Im „Journal of Forensic and Legal Medicine“ erschien just ein Artikel mit dem (von mir übersetzten) Titel „Autopsie im Islam und gängige Praxis in arabisch-muslimischen Ländern“ [1]. Der Artikel ist mit 2,5 Textseiten sehr kurz und, finde ich, ziemlich schlecht. Man kann ihn so zusammenfassen: der Islam findet Autopsie nicht gut, aber im Notfall geht es schon, in Saudi-Arabien, Ägypten, Tunesien und Qatar wird gelegentlich obduziert, man weiß aber nicht, wie oft genau und über die anderen arabischen Länder und allgemein weiß man so gut wie nix und es sollte mehr publiziert werden. Ehrlich, mehr ist es nicht und die Länder Tunesien und Qatar handeln die Autoren (beide aus Saudi-Arabien bzw. Ägypten) jeweils in 4 Zeilen ab.
Ich frage mich, wie so ein Artikel, der als Review, also als eine Art Übersichtsartikel bezeichnet wird, das peer review überstehen konnte. Das Thema, Konflikt zwischen Notwendigkeit von Autopsien und religiösen Befindlichkeiten, ist keineswegs neu und die Autoren zitieren gerade einmal 44 Arbeiten, die man auch selber sehr leicht finden kann, wenn man bei PubMed nach den entsprechenden Begriffen sucht. Dann verlieren sie sich absatzweise in Bemerkungen etwa zur „Geschichte der Autopsie“ und zum „Islam, seinen Quellen und Glaubensinhalten“, die viel zu kurz und oberflächlich sind, um für das eigentliche Thema hilfreich zu sein.
Wenigstens beginnt der gerade einmal achtzeilige Absatz über „Islam und Medizin“ mit einem absoluten Spitzengag, den ich hier einmal (übersetzt) wiedergeben möchte: „Der Islam trachtet danach, die Menschheit/Menschlichkeit in all ihren Aspekten anzuregen, zu fördern und zu verbessern.“ (im Artikel steht „humanity“, was sich sowohl als ‚Menschheit’ als auch als ‚Menschlichkeit’ übersetzen läßt). Das ist so offenkundig und geradezu grotesk falsch und absurd, und zwar egal, ob nun Menschlichkeit oder Menschheit gemeint ist, daß ich wirklich lachen mußte, als ich es las. Und der Absatz geht weiter, indem die alten Glanztaten und Verdienste islamischer Forscher und Ärzte um die Medizin ganz ausdrücklich nicht, hingegen heutige Verfehlungen wie die islamisch motivierte Impfverweigerung, der u.a. das Wiedererstarken der Kinderlähmung zuzuschreiben ist, durchaus unerwähnt bleiben. Wenn das mal keine objektive Bestandsaufnahme ist…
Danach kommen sie endlich zur Sache: Autopsie und der Islam. Weder Koran noch Hadithe äußerten sich ausdrücklich zur Autopsie, daher haben immer schon konkurrierende Lehrmeinungen zur Zulässigkeit der Autopsie bestanden. Und während es im frühen Stadium des Islam keine Sektionen gegeben habe, seien sie zwischen dem 10. und 12. Jhdt. zu Lehr- und Unterrichtszwecken durchaus durchgeführt worden, z.B. von Figuren wie Rhazes und Avicenna.
Wie die meisten Religionen, so die Autoren, lehne jedoch auch der Islam die Autopsie grundsätzlich ab. Nach islamischer Auffassung sei eine Autopsie nicht mit dem vor einem toten Körper gebotenen Respekt zu vereinbaren, wobei man sich auf einen Ausspruch aus einem Hadith beziehe, worin es heißt, daß das Brechen der Knochen eines Toten so schlimm sei, wie das Brechen der Knochen eines Lebenden. (Ich finde es erstaunlich, warum ausgerechnet dieser Ausspruch eine Autopsie verbieten sollte, denn während dieser kommt es eigentlich nicht zum Brechen von Knochen. Und falls der Hadith im übertragenen Sinne so aufgefasst werden soll, daß man mit einem toten Körper überhaupt nichts tun sollte, das man auch nicht mit einem Lebenden tut, so wäre nicht zu verstehen, warum Moslems ihre Toten schnellstmöglich begraben sollen. Zugegeben, konsistentes Handeln und Religion haben nur eine überschaubare Schnittmenge).
1952 wurde dann mittels eines islamischen Rechtsgutachtens aus einer ägyptischen Institution eine Vermittlung zwischen religiöser Vorschrift und dem gesellschaftlichen Anspruch auf die Aufklärung von Tötungsdelikten, wofür eine Autopsie häufig unerlässlich ist, geschaffen, indem verkündet wurde: „Notwendigkeit erlaubt das Verbotene“, so daß im Falle notwendiger kriminalistischer Ermittlungen die religiöse Respektspflicht vor den Toten zurückstehen könne. Sinngemäß wurde diese Auffassung in einem weiteren islamischen Rechtsgutachten 1982 noch einmal bekräftigt, so daß jene Moslems, die sich von diesen Gutachten und deren Autoren vertreten fühlen, ihre islamische Glaubensvariante mit kriminalistisch notwendigen Autopsien als nicht konfligierend auffassen können.
Trotz dieser theologisch-theoretischen Erlaubnis unter bestimmten Umständen seien die sozialen bzw. gesellschaftlichen Widerstände gegen die Durchführung von Autopsien jedoch unausgesetzt hoch, so die Autoren.
Im folgenden besprechen sie dann die Situation in den vier (von 22) arabischen Ländern, aus denen es überhaupt irgendwelche Publikationen gibt.
In Saudi-Arabien, wo sich die Rechtsprechung ausschließlich aus der Scharia ableite, während in anderen islamischen Ländern auch andere Grundlagen herangezogen würden, seien Autopsien unbeliebt und daher selten. Meist erfolge zunächst eine äußerliche Untersuchung (Leichenschau) und die Autopsie nur im Notfall. Der Leichenschauer könne sogar ohne weiteres eine Bestattung anordnen, wenn er die aus der Leichenschau gewonnenen Erkenntnisse ausreichend findet. Immerhin bestehe die Möglichkeit, im Verdachtsfall auch gegen den Willen von deren Familie eine verstorbene Person zu obduzieren. Die Rechtsmedizin sei dabei dem Gesundheitsministerium unterstellt. Einige Universitäten unterrichten Rechtsmedizin und es gebe auch einige saudi-arabische Publikationen.
In Ägypten existiere sei 1890 ein Abteilung für Rechtsmedizin in Kairo und sei 1932 dem Justizministerium zugeordnet worden. Rechtsmedizin werde in Ägypten als forensische und als klinische Pathologie betrieben, wobei letztere eine wichtige Rolle bei der Aufklärung von Kunstfehlern und medizinischem Fehlverhalten spiele. Alle Universitäten unterrichten Rechtsmedizin bis zum Abschlussniveau. Es gebe kaum Daten bzgl. forensischer Praxis in Ägypten, lediglich einige Publikationen zu u.a. Suizid, Kindstod, gewaltsamen Todesfällen lägen vor.
Auch Tunesien kenne eine nach Klinik und Forensik geteilte Rechtsmedizin, die dort seit den 60er Jahren unter der Autorität des Gesundheitsministeriums betrieben werde. Es gebe jedoch keine Daten zu Anzahl und Art der durchgeführten Autopsien.
Qatar, schließlich, habe islamisch geprägte Gesetze und Rechtsmedizin werde dort ausschließlich vom „Hamad General Hospital“ betrieben. Auch hier fehlen Daten zu Anzahl und Art der durchgeführten Autopsien.
In ihrer Schlußbemerkung stellen die Autoren noch einmal die vermuteten Gründe für die ablehnende Haltung vieler Moslems gegenüber Autopsien vor. Demnach seien dies vor allem die Entstellung der Leiche* und die mit der Autopsie verbundene Verzögerung der Bestattung. Sie sprechen sich daher für bessere Aufklärung moslemischer Gesellschaften darüber aus, was wirklich während einer Autopsie passiert und zur Abtragung falscher Vorstellungen.
Als mögliche Alternative sprechen sie noch die Anwendung der nicht-invasisen Virtopsy an, also einer virtuellen Autopsie, die das Aufschneiden und Herausnehmen von Organen ersetzt durch radiologische und bildgebende Verfahren wie Tomographie. Daß dieses Verfahren seine Grenzen hat, ist den Autoren bewußt und erwähnen sie auch. Dennoch empfehlen sie, autopsiewürdige Leichen in islamischen Ländern zunächst mittels Virtopsy zu untersuchen und die echte Autopsie nur in solchen Fällen anzuwenden, in denen die Virtopsy zu keinem Ergebnis kommt.
Wie erwähnt bin ich unzufrieden mit diesem Artikel und finde nicht, daß er in seiner Kürze und Oberflächlichkeit irgendwelche neuen Erkenntnisse oder Einsichten vermitteln kann. Er zeigt aber, wie unterentwickelt Rechtsmedizin und forensische Wissenschaften in arabisch-moslemischen Ländern sind und wie problematisch es ist, wenn religiöse Befindlichkeiten auf die Durchführung von Ermittlungen bei möglichen Tötungsdelikten und damit die Schaffung von Gerechtigkeit einwirken und diese beschränken können.
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*Anm.: eine Obduktion entstellt eine Leiche für gewöhnlich nicht. Selbst die Öffnung des Schädels geht nicht mit einer Zerstörung des Gesichts einher und der Einschnitt in die Kopfhaut verläuft auch nicht über die Stirn. Eine bekleidete Leiche kann nach einer sachgerecht durchgeführten Obduktion so aussehen, als wäre sie nie obduziert worden.
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Referenzen
[1] M Mohammed, MA Kharoshah. Autopsy in Islam and current practice in Arab Muslim countries. Journal of Forensic and Legal Medicine (23) 2014: 80–83
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