon extrem lang.
In der Gittersichtheorie beschreibt man Teilchen wie Quarks über Zahlen, die an den Knoten eines Gitters sitzen, und benachbarte Gitterplätze sind miteinander verbunden über eine Wechselwirkung, die die Gluonen beschreibt, die “Kraftteilchen” der starken Kernkraft. Im Grundzustand tragen (wegen der Quantenfluktuationen) sehr viele unterschiedliche Möglichkeiten für die Zahlenwerte der Quarks und Gluonen bei, die man in Computersimulationen zu erfassen versucht.
Ihr seht also schon, dass da formal eine große Ähnlichkeit mit den Spingläsern herrscht: Wir haben einen Grundzustand mit vielen Beiträgen, wir haben Größen auf einem Gitter, die durch andere Größen, die unterschiedliche Werte haben können, miteinander verbunden sind; weil viele Zustände beitragen, ist das Ganze ein ungeordnetes System. Kein Wunder also, dass Leute, die an diesem Thema gearbeitet haben, sich auch für das interessierten, was in anderem Zusammenhang bei den Spingläsern erforscht wurde.
Das war dann auch der Grund, warum mein Doktorvater zusammen mit zwei Kollegen einen Workshop zum Thema organisiert haben. (Na gut, ehrlicherweise war es ein Grund – der andere war, dass die beiden Kollegen aus Israel kamen, die drei sich gerade in Eilat am Roten Meer befanden und dachten, es wäre doch nett, an so einem schönen Ferienort mal ne Konferenz abzuhalten….) Das war 1995, kurz vor Ende meiner Promotion, als unsere gesamte Arbeitsgruppe nach Eilat verfrachtet wurde, wo sich eine sehr bunte Mischung aus Chaosforscherinnen, theoretischen Physikerinnen, Mathematikerinnen usw. traf. (War ein sehr cooler Workshop ohne Programm – am Abend, bevor es losging, trafen wir uns alle in einem Raum mit nem Whiteboard und entwarfen gemeinsam das Tagungsprogramm; während der Konferenz wurden dann noch spontan weitere Sitzungen organisiert, so habe ich auch mal was über Waveletes gelernt…)) Dabei war auch Parisi (an dessen Vortrag ich mich inhaltlich leider nur noch sehr vage erinnere) – und deswegen erzähle ich auch davon – es soll zeigen, wie eng diese Themen doch alle zusammenhängen.
Auch Computerwissenschaftlerinnen waren übrigens bei dem Workshop vertreten – durch die komplizierte Energielandschaft sind Spingläser auch ein schönes Spielzeugmodell, um Optimierungsalgorithmen zu testen; ähnliche Verfahren habe ich auch in meiner Promotion eingesetzt. Direkt aus der Spinglasforschung ist ein Verfahren hervorgegangen, das man “Simulated Annealing” nennt, und die Ideen haben auch Anwendungen bei der Theorie der neuronalen Netze – aber das erkläre ich jetzt nicht auch noch, sonst schreibe ich schon wieder ein Buch…
Fazit
Der (halbe) Nobelpreis für Parisi zeigt auch mal wieder sehr schön, wie wichtig Grundlagenforschung ist – was könnte theoretischer sein als ein Spinglas, ein System, das im wesentlichen wirklich nur ersonnen wurde, um als Spielzeugmodell zu dienen? Anderson schrieb zum Thema
“The history of spin glass may be the best example I know of the dictum that a real scientific mystery is worth pursuing to the ends of the Earth for its own sake, independently of any obvious practical importance or intellectual glamour.”
[Die Geschichte der Spingläser ist vermutlich das beste Beispiel, das ich kenne,, für die Aussage, dass ein echtes wissenschaftliches Rätsel es wert ist, bis ans Ende der Erde verfolgt zu werden, unabhängig von jeder offensichtlichen praktischen Anwendung oder intellektuellem Ruhm. Grobe Übersetzung durch mich]
Hätte man Parisi damals gefragt “Wozu ist das gut?”, hätte er vermutlich wenig direkte und klare Wege zur Anwendung zeigen können. “Wir versuchen, komplexe Systeme zu verstehen, und da es sehr viele komplexe Systeme gibt, gucken wir uns ein einfaches Modell an. Wenn wir es verstanden haben, denken wir nach, was wir damit anfangen können.” Viel mehr hätte er wohl kaum sagen können. Dass Ideen wie Ordnungsparameter und unendlich viele Grundzustände am Ende für Neuronale Netz, mathematische Optimierungsverfahren, Elementarteilchenpyhsik oder die Partikeltechnik wichtig sein würden, war damals wohl nicht abzusehen
Quellen
Hauptquelle war der Scietific background des Nobelpreiskommittees:
Scientific Background “For groundbreaking contributions to out understanding of complex physical systems” (pdf)
Im Detail habe ich in zwei Arbeiten von Parisi reingeschaut (dankenswerterweise frei verfügbar):
journals.aps.org/prl/abstract/1
journals.aps.org/prl/abstract/1
Das zitierte Paper von Edwards und Anderson ist:
Theory of spin glasses SF Edwards, PW Anderson – Journal of Physics F: Metal Physics, 1975
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