Warnung: in dieser Reihe stelle ich schräge, drastische, extreme oder auf andere Weise merkwürdige Studien und Fallberichte vor, die die Forensischen Wissenschaften in ihrer ganzen Breite und Vielseitigkeit portraitieren sollen, die aber in ihrer Thematik und/oder den beigefügten Abbildungen nicht für alle LeserInnen geeignet sind und obgleich ich mich stets bemühen werde, nicht ins Sensationalistische abzugleiten, mag bisweilen die unausgeschmückte/bebilderte Realität bereits mehr sein, als manche(r) erträgt.
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Oder so ähnlich heißt es doch und daran mußte ich denken, als ich von einem merkwürdigen Verkehrsunfall in der Schweiz [1] hörte: ein Motorradfahrer hatte versucht, ein auf seiner Spur ca. 70-80 km/h fahrendes Auto mit ca. 80-90 km/h zu überholen (Abbildung links), war dabei in den Gegenverkehr geraten und hatte so einen Unfall verursacht, an dem er selbst, das überholte und das entgegenkommende Auto beteiligt waren. Im rechten Teil der Abbildung ist die Auffindesituation nach dem Unfall dargestellt:
Der Motorradfahrer (24) wurde durch den Aufprall auf C2 ca. 12m weit von seinem Fahrzeug geschleudert und so schwer verletzt, daß er noch am Unfallort starb. Der Helm (s. links) hatte sich beim Unfall vom Kopf gelöst, war schwer beschädigt worden, die Visiere waren abgebrochen und fanden sich, ansonsten intakt, in der Nähe des Fahrers.Außerdem wurde ca. 2,5 m neben dem Motorrad ein toter Raubvogel auf der Straße gefunden.
Es war zunächst nicht klar, ob und auf welche Weise der Vogel am Unfallgeschehen beteiligt war, es wurde jedoch vermutet, daß der Motorradfahrer versucht haben könnte, dem auf der Strasse liegenden Vogel auszuweichen und so den Unfall verursachte.
Der Fahrer und der Vogel wurden zu weiteren Untersuchungen ins rechtsmedizinische Institut gebracht, wo beide zunächst mittels Ganzkörper-CT untersucht und vom Gesicht des Verstorbenen sowie dem Schnabel und den Klauen des Vogels 3D-Oberflächenscans angefertigt wurden. Dann wurden Proben von blutverdächtigen Anhaftungen von Schnabel und Klauen des Vogels sowie eine Vergleichprobe des Verstorbenen genommen und daraus jeweils DNA-Profile erstellt. Anschließend wurden beide Leichname obduziert und das Blut des Verstorbenen auf Alkohol untersucht.
Die äußere Untersuchung des Verstorbenen zeigte eine tiefe, dreieckige stichwundenartige Verletzung mit glatten Wundrändern und ohne Abschürfungen oberhalb des linken Nasenflügels.
Schürfwunden fanden sich statt dessen auf der Brust, der linken Schulter und der Vorderseite des linken Beins. CT und Obduktion ließen schwere Schädel-Hirn-Verletzungen mit komplexen Brüchen und subarachnoidaler Blutung und Einblutungen in den Nasenrachenraum erkennen, so daß als Todesursache Atemstillstand durch Blutaspiration nach Schädelbasisbruch und stumpfem Thoraxtrauma mit mehrfachen Rippenbrüchen und Lungendurchbohrung und konsekutivem Hämato– und Pneumothorax vermutet wurde. Die toxikologische Unterschung des Bluts auf Alkohol verlief negativ.
Der Vogel war ein Mäusebussard (Buteo buteo L.), der noch warm war, als er gefunden wurde und dessen Gefieder mit Benzin durchtränkt war. Obduziert wurde er von einem Rechtsmediziner im Beisein eines Biologen. Der Vogel war 45 cm lang (Abbildung a) mit einer Flügelspannweite von 95 cm und wog 965 g. Der verhornte Teil des Schnabels war 2 cm lang und hatte einen Durchmesser zwischen 0,1 – 1,8 cm (Abbildung b), die Klauen waren ebenfalls 2 cm lang und zwischen 0,1 und 0,4 cm dick (Abbildung c). Zusätzlich zu den Anhaftungen an Schnabel und Klauen wurden noch blutverdächtige Anhaftungen an einer Schwanzfeder entdeckt (Abbildung d):
Obduktion und CT zeigten ein stumpfes Trauma der linken Körperseite mit einem dislozierten Bruch des linken Flügels (Abbildung unten a), ein linksseitiges Hämatom hinter dem Brustbein, zahlreiche linksseitige Leberrisse mit Durchbohrung der linken Lunge und einem Bruch der unteren Brustwirbelsäule (Abbildung unten b)
Die 3D-Oberflächenscans wurden mit einer Software bearbeitet, die eine Übereinanderlagerung der Bilder ermöglicht (Superimposition) wodurch ersichtlich wurde, daß der Schnabel des Bussards in Form, Dicke und Länge sehr gut zu der Gesichtswunde des Verstorbenen paßte.
Die DNA-Analyse der Proben vom Vogelschnabel schließlich ergab eine sehr geringe DNA-Konzentration und erbrachte daher nur ein Teilmischprofil, das aber in bis zu 12 darstellbaren von 16 getesteten STR-Systemen dem Vergleichsprofil des Verstorbenen entsprach, womit er als Miturheber der Blutspur in Betracht kam. Zudem gab es zusätzliche Signale, die nicht vom Verstorbenen stammen konnten und auf drop-in-Artefakte oder Kontamination zurückgeführt wurden. In den Proben von den Klauen und der Schwanzfeder konnte hingegen keine menschliche DNA gemessen und daher daraus kein DNA-Profil erstellt werden.
Eine Anfrage bei der schweizerischen Vogelwarte in Sempach zum Verhalten von Bussarden ergab schließlich, daß diese Tiere nur extrem selten und dann meist zur Verteidigung ihrer Nester Menschen angreifen wobei es nur zu kleineren Verletzungen komme, daß allerdings schon mehrfach beobachtet worden sei, daß Mäusebussarde Scheinangriffe von hinten auf Jogger und Radfahrer durchgeführt hätten, ohne daß es allerdings zu Körperkontakt gekommen sei.
Wenn man nun diese Befunde, die aus verschiedenen forensisch-wissenschaftlichen Disziplinen stammen, zusammennimmt, ergibt sich ein anderes Bild des Unfallgeschehens als zunächst vermutet. Das wahrscheinlichste Szenario ist demnach, daß der Motorradfahrer während des Überholvorgangs mit dem von rechts kommenden Vogel zusammenstieß, woraufhin es zu einem kurzen „Kampf“ kam, wobei der Bussard dem Fahrer mit dem Schnabel ins Gesicht hackte und die festgestellte Wunde verursachte, wodurch der Fahrer die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor und mit dem entgegenkommenden Auto kollidierte. Die Untersuchung des Helms erbrachte keine Hinweise, die dagegen sprachen, daß das Visier beim Zusammenprall mit dem Vogel offen war oder während des „Kampfes“ hochgeklappt wurde und die Tatsache, daß sich die Wunde auf der linken Gesichtsseite befand, wohingegen die Verletzungen des Vogels auf einen Anflug von rechts hindeuten, spricht dafür, daß es nicht nur einen kurzen Auf- und Abprall, sondern eine Art „Kampf“, im Rahmen dessen der Bussard mit dem Schnabel gehackt hatte, gegeben hatte.
Dafür sprechen auch die DNA-Befunde, die einen starken Hinweis auf DNA des Fahrers auf dem Schnabel des Vogels gaben. Die mindere Qualität des DNA-Profils rührt möglicherweise von der chemischen Degradierung der DNA durch das Benzin her, mit dem der Vogel durchtränkt war.
Nach Abschluß der forensischen Ermittlungen stellte sich bei der Polizei ein Augenzeuge vor, der das Unfallgeschehen beobachtet hatte und die forensische Rekonstruktion der Ereignisse vollständig bestätigte: er hatte gesehen, wie der Fahrer, der gerade das Auto vor ihm überholte, von rechts von einem Vogel in vollem Flug auf die Brust getroffen worden war, woraufhin sich ein kurzes „Gerangel“ entspann, bei dem der Fahrer nach links verriß und in das entgegenkommende Fahrzeug krachte.
Dieser erste Bericht in der forensischen Literatur über einen tödlichen Verkehrsunfall eines Motorradfahrers, der durch einen Vogel verursacht wurde, belegt anschaulich den Wert rechtsmedizinischer Institute (mit guter Ausstattung!) und der durch sie ermöglichten transdisziplinären forensisch-wissenschaftlichen Zusammenarbeit bei der Rekonstruktion komplexer Unfall- oder Tatgeschehen.
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Referenzen:
[1] Tschui, J., Feddern, N., Schwendener, N., Campana, L., Utz, S., Schweizer, M., … & Zech, W. D. (2015). When the prey gets too big: an uncommon road accident involving a motorcyclist, a car and a bird. International journal of legal medicine, 1-5.
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