Als molekulare Ballistik bezeichnen wir die molekularbiologische Untersuchung von Spuren, die bei Schüssen mit Feuerwaffen auf biologische Ziele entstehen. Diese Spuren können z.B. Backspatter (Rückschleuderspuren) oder auch Forwardspatter sein.

Dieses Jahr feiert das Forschungsfeld  der molekularen Ballistik, das ich seinerzeit mit einem Kollegen zusammen begründet habe, seinen 10. Geburtstag. Eine gute Gelegenheit also, über aktuelle Forschungsergebnisse zu berichten, so wie Anfang dieses Jahres, als ich unser neu entwickeltes experimentelles Schädelmodell vorgestellt hatte.

Inzwischen haben wir auf einen Haufen dieser Modelle geschossen, um unterschiedliche Fragestellungen und Aspekte des Schußvorgangs zu untersuchen. Heute berichte ich von unserer Studie, in der es darum ging, zu prüfen, ob es einen Zusammenhang zwischen der Menge und Verteilung des Backspatters auf/im Inneren der Waffe und/oder der Ausprägung des Wundkanals im Inneren des Gelatinekerns im Schädel gibt. (Als Vorbereitung und zum besseren Verständnis für diesen Artikel empfehle ich die Artikel zum Schädelmodell (s.o.) und zur Triple-Contrast-Methode.)

Die (gute) Frage nach der Entfernung und wie weit eigentlich Backspatter „fliegt“, wurde und wird uns immer wieder gestellt. Mit einer früheren Doktorandin hatte ich das daher bereits qualitativ untersucht und wir waren zum dem Schluß gekommen, daß entgegen der Erwartung Backspatter im Inneren von Waffen kein reines Nahschußphänomen ist, sondern bei Schwußentfernungen von bis zu 30 cm auftreten konnte (von weiter weg hatten wir es damals gar nicht erst versucht) [1]. Nun aber wollten wir es genauer wissen, d.h. eine quantitative Analyse durchführen, denn wenn es wirklich möglich wäre, von Wundkanal und/oder Backspatterverteilung und/oder –menge die Schußentfernung abschätzen oder gar berechnen zu können, wäre das natürlich eine extrem hilfreiche Entdeckung und von großem Wert für künftige Ermittlungen für die Rekonstruktion von Schußwaffendelikten.

Zum Experiment:

Die triple-contrast-Dotierung unseres Schädelmodells erlaubt es ja, damit Backspatter zu generieren, aber auch, nach dem Schuß parallel bildgebende (durch CT-Analyse) und visuelle Untersuchungen (durch serielle Lamellierung) des Wundkanals im Inneren des Gelatinekerns vorzunehmen. Nur so kann man Menge und Verteilung des Backspatters auch mit der Ausprägung des Wundkanals korrelieren.

Um nun den Einfluß der Schußentfernung auf Backspatter und Wundkanal zu messen, haben wir mit verschiedenen Waffen (Revolver (CGT Model 36) und Pistole (Glock 19)) aus verschiedenen Entfernungen (0, 5, 10, 15, 20, 30 und 50 cm) auf unser Modell geschossen, bzw. von unserem bewährten Sachverständigen für Waffen und Munition schießen lassen und zwar jede Kombination (Waffentyp/Entfernung) als dreifaches Replikat, um Schwankungen, die durch das freihändige Schießen entstehen, feststellen zu können. Alle Schüsse gingen in den Hinterkopf des Modells, um eine typische Situation bei Tötungsdelikten mit Verwendung einer Feuerwaffe zu simulieren:

so sieht ein Schädel nach einem homizidalen Hinterhauptsschuß aus. Gesundheitlich nicht zu empfehlen.

Nach dem Schuß wurde der sichtbare Backspatter auf Waffe, Schütze und in der Umgebung dokumentiert

wer denkt, Leute erschießen ist eine saubere Sache, weil er bei CSI noch nie Backspatter gesehen hat, sollte weniger CSI gucken. Am besten gar nicht. Blogs sind besser 🙂

und der Backspatter im Inneren der Waffe sorgfältig und gemäß forensischer Standards gesichert.

Die beschossenen Modelle wurden eingesammelt und jeweils am Folgetag durchs CT geschickt, danach geöffnet, der Gelatinekern entnommen, der Wundkanal freipräpariert und in 1 cm dicke Scheiben lamelliert, anhand derer dann das Wundprofil erstellt wurde:

Die Abstriche mit den Backspatterproben wurden einer forensischen DNA-Analyse mit Quantifizierung und DNA-Profilerstellung unterzogen, so daß wir eine Vorstellung von der enthaltenen DNA-Menge und –Qualität erhielten. Diese Werte, die Schußentfernung und das Wundprofil bei jedem Schuß wurden dann verglichen und nach systematischen Zusammenhängen gesucht.

Und tja, was soll ich sagen? Es gab keine. Es konnte, außer bei den aufgesetzten Schüssen mit 0 cm Schußentfernung, weder eine Korrelation von Schußentfernung zu DNA-Ausbeute aus dem Backspatter, noch von Schußentfernung zu Wundkanal, noch von Wundkanal zu DNA-Ausbeute konstituiert werden.

Anhand folgender Diagramme erkennt man, wie heterogen und unsystematisch die Verteilung von DNA-haltigem Backspatter ist. Was man nicht sieht: auch zwischen den einzelnen Replikaten waren große Unterschiede feststellbar, der händische Schußvorgang stellt also ebenfalls eine wichtige Einflußgröße dar.

Verteilung von DNA-Mengen nach Pistolenschüssen. Das Tortendiagramm gibt jeweils die Summe der DNA-Menge aus identischen Replikaten pro Schußentfernung wieder, die aus den gesamten gesicherten Backspatterspuren stammt. Die Balkendiagramme zeigen die Verteilung der Werte nach Probenahmestelle jeweils als Summe der Replikate: A: Außen an der Waffe, auf Rahmen und Schlitten; B: Innere Oberfläche des Laufs; C: Äußere Laufoberfläche und der Bereich um die Feder bei geöffnetem Schlitten, X: andere Oberflächen (Rückseite des Schlittens)

 

Verteilung von DNA-Mengen nach Revolverschüssen. Das Tortendiagramm gibt jeweils die Summe der DNA-Menge aus identischen Replikaten pro Schußentfernung wieder, die aus den gesamten gesicherten Backspatterspuren stammt. Die Balkendiagramme zeigen die Verteilung der Werte nach Probenahmestelle jeweils als Summe der Replikate: A: Außen an der Waffe; B: Innere Oberfläche des Laufs; X: andere Oberflächen (Trommel, Abzugsschutz)

Und während die DNA-Mengen bunt gestreut waren, ähnelten sich die Wundprofile bis auf jenes vom aufgesetzten Schuß, bei dem jeweils zusätzlich eine Schmauchhöhle entstanden war, so sehr, daß keine signifikanten Unterschiede festgestellt werden und aus ihnen daher kein Rückschlüsse auf die jeweilige Schußentfernung gezogen werden konnten.

Man erkennt gut, wie der aufgesetzte Schuß mit 0 cm Schußentfernung nahe der Einschußstelle eine große Schmauchhöhle aufreißt, während die anderen Profile mit Schußentfernungen von 5 – 50 cm sich nicht signifikant voneinander unterscheiden

Was macht man nun aus diesen Daten und Erkenntnissen und was lernen wir daraus? Die Abschätzung der Schußentfernung anhand des Spurenbildes ist und bleibt ein kompliziertes Problem. Freihändige Schüsse, selbst wenn von einem erfahrenen Schützen unter kontrollierten Bedingungen ausgeführt, sind ein sehr chaotisches, kaum reproduzierbares Geschehen und desgleichen die durch den Schuß bzw. die Wechselwirkungen von Projektil und Ziel ausgelösten Effekte. Es kann also weder die Auffindbarkeit noch die Abwesenheit (einer bestimmten Menge) von Backspatter sicher einer bestimmten Schußentfernung unterhalb von 50 cm zugeordnet werden und es ist davon abzuraten, die Schußentfernung aus einer quantitativen Backspatteranalyse zu schätzen!

Auch diese Studie hat aber erneut gezeigt, daß Backspatterspuren an verschiedenen Stellen, äußeren wie inneren Oberflächen, von Schußwaffen gefunden und von dort gesichert werden kann und zwar bei allen Schußentnfernungen. Zudem ließ sich aus dem Großteil der gesicherten Backspatter ein vollständiges DNA-Profil des Blut-Donors erstellen. Die Studie unterstreicht damit abermals die Wichtigkeit, Backspatter als Spurenart sehr ernst zu nehmen und alle potentiellen Stellen, wo er auffindbar sein und wichtige forensisch-molekularbiologischer Evidenz liefern kann, bei allen Ermittlungen zu Straftaten mit Schußwunden immer und standardmäßig zu beproben und somit strafrechtliche Ermittlungen regelmäßig um molekularballistische Aspekte zu erweitern!

Ganz wichtig: Auch ein „negatives“ Ergebnis, bzw. dieses Ergebnis, das unsere Hypothese, daß es einen Zusammenhang zwischen Schußentfernung, Backspattermenge und/oder Wundprofil gebe, falsifiziert, ist natürlich wichtig und muß und sollte der wissenschaftlichen Gemeinschaft mitgeteilt werden. Das haben wir getan und so wurde unsere Studie kürzlich im International Journal of Legal Medicine veröffentlicht [2].

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Referenzen:

[1] Grabmüller, M., Cachée, P., Madea, B., & Courts, C. (2016). How far does it get?—The effect of shooting distance and type of firearm on the simultaneous analysis of DNA and RNA from backspatter recovered from inside and outside surfaces of firearms. Forensic science international, 258, 11-18.

[2] Euteneuer, J., Gosch, A., Cachée, P., & Courts, C. (2020). A distant relationship?—investigation of correlations between DNA isolated from backspatter traces recovered from firearms, wound profile characteristics, and shooting distance. International journal of legal medicine, 134(5), 1619-1628.

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Kommentare (12)

  1. #1 Kieler
    08/10/2020

    hochinteressant, danke für den Bericht.

  2. #2 Adent
    08/10/2020

    @CC
    Sehr nice!
    Habt ihr das auch schon mal mit einer fixierten Schussanlage gemacht? Ist natürlich weit weg von realen Bedingungen, würde aber den Einfluß der Freihändigkeit zeigen.

  3. #3 Cornelius Courts
    09/10/2020

    @Adent: “mit einer fixierten Schussanlage gemacht?”

    Nein, weil es, wie Du schon sagtest, so weit weg von realistisch ist. Es wäre zwar grundsätzlich interessant, den Einfluß von Freihändigkeit zu kennen, aber der Nutzen in Realfällen wäre quasi nicht vorhanden, weil dort immer freihändig geschossen wird und die Modelle zu teuer und die Schußversuche zu aufwendig sind (jedenfalls für uns), um auch diesen Aspekt zu erforschen.
    Aber wenn es jemand machen will: nur zu, die Studie lese ich mit Interesse 🙂

  4. #4 Florence
    09/10/2020

    Ich find die Schädelmodelle sehr spannend, hast du da in der Vergangenheit schon was zu geschrieben?
    Wo ist das Blut platziert?
    Ist es ein Scherz oder hat es inhaltliche Bewandtnis, dass der Schädel eine Knollennase hat?

  5. #5 Spritkopf
    09/10/2020

    @Cornelius

    Als jemand, der keinen blassen Dunst von deinem Fachgebiet hat, würde ich wahrscheinlich so herangehen, dass ich die Waffe mit einer Vorrichtung fixiere, damit reproduzierbare Schussrichtungen erzielt werden und dann den Testschädel aus unterschiedlichen Richtungen beschieße, um zu sehen, ob sich je nach Eintrittsort und Eintrittswinkel unterschiedliche Backspatter-Kegel (ich nenne die jetzt einfach mal so) ergeben.

  6. #6 Cornelius Courts
    09/10/2020

    @Florence: “hast du da in der Vergangenheit schon was zu geschrieben?”

    Logo: https://scienceblogs.de/bloodnacid/2020/01/19/molekulare-ballistik-entwicklung-eines-neuen-anatomischen-schaedelmodells/?all=1 (ist auch oben verlinkt)

    “Ist es ein Scherz oder hat es inhaltliche Bewandtnis, dass der Schädel eine Knollennase hat?”

    😀 nee, das ist der Bauschaum, der beim Abdichten aus der Nase quillt. Den brauchen wir, damit die flüssige Gelatine im Schädel nicht ausläuft

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    @Spritkopf: “würde ich wahrscheinlich so herangehen, dass […]”

    ja, das sind alles interessante Aspekte und bei so einer inhomogenen Struktur wie einem menschlichen Schädelknochen sicher auch relevant, aber für eine Vorhersage von Effekten wahrscheinlich nicht nutzbar und wie schon in #3 erwähnt zu aufwendig (jedenfalls für uns)

  7. #7 Spritkopf
    09/10/2020

    @Cornelius

    Aus deinem Artikel (und anderen von dir verlinkten Artikeln) entnehme ich, dass es einen Unterschied zwischen freihändigem Schießen und einer in einer Vorrichtung fixierten Waffe gibt. Liegt das daran, dass beim freihändigen Schießen der Rückstoß die Hand des Schützen nach oben drückt und somit der Backspatter unter einem anderen Winkel auf die Waffe trifft?

  8. #8 Uli Schoppe
    10/10/2020

    Mach Euch das Anschrauben des Schädelmodells keinen Strich durch die Rechnung? Mein Kopf ist nicht an meinen Schultern mit Klemmen fixiert 😉

  9. #9 Joseph Kuhn
    10/10/2020

    @ CC:

    Laienfrage: Warum ist die Differenzierung des Nahraums bis 50 cm so wichtig? Und bis in welche Schussentfernung etwa findet man auf Waffen Opfer-DNA?

  10. #10 Cornelius Courts
    11/10/2020

    @Spritkopf: “Aus deinem Artikel (und anderen von dir verlinkten Artikeln) entnehme ich, dass es einen Unterschied zwischen freihändigem Schießen und einer in einer Vorrichtung fixierten Waffe gibt.”

    genau

    “Liegt das daran, dass beim freihändigen Schießen der Rückstoß die Hand des Schützen nach oben drückt und somit der Backspatter unter einem anderen Winkel auf die Waffe trifft?”

    exakt und wie wir aus der Studie zum Schädelmodell und den Hochgeschwindigkeitsaufnahmen, die wir gemacht haben, wissen, koinzidiert der Backspatter”flug” zeitlich genau mit dem Auskeilen der Waffe beim Rückstoß. D.h. ein paar ms ist der Lauf aus dem Flugweg des Backspatters herausgehoben und senkt sich dann wieder hinein. Das hat natürlich einen Einfluß darauf, wie viel Backspatter in den Lauf gelangen kann. Und auf dieses Verhältnis wiederum hat die Schußdistanz eine Auswirkung, weil der Backspatter bei schüssen aus weiterer Entfernung länger braucht, wenn Du so willst, um bis zur Waffe gelangen, die also länger Zeit hat, sich wieder abzusenken

    ___
    @Uli Schoppe: “Mach Euch das Anschrauben des Schädelmodells keinen Strich durch die Rechnung? Mein Kopf ist nicht an meinen Schultern mit Klemmen fixiert”

    Nee, das ist kein Problem, wegen der Trägheit (die Masse des Kopfes ist ja um mehrer Größenordnungen höher als die des Projektils): Das Projektil ist so schnell durch den Schädel durch, daß die Art der Befestigung keinen Einfluß auf irgendetwas hat. Das kann man in Superzeitlupe gut erkennen.

    ___
    @Jospeh: “Warum ist die Differenzierung des Nahraums bis 50 cm so wichtig?”

    Die ursprüngliche Hypothese war ja, daß es einen Zsh. gibt. D.h., wir wollten ein Regressionsmodell haben, aus dem man idealerweise vom Spurenbild die Entfernung berechnen kann. Bis 50 cm sind wir gegangen, weil wir irgendwo Schluß machen mußten, hätten auch 1 m nehmen können. Generell ist aber die Schußentfernung zu kennen sehr wichtig für die Rekonstruktion von Schußwaffendelikten.

    “Und bis in welche Schussentfernung etwa findet man auf Waffen Opfer-DNA?”

    Das wissen wir noch nicht abschließend, aber es ist auch bei 50 cm nicht auszuschließen (einige Backspatterspuren gingen bis zu 3 m weit). Zudem hängt es auch von Waffe und Munition und getroffenem Ziel und weiteren Umständen ab, weshalb diese Forschung so aufwendig ist.
    Klar sagen kann man im Moment nur: Backspatter in der Waffe ist kein reines Kontakt- oder Nahschußphänomen, auch bei höheren Entfernungen kann es auftreten.
    Klar ist auch, daß der Sniper in 400m Entfernung keine Sorge haben muß und ich denke, auch 20 m sind schon zu weit. Aber im 1-3 m-Raum würde ich mich noch nicht festlegen…

  11. #11 Joseph Kuhn
    11/10/2020

    @ CC:

    Danke, interessante, wenn auch etwas makabere Forschungsfragen.

  12. #12 Cornelius Courts
    11/10/2020

    @Jospeh: “wenn auch etwas makabere Forschungsfragen.”

    ja, das kann bisweilen so anmuten.
    Aber wenn wir besser und v.a. objektiver Schußwaffendelikte aufklären wollen, müssen wir da ran.
    Und für die, die sich gerade ertappen dabei, zu denken: aber in D. gibt es doch fast keine Schußwaffen(delikte), schrieb ich dies:

    https://scienceblogs.de/bloodnacid/2017/01/11/warum-sollte-man-ueber-schusswaffen-forschen/