Neulich stieß ich auf einen Artikel aus Forensic Science International, in dem von einem türkischen Elternpaar berichtet wurde, das der Kindstötung verdächtigt wurde, nachdem nach den ersten beiden auch ihr drittes Kind kurz nach der Geburt vermeintlich an SIDS verstorben war.
Das dritte Kind wurde daraufhin obduziert, es konnten jedoch weder eine eindeutige Todesursache noch Hinweise auf Mißhandlungen, die zum Tode hätten führen können, festgestellt werden. Das vierte Kind des Paares überlebte und ist gesund. Das fünfte Kind wurde kurz nach der Geburt in einer pädiatrischen Klinik untersucht. Es ergaben sich Hinweise auf eine erbliche Stoffwechselerkrankung, die durch eine nachfolgende genetische Untersuchung bestätigt werden konnte und die eingängige Bezeichnung „very-long-chain coenzyme-A dehydrogenase deficiency”, nicht viel weniger sperrig abgekürzt durch „VLCADD”, trägt.
Die dieser Krankheit zugrundeliegende(n) Veränderung(en) im Erbgut führen durch einen Defekt des Enzyms Very-long-chain-coenzyme-A-Dehydrogenase zu einer gestörten ?-Oxidation von Fettsäuren in den Mitochondrien. Dadurch können schwere hypoketotische Hypoglykämie, krankhafte Veränderungen des Hirns, Lethargie, Leberfunktionsstörung mit krankhafter Vergrößerung, Erkrankung des Herzmuskels, metabolische Azidose, Hyperammonämie und plötzlicher Tod hervorgerufen werden.
Die von den Autoren gefundenen Mutationen im Erbgut des Kindes waren zum Teil noch nie vorher beschrieben. Die Eltern des Kindes verweigerten jedoch eine Analyse ihres eigenen Erbgutes, so daß nicht bestimmt werden konnte, wie genau in diesem Fall die Vererbungsverhältnisse der Erkrankung lagen. Dies ist besonders erwähnenswert angesichts der Tatsache, daß das Elternpaar Cousin und Cousine waren, wie der Familienstammbaum zeigt:
Quadrat: Mann, Kreis: Frau, durchgestrichen: verstorben; gefüllt: das untersuchte Kind, bei dem VLCADD festgestellt wurde – Quelle: s. Literatur
Durch nahe Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Elternteilen steigt das Risiko für Reinerbigkeit oder Homozygotie für einzelne Merkmale und damit die Wahrscheinlichkeit, daß ein Kind aus solchen Verbindungen eine seltene (weil rezessive und damit nur bei Homozygotie bemerkbare) Erbkrankheit bekommt.
[An dieser Stelle ein kleiner Exkurs ins deutsche Strafrecht, dessen 2008 durch das BVG als verfassungsmäßig bestätigter §173 den „Beischlaf” zwischen direkt Verwandten unter Strafe stellt, bizarrerweise aber nicht die Zeugung eines Kindes durch solchermaßen Verwandte. Diese Regelung verhindert so also nicht, was angeblich ihr Zweck sein soll, daß nämlich Erbkrankheiten unter deren Nachkommen sich häufen (weil man auch ohne Geschlechtsverkehr ein Kind zeugen kann) und greift zudem in die sexuelle Selbstbestimmung ein (weil ja auch Geschlechtsverkehr ohne Zeugungsabsicht und/oder -fähigkeit möglich sein soll, wie man hört). Man sollte daher vielleicht so ehrlich sein, zuzugeben, daß der §173 nichts mit angeblichem Gesundheitsschutz der Nachkommen (ob es zudem überhaupt zulässig wäre, zum Schutz der Nachkommen in die reproduktive Freiheit zweier Menschen einzugreifen, darf wohl bezweifelt werden) oder der Bewahrung irgendwelcher Familienrollen und dafür alles mit einer durch religiöses Herkommen gefärbten, staatlich verordneten und daher eigentlich unzulässigen Moralauffassung zu tun hat. Es wird sich also zeigen, ob §173 einer Prüfung durch den EUGH für Menschenrechte standzuhalten vermag.]
Trotz der frühen Diagnose der VLCADD und einer sofort begonnenen geeigneten Diät verstarb jedenfalls auch dieses Kind einen Monat später relativ plötzlich in einer anderen Klinik. Die Todesursache wurde mit „Herzarrhythmie infolge intraventrikulären Septums und linksventrikulärer Hypertrophie” bezeichnet. Eine Obduktion hielt man in diesem Krankenhaus für nicht notwendig, angesichts der zuvor andernorts von den Autoren gestellten Diagnose VLCADD.
Der vorliegende durchaus tragische Fall verdeutlicht, daß ein verstorbener Säugling, bei dem vermeintlich SIDS diagnostiziert wurde, auf mögliche Stoffwechselerkrankungen untersucht werden sollte, insbesondere dann, wenn die Eltern bereits entschlossen sind, noch Kinder zu zeugen und/oder wenn bekannt ist, daß die Eltern (nahe) verwandt sind. Die Autoren empfehlen die Analyse von Aminosäuren im Plasma, organischen Säuren im Urin und Acylcarnitinen im Blut. Eine genetische Analyse ist dann nach verdächtigem Befund immer noch möglich.
In diesem Fall hier, der durch das Verwandtschaftsverhältnis der Eltern und ihre Weigerung, der Vorgeschichte zum Trotz, ihr eigenes Erbgut untersuchen zu lassen, noch verkompliziert wird, hätte so vielleicht der Tod des zweiten, dritten und fünften Kindes verhindert oder sogar eine Erkrankung schon vor der Geburt festgestellt werden können. In der Tat gibt es Vermutungen, denen zufolge ein Teil der SIDS-Fälle durch solche erblichen Störungen der Fettsäureoxidation (mit)erklärt wird.
Ob das Versäumnis allerdings strafrechtlich relevant ist oder sein sollte, ist eine schwierige Frage und wieder einmal zeigt sich, daß SIDS gewissermaßen zwischen den „Stühlen” des Medizin- und des Rechtssystems sitzt: es gibt eine ungeschriebene Regel, die besagt: „Ein Fall von SIDS ist eine Tragödie, zwei sind verdächtig, drei sind Mord.” Dieser Regel liegt natürlich die Seltenheit von SIDS zugrunde, indem das Auftreten von drei unabhängigen SIDS-Ereignissen in einer Familie als so unwahrscheinlich bewertet werden müsse, daß die absichtliche Tötung des Kindes als plausibler angesehen werden sollte. Die Voraussetzung für die Anwendbarkeit dieser Regel ist natürlich, daß die Diagnose SIDS sicher ist, daß also nicht nur der Anschein des SIDS besteht, sondern selbst Todesursachen, die morphologisch, feingeweblich und toxikologisch nicht erfasst werden können, wie z.B. eine solche erbliche Stoffwechselstörung ausgeschlossen worden sind.
Im hier besprochenen Fall ist genau wegen der zuvor nicht durchgeführten genetischen Untersuchung nach zwei Fällen nach dem dritten Fall von – vermeintlich – SIDS wegen Kindstötung ermittelt worden, obwohl wahrscheinlich bereits nach dem ersten Todesfall die Diagnose VLCADD hätte gestellt und die Eltern entlastet aber auch gewarnt werden können.
Trifft die Eltern also eine Schuld? Und/oder die Ärzte? Und was wäre gewesen, hätten die Eltern gewußt, daß sie beide heterozygot für VLCADD sind, dennoch ein weiteres Kind gezeugt hätten und dieses (was bei 25% der Nachkommen dieses Paares zu erwarten ist) an VLCADD erkrankt gewesen und gestorben wäre? Und wie wäre in diesem Zusammenhang ihr Verwandtschaftsverhältnis zu bewerten gewesen?
Übrigens besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit (50%), daß das dritte, überlebende Kind ebenfalls heterozygot für VLCADD ist. Sollte man es untersuchen und ihm/den Eltern das Ergebnis mitteilen?
Solche Situationen sind meiner Meinung nach nicht leicht zu bewerten. Man muß ja bedenken, welche Rechtsgüter gegeneinander abzuwägen sind. Die türkische Gesetzeslage kenne ich nicht, aber zumindest in Deutschland wären das wohl informationelle und sexuelle Selbstbestimmung, reproduktive Freiheit und Schutz vor vermeidbarem Leid/Tod.
Wie so häufig verkompliziert sich mit zunehmendem Wissen über einen Zusammenhang die ethische Bewertbarkeit desselben und ich erwarte schon gespannt die medizinethische Debatte, die sich ganz sicher entzünden wird, angesichts der nie dagewesenen Erkenntnismöglichkeit, die die Technik des Next Generation Sequencing (in absehbarer Zeit wird jeder Mensch sein gesamtes Genom in digitalisierter Form für unter 1000€ auf einem Speicherstick immer dabei haben können – darüber gibt es b.G. mal einen Basics-Artikel) eröffnen wird.
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Literatur:
Eminoglu, T., Tumer, L., Okur, I., Ezgu, F., Biberoglu, G., & Hasanoglu, A. (2011). Very long-chain acyl CoA dehydrogenase deficiency which was accepted as infanticide Forensic Science International, 210 (1-3) DOI: 10.1016/j.forsciint.2011.04.003
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