Erinnert sich noch jemand an die vor einigen Jahren umgehende Angst vor HIV-verseuchten Nadeln, die angeblich jemand in Kinosesseln deponiert hatte? Das ganze war glücklicherweise nur ein Hoax, doch hier in der Rechtsmedizin sind Infektionskrankheiten als Waffe durchaus nicht unbekannt. Immer einmal wieder kommt es vor, daß zum Beispiel Heroinabhängige, die untereinander in Streit geraten oder aber sich einer Festnahme widersetzen, mit gebrauchten Nadeln zustechen und dann – wahrheitsgemäß oder nicht – behaupten, sie seien HIV-positiv, so daß die gestochene Person der erheblichen Angst ausgesetzt ist, mit einer potentiell tödlichen Krankheit infiziert worden zu sein. Eine solche Krankheit kann auch Milzbrand sein, wie in den Fällen, in denen seit 2000 Anwender in ganz Europa durch mit Anthrax versetztes Heroin infiziert wurden, was 19 von ihnen das Leben kostete [1,2].  Ein weiteres Beispiel aus der forensisch-medizinischen Routinearbeit sind Fälle von Vergewaltigung, bei denen der Täter mit z.B. Hepatitis C infiziert ist und durch die Tat möglicherweise das Opfer angesteckt hat.  In all diesen Fällen gilt nach deutschem Recht: die mutwillige (oder billigend in Kauf genommene) Ansteckung einer anderen Person mit einer potentiell tödlichen Krankheit ist eine gefährliche Körperverletzung. In den USA wurde im Jahre 1994 sogar ein Mann wegen versuchten Mordes verurteilt, nachdem er seine Lebensgefährtin absichtlich mit HIV infiziert hatte.

Was aber ist, wenn ein infizierter Täter bestreitet, daß ein infiziertes Opfer von ihm, dem Täter, infiziert worden sei? Kann man nachweisen, woher die Erreger in einem infizierten Menschen kamen? Und wie sicher ist ein solcher Nachweis?

In einem besonders prominenten und sehr viele Betroffene umfassenden Fall hatte ein spanischer Arzt mindestens 275 Opfer mit Hepatitis C infiziert. Die Opfer, von denen vier an den Folgen der Hepatitis gestorben sind, waren Patienten, die eine Morphin-Injektion mit einer Nadel erhalten hatten, mit der sich der HCV-positive und morphinabhängige Arzt zuvor selbst eine kleine Ration der Droge injiziert hatte. Der Arzt wurde zu über tausend Jahren Haft verurteilt, behauptet aber bis heute, daß er unschuldig sei und sich bei einem Patienten angesteckt haben müsse. Letztes Jahr wurden in Nature erstmalig die vollständigen forensisch-phylogenetischen Befunde zu diesem Fall veröffentlicht, die deutlich dafür sprechen, daß ein Großteil der Opfer in der Tat von dem Arzt infiziert worden waren [3].

stammbau

Forensische Phylogenetik ermöglicht es, Verwandtschaftsgrade zwischen Mikroorganismen festzustellen, die verschiedene Individuen infiziert haben und kann so unterstützende Hinweise dafür liefern, ob eine Person eine andere angesteckt hat.

Die forensische Phylogenetik verbindet evolutionsbiologische Ansätze mit moderner Sequenzierungstechnologie mit dem Ziel, die (straf)rechtlich relevante Verbreitung infektiöser Organismen anhand von deren genetischer Information zu analysieren, nachzuverfolgen und zu bewerten: man sequenziert bestimmte Abschnitte der Genome von bestimmten Krankheitserregern aus verschiedenen Personen und vergleicht die Sequenzen speziell in Hinsicht auf kleine Veränderungen, die durch Mutationen entstanden sind, miteinander. Dadurch kann man die Evolution der Erreger nachvollziehen und somit deren „Verwandtschaftsgrad“ bestimmen. Bei einigen Viren wie HIV und HCV, die extrem schnell mutieren, klappt das besonders gut.

Gleich vorweg muß allerdings gesagt werden, daß die forensische Phylogenetik grundsätzlich keine Schuldbeweise und auch keine Evidenz der Stärke, wie sie die klassische forensische Genetik hervorbringt, erbringen kann. Besonders bei schnell mutierenden Erregern vergrößert sich die genetische Vielfalt der Erreger, je länger eine Person damit infiziert ist und es kann niemals eine vollständige Übereinstimmung der Erregerstämme aus zwei Infizierten geben. Bei der Interpretation forensisch-phylogenetischer Ergebnisse ist daher immer Vorsicht angebracht und es bedarf vor Gericht eigentlich einer gründlichen Aufklärung wenn nicht Schulung der Richter und Anwälte, um diesen den Stellenwert, die Aussagekraft und die Einschränkungen phylogenetischer Befunde zu verdeutlichen. Solche Befunde können z.B. unterstützende (und auch starke bis sehr starke) Hinweise darauf sein, daß z.B. ein Virus von Person A auf Person B übertragen wurde (oder umgekehrt), aber niemals ein Beweis.

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Kommentare (5)

  1. #1 Engywuck
    18/12/2014

    “Der Arzt […]behauptet aber bis heute, daß er unschuldig sei und sich bei einem Patienten angesteckt haben müsse.”

    Was ja erstmal nicht im Widerspruch dazu steht, dass er den Großteil der Patienten angesteckt hat. Außer es ließe sich nachweisen, dass seine Infektion ausgerechnet vom letzten seiner Patienten stammt. Auch ohne Gensequenzierung hätte das Urteil also analog ausfallen müssen – nur hätte man dann nicht gewusst, welche Patienten nicht “von ihm” waren.

    Ließ sich eigentlich tatsächlich nachweisen, dass er selber vor seinen Eskapaden “clean” war oder war seine Infektion gar die älteste “seines” Stammes?

  2. #2 Cornelius Courts
    19/12/2014

    @Engywuck: “Was ja erstmal nicht im Widerspruch dazu steht, dass er den Großteil der Patienten angesteckt hat.”

    Ich glaube, er behauptet, er hätte auch niemanden mit einer Nadel gestochen, die er vorher an siche selber benutzt hat und daß er eben selber nur zufällig HCV habe, das er von einem Patienten habe, mit denen er als Arzt ja konfrontiert sei.
    Er wäre schließlich gar nicht unschuldig, nur wenn er nicht gewußt hätte, daß er HCV-positiv ist!

  3. #3 Engywuck
    19/12/2014

    das würde erklären, warum man die Infektion auch von der Abstammung der Krankheit her ihm zuordnen musste

  4. #4 labestianegra
    20/12/2014

    Schöner Artikel.

  5. #5 radix100
    Pulheim
    24/12/2014

    guter Wissenschaftsjournalismus, reich an wissenschaftlichen Infos und doch dem Laien gut verständlich. Und auch noch spannend. Danke.