Ein Jahr lang will der britische Lichtkünstler Anthony McCall mit der Lichtinstallation „Crossing the Elbe“ die Hamburger Bürgerinnen und Bürger mit drei Lichtsäulen erfreuen, die täglich jeweils für 21 Minuten verschiedene Hamburger Stadtteile symbolisch miteinander verbinden sollen. Diese öffentlich geförderte Kunstinstallation ist – zumindest meinem Wissen nach – die erste auf Dauer ausgelegte „Lichtkunst“-Aktion in einer deutschen Großstadt. Die Amerikaner sind da bereits weiter: Einen Monat lang illuminierte der mexikanische Lichtkünstler Rafael Lozano-Hemmer Ende 2012 trotz massiver Proteste von Astronomen und Vogelschützern den Nachthimmel über Philadelphia im Rahmen des Projekts „Open Air“ für jeweils vier Stunden pro Nacht mit den 24 „hellsten Scheinwerfern der Welt“. Angesichts der steigenden Effizienz von LEDs – und dem damit verbundenen Absinken der Betriebskosten – liegt die Vermutung nahe, dass es bis zur ersten permanenten und 12-stündigen Lichtkunstinstallation nicht mehr lange dauern wird.
Seit der auch im Internet mit viel Verve geführten Debatte über das Für und Wider derartiger Lichtinstallationen beschäftigt mich – jenseits aller zu führenden Diskussionen über Vogelschutz, Lichtverschmutzung und den Einsatz von Steuergelden – eine geradezu kunstphilosophische Frage, die ich gerne einmal auf den ScienceBlogs zur Diskussion stellen würde: Ist Kunst auch dann noch Kunst, wenn der Betrachter sich nicht aus freien Stücken mit ihr auseinandersetzt?
Grundsätzlich liegt die Kunst ja – wie man so schön sagt – im Auge des Betrachters. Ich verbinde mit dem Begriff „Kunst“ beispielsweise visuelle Impressionen klassischer Gemälde (wie man sie etwa auf museum-digital.de oder wikipainings.org bewundern kann), Erinnerungen an Konzerte und autorentreue Theateraufführungen oder Eindrücke filigraner Architektur – während ich etwa moderner Kunst (Beuys) oder Aktionstheater eher wenig abgewinnen kann. Dass andere ein gegenteiliges Verständnis von Kunst haben, ist für mich einer der spannendsten Aspekte des Kunstbegriffs überhaupt. Was für den einen eine akustische Disharmonie ist, ist für den anderen Musik, was für den einen ein unästhetischer Haufen verbogenen Metalls ist, ist für den anderen eine Skulptur, in der man sich als Betrachter stundenlang verlieren kann.
Alle diese Kunstwerke haben jedoch eines gemeinsam: Ihr Genuss erfolgt in aller Regel auf freiwilliger Basis. Niemand zwingt mich, Musik zu hören, die mir nicht zusagt, mir Gemälde anzuschauen, die mich ästhetisch nicht ansprechen oder Theateraufführung beizuwohnen, die mich nicht interessieren. Von jeder Skulptur, von jedem Gemälde kann ich mich mit ein paar schnellen Schritten entfernen, jede Galerie und jedes Theater kann ich jederzeit verlassen. Großflächige Lichtkunst lässt mir dagegen nur zwei Möglichkeiten: Entweder, ich setze mich ihr aus – oder ich verkrieche mich bei zugezogenen Vorhängen in einem dunklen Raum, solange die Scheinwerfer in Betrieb sind. Eine Möglichkeit sich dieser sehr speziellen Form von Kunst zu entziehen, ohne zugleich den öffentlichen Raum verlassen zu müssen, lässt eine entsprechend überdimensionierte Lichtinstallation wie etwa diese hier schlicht und ergreifend nicht zu.
Genau dieser Aspekt des „Sich-nicht-entziehen-könnens“ lässt sich mit meinem persönlichen Verständnis von Kunst kaum vereinbaren, da mir die Freiheit des Betrachters in ihrer Bedeutung der Freiheit des Künstlers im Grunde ebenbürtig zu sein scheint. Lichtkunst unterscheidet sich hier fundamental von anderen Formen der Kunst: Obwohl zahlreiche Einwohner von Philadelphia sich einer Petition gegen die „Open Air“-Installation anschlossen und deutlich zum Ausdruck brachten, dass sie die nächtlichen „Lichtskulpturen“ nicht wünschen, wurden ihnen deren Betrachtung dennoch aufgenötigt. Wer am Abend mit dem Hund unterwegs war, zu seiner Schicht aufbrechen musste oder von dieser zurückkam, wer einfach nur einen abendlichen Spaziergang unternehmen oder des Nachts die Sterne betrachten wollte, konnte sich den allgegenwärtigen Lichtsäulen der Mega-Scheinwerfer schlicht nicht entziehen.
Diese den Betrachter nötigende Eigenschaft von Lichtkunst wirft in meinen Augen die Frage auf, ob es sich bei Lichtkunst tatsächlich um Kunst handelt – eine Frage, die man ja sonst eigentlich bei keinem Kunstwerk stellt, da, was für den einen keine Kunst ist, für den anderen geradezu die höchste Form von Kunst darstellen mag. Wie aber ist eine vermeintliche Kunstform zu beurteilen, die dem Angesprochenen nicht die Wahl lässt, ob er sie überhaupt betrachten möchte und somit jeden Menschen in einem bestimmten Radius dazu zwingt, sich mit ihr auseinanderzusetzen – egal als wie unästhetisch und störend mancher Betrachter dies auch empfinden mag?
Aus meiner Sicht hat selbst die Freiheit der Kunst Grenzen – Grenzen, die wiederum in der Freiheit ihrer Betrachter liegen. Wie sehen die ScienceBlogs-Leser und -Autoren das? Ist Lichtkunst auch dann Kunst, wenn man sich ihr nicht entziehen kann? Könnte es eventuell eine wichtige Facette „unbequemer“ Kunst sein, den Betrachter auch gegen seinen Willen mit der durch sie transportierten Botschaft zu konfrontieren? Oder ist Kunst nur dann Kunst, wenn sie mir als Angesprochenem jederzeit die Freiheit lässt, mich auch von ihr abwenden zu können?
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