Es kommt immer wieder vor, daß die Leichen unbemerkt verstorbener Menschen erst einmal eine Weile am Sterbeort liegen, bevor sie entdeckt werden. Gerade in der warmen Jahreszeit zeigen solche Leichen dann häufig mehr oder weniger deutliche Anzeichen von Fäulnis*. Wenn sich die Fäulnisveränderungen bereits auf das Gesicht erstrecken (typischerweise sieht man erste Anzeichen im Unterbauchbereich), kann es zu einer so starken Verfremdung und Entstellung kommen, daß eine visuelle Identifizierung selbst durch nahe Angehörige unmöglich wird. (Da stark verfaulte Leichen kein schöner und für manche/n verstörender Anblick sind, zeige ich kein Bild davon, wer aber dringend sehen muß, wovon hier die Rede ist, mag hier klicken.)
Die DNA-basierte Identifizierung ansonsten unkenntlicher Faulleichen ist daher eine routinemäßige Aufgabe der forensischen Genetik und kann durchaus entscheidend für die Aufklärung von Mordfällen sein. Ein anderes, sehr wichtiges Anwendungsgebiet solcher DNA-Analysen ist die „desaster victim identification“ (DVI), die Identifizierung von Opfern nach Katastrophen, wie dem Tsunami 2004 oder 9/11 aber auch von Genoziden wie dem von Srebrenica. Mit fortschreitender Fäulnis verringert sich jedoch stetig die DNA-Integrität in den Geweben und Organen einer Leiche bis zu dem Punkt, ab dem eine Analyse nicht mehr möglich ist. Wann dieser Zeitpunkt erreicht ist, konnte bis vor kurzem nur grob geschätzt werden.
Um diesem Mißstand abzuhelfen, haben wir erstmals eine systematisch-empirische Untersuchung der Assoziation von DNA-Profilierbarkeit mit verschiedenen Fäulniszeichen sowie mit dem für die Extraktion verwendeten Gewebetyp durchgeführt [1]. Dazu haben wir ein Kollektiv von 69 fäulnisveränderten Leichen mit verschiedensten Post-Mortem-Intervallen (PMI), die an unserem Institut obduziert wurden, zusammengestellt. Um das Ausmaß der Fäulnis quantifizieren zu können, haben wir ein Klassifizierungssystem erfunden, das ursprünglich 12 Fäulnisanzeichen (einige davon noch unterteilt) erfasste:
- Durchschlagendes Venennetz
- Ausbreitung von Grünfäulnis (unterteilt in Kopf, Rumpf und Extremitäten)
- Mumifizierung (unterteilt in Akren, Kopf, Fläche)
- Teilskelettierung (unterteilt in Kopf, Rumpf, Fläche)
- Fäulnisblasen
- Fettverflüssigung
- Schaumbildung in Organen
- Waschhaut
- Leichte Ausziehbarkeit von Kopfhaaren
- Verfärbung der Gefäßhaut (unterteilt in rot-braun, dunkelrot)
- Vorhandensein von Madenbefall
- kristalline Ausschwitzungen auf Organoberflächen
Diese Parameter sind von einem Facharzt für Rechtsmedizin leicht zu erkennen und einzuschätzen. Wichtig war uns dabei, ausschließlich „binäre“ Parameter zu verwenden. Sie mußten also vom obduzierenden Rechtsmediziner nur als „vorhanden“ (1) oder „nicht vorhanden“ (0) bewertet werden, was die Subjektivität der Bewertung z.B. im Vergleich zu einer mehrstufigen Skala stark reduziert. Für jeden Parameter bzw. Unterparameter konnte maximal 1 Punkt vergeben werden. Die Summe dieser Punkte, also von 0 – 19, ist dann ein erster Anzeiger für das Ausmaß der Fäulnis. Es galt nun zu prüfen, welchen Einfluß jeder dieser Parameter auf die Intaktheit der DNA hat.
Um die Intaktheit der DNA zu messen, entwarfen wir dafür zunächst eine „Pentaplex“-PCR, also eine PCR mit fünf Primerpaaren, bei der von 0 bis 5 Produkte mit aufsteigender Basenpaarlänge entstehen können. Die entstandenen PCR-Produkte haben wir durch Gelelektrophorese aufgetrennt und sichtbar gemacht, so daß wir Anzahl und Größe der Fragmente erkennen konnten. Je länger die Fragmente, die noch entstanden waren, desto intakter die DNA. Die DNA-Integrität konnte daher einen Wert zwischen 0 und 5 einnehmen, wir nannten das den Integritätsscore Si.
Jeder der 69 Leichen wurden Lungenabstriche sowie Proben von Aorta, Leber, Niere, Gehirn und Muskelgewebe abgenommen und die DNA-Integrität in jeder dieser Proben gemessen. Dann wandten wir ein statistisches Verfahren an, um den Einfluss jedes der 19 Parameter auf den Si zu bestimmen. Dabei stellte sich heraus, daß 9 Parameter statistisch signifikant mit dem Si assoziiert sind und zwar: Fettverflüssigung, dunkelrote Verfärbung der Gefäßhaut, kristalline Ausschwitzungen auf Organoberflächen, Grünfäulnis der Extremitäten, Mumifizierung von Akren, Kopf und Fläche, Skelettierung des Rumpfes und Madenbefall. Die Summe der Werte dieser neun Parameter bezeichneten wir als Fäulnisscore, Sp, der also einen Wert von 0 – 9 hatte. Eine weitere Analyse zeigte, daß Sp auch signifikant mit dem PMI korreliert ist, allerdings war der Korrelationskoeffizient leider nicht gut genug, um durch Regression einen linearen Zusammenhang mit vernünftigem Fehlerbereich zu etablieren. In diesem Fall hätte man nämlich von Sp direkt auf das PMI schließen können, was extrem hilfreich für die Abschätzung des Todeszeitpunkts gewesen wäre. Außerdem untersuchten wir noch, in welchem der unterschiedlichen Gewebe die DNA-Integrität (Si) im Vergleich besonders hoch war und fanden, daß dies bei Niere und Aorta der Fall ist, ein Befund, der sich mit einer anderen Arbeit [2] deckte.
Eigentlich ging es ja aber um den Zusammenhang zwischen Sp und der Erfolgsquote beim DNA-Profiling und um die Beantwortung der Frage, ab welchem Fäulnisgrad sich ein DNA-Profiling aus Weichgewebe nicht mehr lohnt. Dazu erstellten wir von einer Reihe Proben über das gesamte Si– und Sp-Spektrum DNA-Profile und fanden heraus, daß es eine signifikante Korrelation jeweils zwischen hohem Si (= gute DNA) bzw. niedrigem Sp (= niedriger Fäulnisgrad) und dem Profiling-Erfolg gab. (Bedingung: Ein DNA-Profil, das als für eine Identifikation tauglich bewertet wurde, mußte mindestens 8 erfolgreich typisierte STR-Systeme umfassen.) : Alle Proben mit einem Sp < 4 erbrachten volle DNA-Profile und alle Proben ohne auswertbares DNA-Profil hatten einen Sp ≥ 6. Allerdings hatten nicht alle Proben mit Sp ≥ 6 auch ein negatives Profiling-Ergebnis. In diesen Fällen half der Si weiter: ein Si von 0 zeigte immer an, daß das DNA-Profiling negativ verlaufen war.
Und was hat man nun davon?
Zusammenfassend kann man sagen, daß es mit dem Fäulnisscore Sp nun eine Messgröße gibt, die im Rahmen der Obduktion einer fäulnisveränderten Leiche sehr leicht und schnell und ohne zusätzlichen Untersuchungsaufwand von jedem erfahrenen Rechtsmediziner ermittelt werden kann (ein entsprechendes Formular haben wir erstellt, kann man sich aber auch leicht selber machen). Der Wert von Sp gibt dann Auskunft darüber, ob sich ein DNA-Profiling aus Weichgewebe noch lohnt, bzw. wie erfolgversprechend es ist. Bei Werten ≥ 6 kann dann schnell und kostengünstig (im Vergleich zur teuren Multiplex-STR-PCR) unsere Pentaplex-PCR durchgeführt und so der Si ermittelt werden, um weitere Hinweise auf die DNA-Integrität zu erhalten. Erst wenn danach ein DNA-Profiling aussichtslos erscheint, sollte man ein anderes DNA-Identifikationsverfahren, das etwas robuster gegen Fragmentierung ist, z.B. basierend auf SNPs oder DIPs, wählen oder auf die wesentlich aufwendigere und viel Zeit kostende STR-Analyse von DNA aus Knochen oder Zähnen ausweichen, um doch noch ein Profil zu erhalten.
Insbesondere bei DVI-Situationen, wo Hunderte bis Zehntausende Leichname zur Untersuchung stehen können, könnte das Sp/Si-Verfahren von Nutzen sein, um erheblich Zeit und Geld zu sparen, indem ohne Aufwand und schon vor jeder molekularbiologischen Analyse solche Leichen festgestellt werden können, bei denen DNA-Profiling aus Weichgewebe mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolgreich sein wird bzw. solche, bei denen gleich die Verwendung von Knochenmaterial nahezulegen ist. Ein weiterer Aspekt von Interesse ist, daß sich auf Grundlage unserer Ergebnisse nun grundsätzlich die Verwendung von Nieren- oder Aortengewebe als Grundlage für ein DNA-Profiling fäulnisveränderter Leichen empfiehlt.
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* Anmerkung: In der Rechtsmedizin unterscheidet man zwischen den oft und fälschlicherweise synonym gebrauchten „Fäulnis“ und „Verwesung“: Fäulnis bezeichnet einen anaeroben bakteriellen, alkalischen Zersetzungsprozess auf reduktiver Grundlage, bei dem durch Gasbildung (v.a. H2S ) und Abspaltung von Ammoniak der typische, ammoniakalische Geruch entsteht. Verwesung hingegen ist ein trockener, saurer Prozess auf oxidativer Grundlage, bei dem durch Abspaltung von Säuren (wie H2CO3 und H3PO4) ein typischer, aromatisch-ranziger Geruch entsteht, zu dem sich bei Vermoderug des Gewebes noch ein ebenso typischer, muffiger Gruftgeruch gesellt.
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Referenzen:
[1] Courts, C., Sauer, E., Hofmann, Y., Madea, B., & Schyma, C. (2015). Assessment of STR typing success rate in soft tissues from putrefied bodies based on a quantitative grading system for putrefaction. Journal of forensic sciences, 60(4), 1016-1021.
[2] T. Schwark, A. Heinrich, N. von Wurmb-Schwark, Genetic identification of highly putrefied bodies using DNA from soft tissues, Int. J Legal Med 125 (2011) 891-4.
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