Im vorletzten Teil meine Serie über die neuen Klimamythen ging es um das äußerst umstrittene Thema der Kernkraftnutzung zum Klimaschutz. Mit “Kernkraft” war das gemeint, was wir schon seit Jahrzehnten weltweit nutzen, nämlich die Gewinnung für Energie durch die Spaltung von Atomkernen. Es gibt aber noch einen zweiten Weg, um Energie aus Atomkernen zu kriegen und das ist die Kernfusion.
Kernfusion wird immer wieder als “Klimaretter” ins Feld geführt (in Österreich zum Beispiel vom Wiener Planetariumsdirektor Werner Gruber). Sie soll in Zukunft quasi beliebig viel Energie erzeugen, umweltfreundlich, nachhaltig und vor allem klimaneutral. All die schmutzigen Treibhausgasse, die wir heute bei unserer Energieproduktion erzeugen, wären dann weg. Wir müssen uns auch nicht mehr einschränken; dank der Kernfusion hätten wir ja jederzeut genügend klimafreundliche Energie zur Verfügung. Das klingt verlockend. Aber wenn es wirklich so einfach wäre, dann müsste ich das Thema ja nicht für meine Serie der “Klimamythen” aufgreifen.
Kernfusion unterscheidet sich tatsächlich deutlich von der Kernspaltung. Kernfusion hat viele der Nachteile nicht, die die Kernspaltung in den existierenden Kernkraftwerken verursacht. Bei der Nutzung der Kernfusion gibt es kaum radioaktiven Müll. Es gibt keine Gefahr eines nuklearen Unfalls wie in Tschernobyl oder Fukushima. Es gibt kein Rohstoffproblem wie beim Abbau von Uran. Die Kernfusion zeichnet sich aber durch einen nicht zu vernachlässigenden Nachteil aus: Es gibt sie noch nicht!
Beziehungsweise gibt es sie selbstverständlich schon: Alle Sterne, inklusive unserer Sonne, erzeugen die gewaltigen Energiemengen die sie zum Leuchten bringen, durch Kernfusion. In diversen Experimentalreaktoren haben wir die Kernfusion auch schon künstlich zustande gebracht. Aber wenn wir damit die Klimakrise lösen wollen, reicht es nicht, wenn die Atomkerne irgendwo im Inneren eines Sterns fusionieren oder in einer experimentellen Forschungsanlage. Sie muss wirtschaftlich sinnvoll eingesetzt werden können; sie muss dauerhaft und verlässlich Strom produzieren und es braucht entsprechende Fusionskraftwerke überall auf der Welt.
Ich habe mich in der Vergangenheit schon intensiv mit der Kernfusion beschäftigt und will das hier nicht wiederholen. Ich habe erklärt, wie das überhaupt funktioniert, also wie man aus der Fusion von Atomkernen Energie gewinnen kann und wie das in Sternen wie unserer Sonne abläuft. Ich habe erklärt, wie man seit den 1950er Jahren die künstliche Kernfusion auf der Erde erforscht und welche Arten von Kernfusionsreaktoren man probiert zu bauen. Und schließlich auch die bisherige Geschichte dieser Projekte zusammengefasst und erklärt, wie Anlagen wie JET oder ITER probieren, Strom durch Kernfusion zu produzieren.
Die lange Geschichte der Kernfusionsforschung zeigt vor allem, dass die Sache nicht so einfach ist, wie manche sich das vorstellen. 1997 gelang es einem europäischen Forschungsprojekt im “Joint European Torus (JET)” kurzfristig eine Kernfusion zu starten, die 16 Megawatt an Energie produziert. Allerdings nur ein paar Sekunden lang und man musste 24 Megawatt an Energie reinstecken, um das zu schaffen. Nicht geeignet um damit ernsthaft Energie bereit zu stellen, aber das war auch nicht der Zweck. Bei JET ging es um reine Forschung, denn es ist schwer, einen Stern hier auf der Erde nachzubauen. Wenn man Wasserstoffatome fusionieren will, braucht man entweder so gewaltige Mengen davon wie in der Sonne. Oder, wenn man es im kleineren Maßstab erreichen will, sehr viel höhere Temperaturen als im Inneren eines Sterns, wo es ja durchaus nicht cool ist. Man muss den Wasserstoff auf 150 Millionen Grad aufheizen und dann diese absurd heiße Substanz irgendwie kontrollieren. Das geht nur durch entsprechend starke Magnetfelder. Die Bewegung eines elektrisch geladenen Plasmas aus Wasserstoff in einem Magnetfeld ist aber tendenziell chaotisch und das schafft mehr als nur ein paar Probleme.
Es ist noch längst nicht raus, ob wir es überhaupt schaffen, die Kernfusion hier auf der Erde so in den Griff zu kriegen, um damit wirtschaftlich Energie zu erzeugen. Zuerst einmal müssen wir lernen, wie man Kernfusion dauerhaft hinkriegt und ob das überhaupt geht. Das soll der Versuchsreaktor ITER zeigen, der momentan in Frankreich gebaut wird. Die Fertigstellung hat sich verzögert, und zwar nicht, wie manche behaupten, wegen der komplizierten “EU-Bürokratie” oder weil sich Deutschland und Frankreich nicht einig werden konnten, wer Chef von ITER wird. Mit der EU hat ITER nichts zu tun; es ist ein internationales Projekt und die EU nur einer von vielen Partnern (neben den USA, Indien, Japan, Russland, Korea, China und einigen anderen Ländern). Es ist auch kein direktes Nachfolgeprojekt von JET; sondern geht auf einen Vertrag zwischen der Sowjetunion, der USA und Frankreich zurück, in dem 1988 eine Zusammenarbeit bei der zivilien Nutzung der Kernfusion beschlossen wurde. Dass ITER deutlich später fertig werden wird als geplant und deutlich teurer ausfällt als veranschlagt, hat natürlich mit den Problemen zu tun, die bei internationalen Großprojekten immer entstehen. Es müssen enorm viele politische Befindlichkeiten berücksichtigt werden und nicht immer landen die kompetentesten Menschen an den richtigen und wichtigen Positionen. Darüber hinaus ist ITER aber eben ein Projekt an der Grenze unseres Wissens. Es sind jede Menge technische Probleme aufgetaucht, mit denen niemand gerechnet hat und es werden mit Sicherheit noch Probleme zu lösen sein, von denen wir jetzt noch gar nicht wissen, dass wir sie lösen müssen.
ITER wird, wenn die Anlage einmal fertig ist, absolut nichts zur Energieversorgung der Menschheit beitragen. Es geht rein darum, die künstliche Kernfusion besser zu verstehen. Neue Techniken werden erprobt; das für die Fusion nötige Wasserstoffisotop Tritium soll beispielsweise bei nuklearen Reaktionen direkt im Kraftwerk erzeugt werden – etwas, was noch niemand ausprobiert hat. Und wenn ITER all das schafft, was zu schaffen die Anlage ausgelegt ist, dann werden wir immer noch keinen Strom damit in die Netze schicken können. Dann werden wir aber wissen, welche Technik der Kernfusion weiter erforscht werden soll. Neben ITER gibt es ja auch noch kleinere, andere Anlagen, die andere Methoden zur Kernfusion erforschen. Aber irgendwann werden wir – hoffentlich – wissen, welcher Weg vielversprechend ist. Dann ist das Projekt “DEMO” geplant: Mit dem bis dahin gewonnenen Wissen soll erforscht werden, wie man die Kernfusion sinnvoll einsetzen kann, um wirtschaftlich Energie zu erzeugen. Mehr kann man über DEMO kaum sagen; es ist ja noch nicht einmal klar, welche Kernfusionstechnik dort zum Einsatz kommen wird. Was man aber sagen kann: Auch DEMO wird keinen Strom für die Welt produzieren. Auch DEMO wird eine reine Versuchsanlage sein. Erst mit dem, was man dort erforscht und herausfindet, kann man sich an den Bau eines “echten” Kernfusionskraftwerk machen, dass dann tatsächlich – so wie die Kernkraftwerke heute – am Netz hängt und Strom für uns erzeugt.
Damit sollte eigentlich klar sein, dass die Kernfusion nichts mit der Klimakrise zu tun hat. Selbst wenn alles ab jetzt reibungsfrei und optimal läuft – und das wird es nicht, das ist bei solchen Projekten an der Grenze des Bekannten niemals der Fall! – dann wird das erste kommerziell einsetzbare Kernfusionskraftwerk allerfrühestens in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts ans Netz gehen. Realistischerweise kann man eher gegen Ende des Jahrhunderts damit rechnen und selbst dann wären wir noch weit davon entfernt, den weltweiten Bedarf an Energie aus der Kernfusion zu decken. Dazu müssten solche Kraftwerke nicht nur existieren, sondern auch überall gebaut und betrieben werden, was dann ein weiteres Mal dauert.
Dass mit dem Klima müssen wir aber schon viel früher lösen. Wir müssen bis 2050 klimaneutral werden und die Kernfusion kann uns dabei nicht helfen. Was nicht heißt, dass man die Forschung daran einstellen sollte. Ganz im Gegenteil: Die Kernfusion ist ein absolut wichtiges und faszinierendes Thema der Grundlagenforschung das wir definitiv verstehen sollten. Und wir sollten ebenso definitiv versuchen, die Kernfusion als saubere, klimafreundliche Energiequelle für uns zu nutzen. Energie werden wir auch in 100 Jahren noch brauchen, sofern wir bis dahin die Klimakrise unter Kontrolle gebracht haben.
Kernfusionsforschung ist wichtig und sollte eigentlich deutlich stärker als bis jetzt gefördert werden. Vor der Klimakrise wird sie uns aber nicht retten. Wer das behauptet, hat entweder keine Ahnung vom Thema oder will – wie so oft – mit der Aussicht auf wunderwirkende Zukunftstechnologie von den eigentlich dringend nötigen Klimaschutzmaßnahmen ablenken, die JETZT gesetzt werden müssen.
Die komplette Serie
- Teil 01: Einleitung
- Teil 02: Um die Klimakrise zu lösen, muss das Bevölkerungswachstum gestoppt werden (erscheint am 05.07.2021)
- Teil 03: Kernkraft ist nötig, um die Klimakrise zu bekämpfen (erscheint am 07.07.2021)
- Teil 04: Sternengeschichten Folge 450: Kippelemente im Klimasystem (erscheint am 09.07.2021)
- Teil 05: Die Kernfusion wird die Klimakrise für uns lösen (erscheint am 12.07.2021)
- Teil 06: Das Klima ist so komplex, dass man den Modellen der Forschung nicht vertrauen kann (erscheint am 14.07.2021)
- Teil 07: Sternengeschichten Folge 451: Der Treibhauseffekt auf anderen Himmelskörpern (erscheint am 16.07.2021)
- Teil 08: Elektro- und Wasserstoffautos sind die Lösung für die Klimakrise (erscheint am 19.07.2021)
- Teil 09: Solange wir das CO2 nicht aus der Atmosphäre entfernen können, brauchen wir mit dem Klimaschutz gar nicht anfangen (erscheint am 21.07.2021)
- Teil 10: Sternengeschichten Folge 452: Die Keeling-Kurve (erscheint am 23.07.2021)
- Teil 11: Was Deutschland (Österreich) tut, hat auf das globale Klima doch keinen Einfluss (erscheint am 26.07.2021)
- Teil 12: Es ist doch eh längst zu spät, etwas gegen die Klimakrise zu unternehmen (erscheint am 28.07.2021)
- Teil 13: Fazit und Zusammenfassung(erscheint am 02.08.2021)
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