Das Rätsel der dunklen Materie gehört zu den wichtigsten Forschungsgebieten der modernen Astrophysik. Schon seit den 1930er Jahren wissen wir, dass da draußen jede Menge Materie sein muss, die wir aber nicht sehen können. Je nachdem, mit welcher Methode man die Masse im All misst, bekommt man unterschiedliche Ergebnisse. Man kann einfach die Massen aller sichtbaren Objekte (Sterne, Galaxien, etc) addieren und eine Gesamtmasse berechnen. Oder man betrachtet die wirkende Gravitationskraft und bestimmt daraus, wie groß die Masse sein muss, um in der entsprechende Stärke wirken zu können. Ein Beispiel: Die Galaxien in einem Galaxienhaufen bewegen sich alle mit einer bestimmten Geschwindigkeit. Wenn sie zu schnell werden, dann kann die gesamte Gravitationskraft aller Galaxien des Haufens sie nicht mehr halten und sie fliegen davon: Der Haufen löst sich auf. Je schneller die Galaxien, desto mehr Masse muss also auch im Haufen enthalten sein, um sie weiterhin festzuhalten. Die Beobachtungen der Astronomen zeigen aber immer wieder, dass sich die Galaxien in Galaxienhaufen viel zu schnell bewegen! Zumindest wenn man nur die Masse berücksichtigt, die man sehen kann! Damit die Haufen trotzdem so zusammenhalten, wie sie es tun, muss da noch viel mehr Masse sein. Materie, die wir nicht sehen können: Dunkle Materie!
Auch andere, unabhängige Messungen (zum Beispiel die Messung der Geschwindigkeite von Sternen in Galaxien) zeigen immer wieder das gleiche Bild: Es muss viel mehr Masse geben, als wir sehen können. Wir wissen also, das da irgendwas ist. Aber wir wissen noch nicht, was es ist. Neue Beobachtungen machen die Sache noch ein kleines Stück rätselhafter. Aber vielleicht bringen sie uns auch ein Stück weiter.
Christian Moni Bidin von der Universidad de Concepcíon in Chile hat sich mit seinen Kollegen die dunkle Materie in der galaktischen Umgebung der Sonne genauer angesehen. Natürlich nicht im wörtlichen Sinn – aber man wollte aus der Bewegung der Sterne in unserer Nachbarschaft neue Hinweise auf die Verteilung und die Natur der dunklen Materie gewinnen. Das hat auch geklappt – aber ganz anders, als man sich das so vorgestellt hat.
Den Moni Bidin und seine Kollegen haben nichts gefunden. Die bei ihre Beobachtungen und Berechnungen gefundene Gesamtmasse ist innerhalb der Fehlergrenzen identisch mit der Masse aller sichtbaren Materie. Das klingt jetzt nach einem massiven Widerspruch zu dem was ich oben erzählt habe. Ganz so einfach ist die Sache aber nicht.
Moni Bidin und seine Kollegen haben nur einen kleinen Teil der Milchstraße untersucht. Dinge innerhalb unserer eigenen Galaxie zu analysieren ist oft überraschend schwer. Eben weil wir mitten drin sind. Wir können leicht detaillierte Bilder anderer Galaxien machen und ihre Form in allen Einzelheiten untersuchen. Die Form unserer eigenen Galaxie dagegen kennen wir lange nicht so detailliert und es war viel schwieriger, die entsprechenden Informationen zu gewinnen! Bei der dunklen Materie ist es ähnlich. Wenn wir ferne Galaxienkollisionen und Galaxienhaufen beobachten, dann lassen sich die Auswirkungen der dunklen Materie gut sehen. Aber wie es in unserer unmittelbaren Nachbarschaft aussieht, ist schwerer zu sagen. Das hängt von der Natur der dunklen Materie ab und die kennen wir noch nicht. Wir wissen nicht, um welche Art von Materie es sich handelt und können daher auch nicht im Detail vorhersagen, wie sie sich verhalten wird. Die aktuellen Hypothesen gehen davon aus, dass die dunkle Materie aus bisher unbekannten Elementarteilchen, den WIMPs, besteht. Und die aktuellen Hypothesen über die Natur der WIMPs legen nahe, dass alle Galaxien in riesige, sphärische Wolken aus dunkler Materie eingebettet sind.
Die Messungen von Moni Bidin und seinen Kollegen legen nun nahe, dass das nicht stimmt. Solche Halos aus dunkler Materie hätten sie bei ihren Untersuchungen eigentlich finden müssen! Haben sie die dunkle Materie nun widerlegt? Nein, natürlich nicht. Moni Bidin und sein Team haben in ihrer Arbeit keine direkten Messungen gemacht, sondern eine neue mathematische Formel aufgestellt aus der sich mit Hilfe von Beobachtungsdaten die Massendichte in der galaktischen Umgebung berechnen lässt. Um diese Formel aufstellen zu können, mussten die Forscher bestimmte Dinge voraussetzen – sie basiert auf zehn verschiedenen Hypothesen über die Eigenschaften unserer Milchstraße. Zu viele für meinen Geschmack, aber da ich kein Experte für die galaktische Astronomie bin und die Autoren in ihrem Artikel alle Annahmen begründet und besprochen haben, gehe ich erstmal davon aus, dass damit erstmal alles in Ordnung ist. Sollten hier Fehlerquellen versteckt sein, dann werden sich die Experten hier sicher bald zu Wort melden!
Viel wichtiger ist aber: Die bisherigen Messungen die in den letzten Jahrzehnten bei Galaxienhaufen und Galaxien gemacht wurden, verschwinden ja nicht einfach. Eine Erklärung der Resultate von Moni Bidin muss auch die früheren Messungen erklären können. Die Astronomen aus Chile sind selbst deswegen auch sehr vorsichtig, was die Schlußfolgerungen angeht. In ihrem Artikel schreiben sie:
“In fact, the calculation does not measure the mass directly, but a variation of the gravitational potential, from which the mass density is derived. Moni Bidin et al. (2010) noted that, if the DM halo was too uniform, extended, and poorly concentrated, it could cause a negligible change of the potential in the volume under analysis, thus resulting undetectable.”
Wenn die dunkle Materie sich also anders verhält als wir bisher angenommen haben und sich anders verteilt, dann wäre es durchaus möglich, dass die Methode von Moni Bidin und seinen Kollegen sie übersehen hat! Ob sich die dunkle Materie tatsächlich so “anders” verhalten kann, muss man jetzt allerdings erstmal herausfinden. Die Astronomen schreiben weiter:
“It is clear that the local surface density measured in our work, extrapolated to the rest of the Galaxy, cannot retain the Sun in a circular orbit at a speed of ~220 km/s. A deep missing mass problem is therefore evidenced by our observations. Indeed, we believe that our results do not solve any problem, but pose important, new ones.”
Würde man die aktuellen Ergebnisse auf die gesamte Galaxie übertragen, dann steht man also wieder da, wo man vorher auch stand: Die Sterne bewegen sich zu schnell; es muss noch mehr Masse da sein, als man sieht. Christian Moni Bidin und seine Kollegen haben deswegen absolut recht, wenn sie darauf hinweisen, dass ihre Resultate wichtige neue Fragen aufgeworfen haben. Ich persönlich sehe diese Resultate ebenfalls weniger als Problem für die dunkle Materie an, sondern als große Chance, endlich etwas Neues herauszufinden! Wir wissen nun, dass sich die dunkle Materie auf eine ganz bestimmte Art und Weise verhalten muss, um in Einklang mit allen bisherigen Beobachtungsdaten zu stehen. Die Theoretiker haben jetzt wesentlich strengere Randbedingungen mit denen sie arbeiten können.
Erst gestern habe ich geschrieben, dass negative Resultate immer viel Potential bergen. Wenn unsere Beobachtungen nicht mit unseren Erwartungen übereinstimmen, dann besteht die Möglichkeit, dass wir einer wirklich neuen Entdeckung auf der Spur sind. Die dunkle Materie bleibt zwar vorerst noch weiter rätselhaft. Aber wir werden weiter Beobachtungsdaten sammeln. Und irgendwann werden wir Bescheid wissen…
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