Man darf sich eine Promotormethylierung aber nicht als irreversible Abschaltung eines Gens vorstellen. Neuere Erkenntnisse belegen, daß es sich dabei vielmehr um einen überaus dynamischen Prozess handelt, der in verschiedenen Organismen zudem völlig unterschiedlich eingesetzt wird. Bakterien nutzen sie z.B., um ihre DNA zu schützen: Bakterien stellen Enzyme her, die DNA zerstören können, um sich gegen Fremd-DNA, z.B. aus Phagen („bakterienfressende“ Viren), zu schützen. Damit nicht auch ihre eigene DNA diesen Enzymen zum Opfer fällt, wird sie methyliert, denn auch diese Enzyme (sind wie Tauben und) können sich nicht auf methylierter DNA niederlassen. Wichtig ist auch zu erwähnen, daß Methylierungsmuster vererbt werden können. Bei der Zellteilung, im Rahmen derer die DNA der Ausgangszelle kopiert (repliziert) wird, kann eine DNMT das Methylierungsmuster der Eltern-DNA auf die neu gebildete Tochter-DNA übertragen.
So werden neben der eigentlichen DNA-Information auch die Markierungen also die „Anmerkungen“ zum Ablesen an neue Zellen weitergegeben, wodurch sichergestellt wird, daß sie den gleichen Genregulationszustand erhalten.
Diese Art der epigenetischen Steuerung, die einer Zelle die genaue Bedienung ihres Bedarf an Genprodukten ermöglicht, spielt aber nicht nur in adulten Zellen eine wichtige Rolle, sondern auch und schon in den frühen Entwicklungsphasen eines Organismus: bis auf einige Ausnahmen, bei denen eine elternspezifische (maternale oder paternale) Ausprägung einer genetischen Anlage schon in der Keimzelle angelegt wird (sog. „Imprinting“), werden in der befruchteten Eizelle (Zygote) alle epigenetischen Markierungen auf der DNA ausradiert. Durch während der Embryonalentwicklung neu etablierte Markierungen kann dann gesteuert werden, welche Zellen sich wie entwickeln, man sagt „differenzieren“, z.B. ob eine frühe pluripotente Zelle zu einer Leber- oder Hirnzelle wird. In dieser Phase kann die Methylierung bestimmter Gene erheblichen Einfluss auf den heranwachsenden Organismus ausüben und z.B. möglicherweise die sexuelle Orientierung beeinflussen.
Einige Forscher, darunter der gestern mit der Otto-Warburg-Medaille ausgezeichnete R. Jaenisch, arbeiten u.a. daran, bereits differenzierte, also „erwachsene“ Zellen durch Eingriffe in u.a. die epigenetische Regulation wieder auf den Stand sogenannter induzierter, pluripotenter Stammzellen (iPSC) zurückzusetzen und dann zu Zellen für die Modellierung menschlicher Erkrankungen z.B. M. Parkinson, umzuprogrammieren.
Wenig überraschend ist fehlgesteuerte epigenetische Regulation inzwischen längst in Zusammenhang mit zahlreichen Erkrankungen gebracht worden. Diese umfassen nicht nur „klassische“ Imprinting-Defekte wie das Prader-Willi– oder das Angelmann-Syndrom, sondern auch Krebs, wo z.B. durch Hypermethylierung Tumor-Suppressorgene stillgelegt werden können, aber auch Herzkrankheiten, geistige Erkrankungen und viele weitere. Einige Forscher schätzen die Rolle der Epigenetik in Krankheit und Gesundheit für die Zukunft inzwischen sogar schon als größer ein, als die der „klassischen“ Genetik.
Zur enormen Bedeutung der Epigenetik passt auch, daß seit den frühen 2000er Jahren bekannt ist, daß das Verhalten eines Individuums direkten Einfluss auf die epigenetischen Markierungen seiner DNA hat. Man weiß, daß z.B. die Ernährung oder Luftverschmutzung die Veränderung von Methylierungsmustern bewirken können. Gewissermaßen wird also unser Genom und die Regulierung unserer Gene von der Umwelt beeinflusst.
Und als wäre das nicht schon erstaunlich genug, wird seit einiger Zeit vermutet, daß epigenetische Markierungen, die ein Organismus im Laufe seines Lebens erworben hat, sogar irgendwie an seine Nachkommen weitergegeben werden können. Wenn das wirklich stimmt, entspräche das gewissermaßen einer teilweisen post-mortalen Rehabilitation der Ideen von Lamarck, der dachte, daß von Organismen erworbene Eigenschaften auf deren Nachkommen übertragen werden könnten! So wurde z.B. beobachtet, daß eine Mäusen künstlich antrainierte Angst vor dem Geruch von Acetophenon auch bei deren Nachkommen und sogar deren Enkeln (wenn auch schwächer) noch auftritt. Aber auch in Menschen fand man solche Effekte, z.B. hatten Männer, die vor der Pubertät Hunger gelitten hatten, weniger häufig Enkelsöhne mit Herzerkrankungen oder Diabetes als Männer, die immer ausreichend ernährt waren. Eine andere Studie zeigte, daß Männer, die vor dem Alter von 11 Jahren zu rauchen begonnen hatten, häufiger Söhne mit Übergewicht hatten, als die entsprechende Kontrollgruppe.
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