Über traditionelle Medizinen im Allgemeinen und traditionelle chinesische Medizin (TCM) im Speziellen habe ich mich (und auch andere sich) hier ja schon mehrmals verbreitet. Der Tenor dieser Bestandsaufnahmen und Berichte war, daß es sich bei TCM und Konsorten, denen beschämenderweise auch schon artig von der Kieler Universität der Hof gemacht wurde, um traditionelle Sammlungen pseudomedizinischer Ansätze auf Basis vor- und antiwissenschaftlicher, esoterisch-traditioneller Konzepte von Gesundheit und Krankheit handelt, deren Wirksamkeit bzw. Schädlichkeit nicht bzw. teils erwiesen ist.
Angesichts des Standes von Wissenschaft und evidenzbasierter Medizin im Jahr 2018 sollte man sich, wie eigentlich auch von Homöopathie, Naturopathie und anderen esoterisch-pseudomedizinischen Ansätzen, längst davon verabschiedet haben. Leider und fassungslos machenderweise passiert nun genau das Gegenteil: die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird in der kommenden Version der „Internationalen statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (ICD), der ICD-11, die nächstes Jahr im Mai veröffentlicht werden soll, erstmalig die traditionellen Medizinen anerkennen.
Die ICD kategorisiert Tausende von Krankheiten und Diagnosen und bestimmt den medizinischen Standard in über 100 Ländern der Welt. Sie beeinflußt, wie Diagnosen gestellt werden, wie Versicherungen Leistungskataloge zusammenstellen, wie Epidemiologen ihre Forschungsansätze ausrichten und wie offizielle Mortalitätsstatistiken bewertet und interpretiert werden. Die Aufnahme in die ICD mit solchen Fantasybegriffen wie „Milz Qi Mangel“ oder „Leber Qi Stau“ wird die ohnehin schon beträchtliche Proliferation dieser pseudomedizinischen Praktiken stark befördern und absurderweise dazu beitragen, daß sie ein integraler Bestandteil der globalen Gesundheitspflege wird.
Im Titel spreche ich von einem gefährlichen Widerspruch. Ein Widerspruch, quasi eine contradictio in adjecto, liegt deshalb vor, weil die Weltgesundheitsorganisation ein pseudomedizinisches System fördert und anerkennt, das eben nachweislich nicht zur Förderung der globalen Gesundheit, manchmal sogar dem genauen Gegenteil dient. Und gefährlich ist dieser Widerspruch, weil die Aufnahme in die ICD einer Empfehlung und Legitimation durch die WHO, diese Verfahren bei der Behandlung Kranker einzusetzen, gleichkommt. Man kann sich also als Arzt berechtigt und bestärkt darin fühlen, einem Diabetiker (laut TCM: Schwind-Durst-Syndrom mit Yin-Fluid-Mangel und zuviel Feuer und Hitze im Körper) Spinattee und Sellerie (laut TCM: kühlende Speisen) zu verabreichen, statt Insulin. Das wird ihn nur leider umbringen (wahrscheinlich TCM: aus dem dharmischen Rad des Schicksals werfen?).
Das ist aber den Lobbyisten aus China, wo man die Regulierung von TCM sogar reduzierte, und anderen asiatischen Ländern sicherlich weniger wichtig, als die enormen zu erwartenden Profite, die der wachsende und schon jetzt ca. 50 Mrd. $ umfassende TCM-Markt generieren wird. Die Lobbyarbeit, die auch den Einsatz von „key opinion leaders“ und PR-Maßnahmen zur Profilierung von TCM & Co. als geheimnisvolle / alte / überlegene / preiswerte etc.blabla Supermedizin umfaßt, hat bereits bewirkt, daß TCM & Co. bei vielen Westlern positiv besetzt ist und einen regelrechten TCM-Tourismus initiiert. Bis 2020 soll TCM in ganz China flächendeckend zur Verfügung stehen. Von den über 230.000 Anzeigen von Nebenwirkungen, die jährlich bei der chinesischen Behörde zur Medikamentenregulation eingehen, wird weniger enthusiastisch berichtet.
Der WHO scheint das auch nicht so wichtig zu sein, Hauptsache TCM ist kostengünstiger als (echte) Medizin und weil sie in einigen Ländern eben leichter zugänglich / verfügbar ist. Von dort heißt es, daß die TCM-Strategie der WHO
den Mitgliedstaaten und anderen Interessengruppen Anleitung geben soll für die Regulation und Integration von sicheren und qualitätsgesicherten traditionellen und komplementären Medizinprodukten, Praktiken und Praktikern.
(welche das wohl sein könnten, darüber schweigt man sich aus). Die Strategie habe das Ziel
den sicheren und effektiven Einsatz traditioneller Medizinen zu befördern, durch Regulierung, Erforschung und Integration traditioneller Medizinprodukte, Praktiker und Praktiken in die Gesundheitssysteme, dort, wo es angebracht ist.
Das ist natürlich zugleich absurd und zynisch. Es ist absurd, weil TCM & Co. sich bisher nicht als wirksam und häufig genug als gefährlich erwiesen haben. Dieser Quatsch hat also nicht nur nichts bei der Behandlung kranker Menschen verloren, es sollte erst recht nicht eine Integration mit echter Medizin, die immer auch ein gewisses Maß an Entgrenzung und Vermischung bedeutet, angestrebt werden. Zynisch ist es, weil „dort, wo es angebracht ist“ natürlich bedeutet: in armen Ländern, wo sich der durchschnittliche Patient eben nur TCM & Co. leisten kann. Da ist die Lebenserwartung ja eh nicht so hoch, da fällt es sicher nicht auf, wenn die Patienten ausschließlich (teilweise schädliche [2]) Placebos erhalten. Statt also alles daran zu setzen und Mittel, die man bisher für redundante Studien zur nicht vorhandenen Wirksamkeit von TCM verplempert* hat, in den Ausbau einer besseren medizinischen Bildung und Infrastruktur wirtschaftlich schwächerer Länder zu investieren, strebt man lieber eine Verbreitung dieser Pseudomedizin an.
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