Ich bin zurück vom 29. Weltkongress der ISFG, der die weltweit wichtigste und größte Fachkonferenz für das Feld der forensischen Genetik darstellt: diesmal waren wir vom 28.08.-02.09. in Washington DC in den USA. Eigentlich hätte das schon letztes Jahr sein sollen, seit der letzten Tagung in Prag sind immerhin drei Jahre vergangen, aber wegen “C-Wort” kam alles anders und ab jetzt finden die ISFG-Tagungen in geradzahligen Jahren statt. Washington ist ja schon beeindruckend, mit all den Protzbauten und natürlich seiner Geschichte und seinem politischen Gewicht, aber nicht eigentlich schön. Und das Wetter, das wir dort hatten, war eine Zumutung: sehr heiß und dazu überaus schwül, so daß man nach 100 m gehen in gemächlichem Tempo ofenkartoffelmäßig durchgebacken und -geschwitzt war. Aus diesem Grund habe ich auch die touristischen Aktivitäten (alles, was draußen war) auf ein Minimum beschränkt, es war schlicht nicht auszuhalten.
Zumindest die Casa de Biden habe ich gesehen:

hab geschellt, hat keiner aufgemacht :-/

Und den Pinnökel:

und das Lincoln Memorial vor dem Reflektierbecken:

Der Kongress fand in einem riesigen Hotel statt, das über vier gewaltige Untergeschosse verfügt, wo ausreichend Platz für die Hauptveranstaltung mit >700 Delegierten, verschiedene Workshops, die Industrie-Aussteller und die Posterwände (es gab über 200 Stück) war. Über die Einrichtung / Farben dort läßt sich sicher streiten, aber was wirklich richtig mies war und auch allenthalben einen recht schlechten Eindruck hinterlassen hat, war das Catering für unsere Tagung: in den Kaffeepausen gab es, wenn man Glück hatte, gearde soviel eines brackwasser- und kernbrennelementkühlflüssigkeitsartigen, nur sehr entfernt kaffeeähnlichen Heißgetränks, daß jeder einen Pappbecher davon bekommen konnte (einige Leute sind stattdessen zum Starbucks im Erdgeschoss gegangen (ja, den gab’s) und haben viel Geld bezahlt, um wenigstens irgendwas, ggf. sogar Kaffee, zu trinken zu bekommen). Und zum Mittagessen gab es Pappkartons mit ‘ner Stulle, ‘nem Apfel, ‘ner kleinen Tüte Chips und ‘ner Büchse Pepsi drin. Alles wirkte knauserig und abgezählt und sehr sehr ungastlich, kein (!) Vergleich etwa zu Prag.

Deswegen war es übrigens ein Geniestreich einer ganz bestimmten Firma, bei ihrer Nische einen Barista samt Profimaschine hinzustellen, der einem richtig guten Kaffee gemacht hat, mit dem in der Hand man sich dann gleich die Produkte der Firma ansehen konnte 😉 – ich sage aber nicht, welche Firma das war

Aber ich war da ja nicht zum essen, sondern um was zu lernen (habe einen DNA-Transferworkshop besucht), Forschung zu präsentieren und mir die Forschung der Kollegen präsentieren zu lassen. Und so war auch meine Kölner Gruppe (inzwischen schon über ein Jahr!) mit insgesamt 4 Präsentationen (von 4 Leuten) sehr gut vertreten, wir hatten Poster zu drei Projekten:

hier geht es um die Lokalisierung der Einschußstelle am Kopf (also vorne, seitlich, hinten) durch Detektion von regionsspezifisch exprimierter RNA; übergeordnetes Thema: molekulare Ballistik

 

das ist Annicas DFG-gefrödertes Dr.-Projekt: es geht um das molekulare Alibi, die Bestimmung des Depositionszeitpunktes (Uhrzeit / Tageszeit) von Blutspuren anhand von differentiell exprimierter RNA; übergeordnetes Thema: forensische RNA-Analyse

 

das ist Max’ EU-gefördertes Dr.-Projekt: es geht um die Anwendung von MPS-Technologie zur Messung von RNA-Expression mit dem Ziel der Bestimmung und Individualisierung (durch cSNPs) von Körperflüssigkeiten in forensischem Probenmaterial; übergeordnetes Thema: forensische RNA-Analyse

und einen Vortrag:

hier erzählt Jan gerade von seinem Dr. -Projekt und daß sich Populationen hinsichtlich des altersabhängigen Methylierungsgrads an bestimmten Stellen des Genoms unterscheiden und dies bei der forensischen Altersschätzung berücksichtigt werden muß

Es gab natürlich wieder viele interessante Vorträge und Poster, allerdings fand ich die Schwerpunkte dieses Kongresses weniger ansprechend als in den Vorjahren, da es viel um genetische Herkunft (Ancestry) und Abstammung (Paternity) ging und weniger um Spurenkontextualisierung, wie RNA-Analyse, DNA-Transfer etc. was ich ja persönlich spannender finde.

Besonders interessant fand ich daher einen Vortrag zum Einsatz von Bayes-Netzwerken (BN) in Fällen, in denen auch die Identifikation von Körperflüssigkeiten (was, wie geneigte Leser wissen, eines meiner eigenen Forschungsinteressen ist) eingesetzt wird. BN werden im Moment häufig genutzt, um alternative Erklärungen zum Zustandekommen von Spurenbildern unter Einbeziehung von möglichen DNA-Transferereignissen darzustellen und mathematisch zu vergleichen. Das Prinzip läßt sich auch auf Aussagen zum Vorhandensein (oder Fehlen) von bestimmten Spurenarten ausweiten. Im Gegensatz zu den bisher üblichen binären Aussagen (z.B.: Sperma-Vortest war positiv, Spur enthält also Sperma) kann der Einsatz von BN nun eine probabilistische Aussage zur Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Ergebniskonstellation (positive Vortests, bestimmte DNA-Menge in Spur etc.) unter Annahme einer bestimmten Hypothese (“Es gibt Sperma in der Spur” vs. “Es gibt eine unbekannte Substanz in der Spur”) ermöglichen [1]. Die Gruppe hat sogar eine App programmiert, mit der man solche Berechnungen durchführen kann. Schaue ich mir auf jeden Fall näher an.

Ein thematischer Schwerpunkt mit fünf Präsentationen, dessen Teil auch Jans Vortrag war, war die forensische Altersschätzung anhand der Analyse von Methylierungsmustern. Hier ging es unter anderem um die Vielfalt der Methoden, ihre Vergleichbarkeit und Einschränkungen und ihre Anwendung auf Material von Leichen und Hautproben. Außerdem wurde eine ziemlich futuristisch anmutende “Micro-Fluidic”-Variante (genannt “µCD”) zur schnelleren und effizienteren Durchführung solcher Untersuchungen vorgestellt. Seid Methylierungsanalyse zur Altersbestimmung auch von meinem eigenen Labor durchgeführt wird (seit ich in Köln bin nämlich), interessiere ich mich natürlich noch mehr dafür und sehe mich auch immer gerne nach möglichen Verbesserungen, Erweiterungen oder anderen Modifikationen um.

Faszinierend fand ich einen Vortrag aus München, der sich mit modernen forens.-genetischen Methoden zur Identifikation von mehr als 1 Mio. gefallener deutscher Soldaten (WWII) befasste, die nicht mehr anhand ihres Militärabzeichens identifiziert werden konnten, das die deutschen Soldaten damals trugen. Zu diesem Zweck wurde sogar eine neue Datenbank, die “German Genetic Database of Fallen Soldiers” gegründet. Anhand forensischer DNA-Phänotypisierung und der Schätzung der biogeographischen Herkunft anhand paternaler und maternaler Marker können heute solche Identifizierungen noch immer gelingen. Bei solchen Untersuchungen kann auch ein Tool helfen, das in einem weiteren Vortrag vorgestellt wurde [2], denn um männliche Abstammungslinien zu rekonstruieren, muß man den nächsten gemeinsamen Vorfahren durch Analyse von Y-chromosomalen STR-Systemen schätzen und mit dem Tool der Gruppe aus Leuven geht das jetzt deutlich besser.

Ein besonderes Schmankerl war natürlich die “Special Session: OJ Simpson Trial Panel”, in der ein paar der originalen Verfahrensbeteiligten, darunter  Rockne Harmon ,der damals Staatsanwalt war und die Sachverständigen Robin Cotton (DNA) und Bruce Weir (Biostatistik) zusammen mit einem ehem. US-Richter (Christopher Plourd) über den Fall diskutierten. Es ist mehr als 25 Jahre her (1995), dass O.J. Simpson vom Mord an seiner Ex-Frau und deren Freund freigesprochen wurde und doch bleibt dieser Fall einer der berüchtigtsten Strafprozesse in der amerikanischen Geschichte (weil alles dafür spricht, daß Simpson den Mord begangen hat und zivilrechtlich ja auch deshalb verurteilt wurde). Dieser “Jahrhundertprozess” hat dazu beigetragen, Kriminologie und forensische Wissenschaft ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken, sowie die Art und Weise, wie Geschworene und forensische Experten mit DNA als Beweismittel vor Gericht umgehen, nachhaltig verändert und gleichzeitig die Notwendigkeit verbesserter Maßnahmen für den Umgang mit Beweismitteln am Tatort und im Labor ans Licht gebracht. Bei der Panel-Diskussion kam natürlich nichts Neues heraus, aber es war sehr spannend und interessant, den Fall noch einmal in der Darstellung der Teilnehmer präsentiert zu bekommen.

Einen Vortrag fand ich hingegen nicht nur fehl am Platze sondern regelrecht ärgerlich: “Ethics as Lived Practice: Anticipatory capacity and ethical decision- making in forensic genetics“. Die britische Sprecherin dozierte mit einer Attitüde ziemlich unappetitlicher, woker Selbstgerechtigkeit von oben herab, daß die forensische Genetik ja ganz toll und wichtig sei, ABER häufig von uns nur “dünne Ethik” (= kurzsichtige Fokussierung auf Verfahren und die Betrachtung von Privatheit als einziges ethisches Anliegen und Technologie als bloßes Werkzeug) praktiziert werde und Ethik bei uns nicht oft genug “gelebte Praxis” sei. Belege dafür blieb sie schuldig, wie auch Ideen, wie man ihre persönlichen Vorstellungen einer ausreichend “dicken” (?) Ethik mit unserer sowieso schon viel zu knapp bemessenen Zeit und hohen Arbeitslast vereinbaren soll, die dazu führt, daß nur ein Bruchteil der Kollegen in der forensischen Genetik überhaupt zum Forschen kommt. Super nervige und übergriffige Nummer, fanden auch alle Kollegen, die ich auf den Vortrag ansprach >:-(

Bei der Hauptversammlung der ISFG-Mitglieder am Donnerstagabend schließlich wurde unter anderem nicht nur Peter Schneider fast einstimmung für gleich zwei Ämter gewählt :’-( , es wurde auch der Veranstaltungsort der ISFG Tagung 2026 bestimmt (2024 stand schon fest, da werden wir nach Santiago de Compostela gehen und nein, ich werde nicht den “Camino machen”). Beschämenderweise hatte die ISFG die Bewerbung Dubais akzeptiert und mithin ernsthaft erwogen, dort, wo man Menschenrechte nur als männlicher, heterosexueller, moslemischer Araber genießt, wo es, wie auch in Katar, Beispiele moderner Sklaverei gibt und wo Homosexualität verboten und mit Haftstrafe bedroht ist (s. auch Reisewarnung des ausw. Amtes) unseren Kongress stattfinden zu lassen. Ach ja, bevor das jetzt einer behauptet: Frauen sind dort nicht gleichgestellt, nur weil sie Autofahren und ein Geschäft gründen dürfen. Ich zitiere (und übersetze) mal:

Häusliche Gewalt ist in den VAE legal, weil der Islam es einem Ehemann erlaubt, seine Frau und minderjährige Kinder zu züchtigen oder zu disziplinieren. Leider nimmt die Polizei die Anzeigen von Frauen, die sich an die Polizei wenden, nicht immer ernst, weil sie als häusliche Privatangelegenheit betrachtet werden. Ehefrauen sind verpflichtet, ihren Ehemännern zu gehorchen. Vergewaltigungsopfer, die um Unterstützung bitten, können wegen unerlaubten Geschlechtsverkehrs angeklagt werden, was in den VAE illegal ist und unter Strafe gestellt wird.

Reizend, nicht wahr? Der perfekte Ort für einen Kongress, gell? Das andere Angebot kam aus Montreal und zum Glück stimmten die Delegierten mit überwältigender Mehrheit für die schöne Stadt im Osten Kanadas; ich freue mich schon darauf, in vier Jahren dorthin zu reisen (nach Dubai wäre ich nämlich nicht gegangen).

Sehr gut hat mir aber das Motto des Kongresses “In Science We Trust” gefallen, das nicht nur inhaltlich richtig ist, sondern in einem Land wie den USA sicher auch mit politischem Spin gedacht worden war.

Und in zwei Jahren, vorausgesetzt es passiert / eskaliert nicht wieder irgendwas, geht es dann zum 30. Jubiläum unseres Kongresses, wie erwähnt, in den Nordwesten von Spanien nach Santiago de Compostela. Freu mich schon drauf 🙂

___

Referenzen:

[1] Samie, L., Champod, C., Delémont, S., Basset, P., Hicks, T., & Castella, V. (2022). Use of Bayesian Networks for the investigation of the nature of biological material in casework. Forensic Science International, 331, 111174.

[2] Claerhout, S., Vanpaemel, S., Gill, M. S., Antiga, L. G., Baele, G., & Decorte, R. (2021). YMrCA: Improving Y‐chromosomal ancestor time estimation for DNA kinship research. Human Mutation, 42(10), 1307-1320.


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Kommentare (5)

  1. #1 Kollege
    21/09/2022

    Ich war auch da und stimme weitestgehend zu, wobei ich die Ancestry-Sachen sehr spannend fand (auch, wenn das in Deutschland (noch) nicht zulässig ist).
    Und ja, Essen und Kaffe waren wirklich unterirdisch.
    Aber insgesamt hat mir die Tagung doch gut gefallen.

  2. #2 Dr. Webbaer
    21/09/2022

    Hab selbst so zu tun, bin aber auch, genetisch sozusagen halb auch auf alliierter Seite gewesen :

    Faszinierend fand ich einen Vortrag aus München, der sich mit modernen forens.-genetischen Methoden zur Identifikation von mehr als 1 Mio. gefallener deutscher Soldaten (WWII) befasste, die nicht mehr anhand ihres Militärabzeichens identifiziert werden konnten, das die deutschen Soldaten damals trugen. Zu diesem Zweck wurde sogar eine neue Datenbank, die “German Genetic Database of Fallen Soldiers” gegründet.

    Dr. Webbaer war selbst Soldat und mag derartiges Versterben, das Gefallen-Sein meinend, nicht sonderlich.
    Vielen Dank auch für andere Ergänzungen.
    MFG
    WB

  3. #3 RPGNo1
    21/09/2022

    Einen Vortrag fand ich hingegen nicht nur fehl am Platze sondern regelrecht ärgerlich: “Ethics as Lived Practice: Anticipatory capacity and ethical decision- making in forensic genetics“. Die britische Sprecherin dozierte mit einer Attitüde ziemlich unappetitlicher, woker Selbstgerechtigkeit von oben herab, daß die forensische Genetik ja ganz toll und wichtig sei, ABER häufig von uns nur “dünne Ethik” (= kurzsichtige Fokussierung auf Verfahren und die Betrachtung von Privatheit als einziges ethisches Anliegen und Technologie als bloßes Werkzeug) praktiziert werde und Ethik bei uns nicht oft genug “gelebte Praxis” sei.

    Oh, das erinnert mich an die Diskussion zur Schließung der forensischen Genetik der Charité und die Eingaben seitens Frau Lipphardt und Hernn Moreau

  4. #4 Cornelius Courts
    22/09/2022

    @RPGNo1: “Oh, das erinnert mich an die Diskussion”

    Das nenne ich mal einen aufmerksamen Leser! 🙂

    “zur Schließung der forensischen Genetik der Charité und die Eingaben seitens Frau Lipphardt und Hernn Moreau”

    Da bist Du nicht alleine 😉

  5. #5 RPGNo1
    22/09/2022

    @CC

    Das nenne ich mal einen aufmerksamen Leser!

    Berufskrankheit! 🙂

    Was meinst du, wie oft ich in meinem Job eine Frage der folgenden Art erhalte: “Wir haben von Kunde X eine Frage zu ihrem Produkt Y erhalten. RPGNo1, du hast doch einen ähnlichen Fall im Jahr 2011 bearbeitet. Was hast du damals geantwortet?”

    RPGNo1 geht an die Arbeit und durchforstet die alten Ordner und archivierten Emails. 😀