Die forensische Genetik spielt neben aktuellen Fällen auch bei der Klärung und Lösung historischer Fragen und Rätsel, wie dem Schicksal der Zarenfamilie Romanov, den (vermeintlichen) Schädeln Schillers und Hitlers und vielen anderen, davon einige ich hier schon beschrieben habe, immer wieder eine entscheidende Rolle.
Von einem weiteren interessanten Fall [1] will ich heute hier berichten: Es ist das Jahr 1942, Ende Oktober, die Nationalsozialisten halten Polen besetzt. In Biaylstock haben sie gerade drei Offiziere der polnischen Heimatarmee, der größten militärischen Widerstandsorganisation im WWII, festgenommen. Doch in der Nacht auf den 1.11. werden diese aus dem Gestapo-Gefangenenlager von einem Wärter namens Zbigniew Récko, der ein Agent der Kampforganisation Ost war und bei der Aktion einen deutschen Wächter erschoß, befreit. Als Vergeltung für die Flucht und den erschossenen Wächter ordnete Werner Fromm, SSPF in Bialystock, die Erschießung von 25 Gefangenen, die meisten davon Soldaten und Kollaborateure der Heimatarmee, aus einem örtlichen Gefängnis an. Die Hinrichtung fand am 5.11.42 im Garten des Gefängnisses statt, nach Augenzeugenberichten wurden aber „nur“ 24 Gefangene erschossen.
Zwei Jahre später, am 14.11.44, marschierten sowjetische Truppen in Bialystock ein und besetzten es. Ein Komitee aus örtlichen Zivilisten führte eine Exhumierung im Gefängnisgarten durch und barg die sterblichen Überreste von 36 Menschen. Trotz der abweichenden Zahl und der Tatsache, daß die bereits stark verwesten Überreste, die lediglich anhand von Kleidungsresten zugeordnet wurden, nicht zuverlässig identifiziert werden konnten, wurden sie als zu den Opfern der Hinrichtung vom 5.11.42 gehörig erklärt und schließlich feierlich auf einem Militärfriedhof bestattet. Soviel zur Vorgeschichte.
Das polnische Institut für Nationales Gedenken (IPN) befaßt sich heute neben den Nazi-Verbrechen auch mit den Verbrechen des kommunistischen Regimes am polnischen Volk, das nach der Zeit des WWII Polen beutelte und unter Stalin ca. 30.000 Menschen das Leben kostete. Die genau Zahl ist unbekannt, weil viele Hinrichtungen und Massenbegräbnisse im Geheimen durchgeführt wurden. Im Jahr 2012 begann das Institut, nach versteckten Massengräbern von Opfern des Kommunismus zu suchen. Dafür wurde eigens die „Polnische Genetische Datenbank von Opfern des Totalitarismus“ (PBGOT) gegründet [2]. Es werden modernste forensisch-genetische Methoden eingesetzt, um die Überreste nicht identifizierter Opfer der kommunistischen und nationalsozialistischen Regimes identifizieren zu können. Die Datenbank wurde so entworfen, daß sie als zentrale Speicherstätte für die genetische Information aus der DNA der Opfer und von deren nächsten Verwandten dienen kann, damit durch Zusammenführung dieser Information die Identifizierung der Opfer ermöglicht werden kann. Sie enthält aber zusätzlich auch historische und archäologische Daten.
Im Rahmen des Projekts wurde inzwischen schon eine Reihe von Exhumierungen durchgeführt, eine davon in Bialystock, wo sich der Aussage lokaler Historiker zufolge mitten im Ort ein Gefangenenlager befunden hatte, das auch schon vor dem Einzug der Nationalsozialisten existiert hatte und wo nach dem WWII geheime Begräbnisse von Opfern des kommunistischen Regimes stattgefunden hätten.
Für die Exhumierung im Bereich des Gefängnisgartens, deren erste Phase 2013 begann und während derer nur zwei Skelette gefunden und zunächst dort belassen worden waren, mußte, um die ursprüngliche Anordnung der übrigen Überreste in nicht zu stören, erst noch ein Gebäude, das in den 60er-Jahren offensichtlich exakt über dem größten Teil der Begräbnisstätte errichtet worden war, abgerissen und vorsichtig abgetragen werden. Im Mai 2014 ging es dann weiter und wurden die skelettierten Überreste weiterer 22, insgesamt also von 24 Menschen gefunden.
Die charakteristische Anordnung der Skelette sowie die in der Grabstelle gefundenen 22 Patronenhülsen und 20 Projektile begründeten die Hypothese, daß es sich bei dem Fund um die Opfer einer Hinrichtung durch Erschießen handle. Dafür sprach auch, daß 18 der Skelette Anzeichen von Schußverletzungen aufwiesen. Im Grab fanden sich außerdem 223 Gegenstände, derer 157 als persönlicher Besitz (v.a. Schmuck und Devotionalien, darunter ein Teil eines Rosenkranzes) bestimmten Opfern zugeordnet werden konnten, sowie Reste von Kleidung, etwa Gürtelschnallen, Uniformschließen, zahlreiche Knöpfe, ein Teil einer Mütze.Ausgehend von dem gefundenen Massengrab stellten nun Historiker des IPN eine Liste von 21 hingerichteten Opfern zusammen (drei blieben unbekannt), von denen sich in manchen Fällen noch nahe Verwandte (Eltern, Geschwister), die jedoch meist bereits verstorben waren, ermitteln ließen. Diese Arbeit war schwierig und mühselig, da man aus Gründen der Pietät auf die Einbeziehung von Massenmedien bei der Suche verzichtete. Während der Prozeß noch andauerte, meldete sich ein Mann beim IPN, dessen Großvater in den 40er-Jahren hingerichtet worden war. Es war nicht klar, ob diese Hinrichtung in einem Zusammenhang mit dem Massengrab stand, doch man entschloß sich, dennoch eine DNA-Probe des Mannes in die PBGOT einzuspeisen.
Und in der Tat: nachdem man mit der DNA-Analyse der gefundenen Überreste begonnen hatte, war die erste Übereinstimmung, die man fand, die der Y-chromosomalen DNA-Profile des Mannes und eines der Opfer. (Hinweis: im Gegensatz zu autosomalen STR-Systemen werden y-chromosomale STR-Systeme als Haplotyp ohne Rekombination, sozusagen en bloc in väterlicher Linie weitervererbt, so daß alle in väterlicher Linie verwandten Männer denselben y-chromosomalen Haplotypen besitzen.) Wegen der Entferntheit der Verwandtschaft und mangels weiterer historischer Anhaltspunkte konnte der Tote zwar noch nicht als identifiziert gelten, doch gab es nun einen Ausgangspunkt, weiteres Referenzmaterial für die anderen Opfer zu sammeln. Folgende Informationen zu den Opfern von 1942 konnten bislang zusammengetragen werden:
Nachdem durch den Mann, der sich gemeldet hatte und die Übereinstimmung seiner DNA mit der eines der Opfer sich der Verdacht erhärtete, daß es sich bei dem Fund nicht um Opfer des kommunistischen Regimes sondern stattdessen jener Hinrichtung der Nazis von 1942 handeln könnte, ergaben weitere Nachforschungen, daß sogar der Sohn jenes Opfers (BO) noch lebte, allerdings in den USA, die Familie in Polen jedoch keinen Kontakt zu ihm habe. Dennoch diente diese Erkenntnis als Ausgangspunkt, daß von den lebenden Verwandten zweier weiterer Opfer (unterstrichen in der Tabelle), deren DNA erfolgreich aus den Knochen extrahiert und profiliert worden war, Material gesammelt werden konnte. Und in der Tat ergab sich in beiden Fällen (auch bei sehr konservativ gesetzten a-priori-Wahrscheinlichkeiten ) eine sehr hohe Verwandtschaftswahrscheinlichkeit, konnten die Opfer also mit ausreichender Sicherheit als identifiziert gelten. Die Identifikation der übrigen Opfer dauert noch an.
Man kann also festhalten, daß nach diesen Funden und Befunden die existierenden historischen Aufzeichnungen hinsichtlich der Erschießungsopfer von 1942 revidiert werden müssen und daß 1944 offenbar andere Leichenteile als angenommen exhumiert und umgebettet worden sind. Dieser Erfolg unterstreicht wieder einmal die Bedeutung transdiziplinärer Zusammenarbeit bei solchen Operationen (zu denen im weiteren Sinne auch das Feld der “Disaster Victim Identification” zu zählen ist) denn diese Erkenntnisse wären ohne die Integration der hier beschriebenen forensisch-genetischen und -anthropologischen Untersuchungsergebnisse nicht möglich gewesen. Insbesondere die genetischen Untersuchungsmethoden haben überdies dank kontinuierlicher Forschung große Fortschritte gemacht und wären noch vor 10 Jahren wesentlich schwieriger gewesen und vergleichbare Projekte zu dieser Zeit waren deutlich weniger erfolgreich [3,4].
Ein Problem bei der Identifikation nach lange zurückliegenden Ereignissen aber ist und bleibt die geringe a-priori-Wahrscheinlichkeit für Verwandtschaft, die man ansetzen muß und die sich auf anthropolgische und/oder historische Daten und Befunde, z.B. Aussagen von Zeuge, stützen muß, denn häufig ist nicht einmal klar, so auch in Bialystock, ob die Fundstelle, z.B. ein Massengrab, nur einem oder doch mehreren Ereignissen zuzuordnen ist. Umso wichtiger ist es, daß, wie auch in diesem Fall geschehen, die Exhumierungen basierend auf Archivdaten durchgeführt werden und daß die am Projekt beteiligten Historiker kontinuierlich alle verfügbaren Daten zur Grabungsstätte und der Umgebung auswerten und diese Ergebnisse in die Analyse einfließen lassen, ggf. unter Hinzuziehung neuer Details, wie der Information durch lebende Verwandte, die sich von sich aus melden (s.o.). Zusammen mit in der Grabstelle entdeckten Gegenständen und anthropologischen Befunden können so die Werte für die anzunehmende a-priori-Wahrscheinlichkeit verbessert und schließlich die Identifikation der Verstorbenen erleichtert werden.
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Referenzen:
[1] Ossowski, A., Diepenbroek, M., Zwolski, M., Falis, A., Wróbel, M., Bykowska-Witowska, M., … & Kupiec, T. (2017). A case study of an unknown mass grave—Hostages killed 70 years ago by a Nazi firing squad identified thanks to genetics. Forensic Science International, 278, 173-176.
[2] Ossowski, A., Kuś, M., Kupiec, T., Bykowska, M., Zielińska, G., Jasiński, M. E., & March, A. L. (2016). The Polish genetic database of victims of totalitarianisms. Forensic science international, 258, 41-49.
[3] Gojanović, M. D., & Sutlović, D. (2007). Skeletal remains from World War II mass grave: from discovery to identification. Croatian medical journal, 48(4), 520.
[4] Palo, J. U., Hedman, M., Söderholm, N., & Sajantila, A. (2007). Repatriation and identification of Finnish World War II soldiers. Croatian medical journal, 48(4), 528.
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