Es ist dem australischen Justizssystem hoch anzurechnen, daß es diesen Aufwand betrieben hat. Denn am Ende befand man, daß es „erhebliche Zweifel an der Schuld von Frau Folbigg für jedes der ihr vorgeworfenen Verbrechen“ gebe und entließ Folbigg in die Freiheit. Nach der Untersuchung werden nun Justizreformen diskutiert, um ein „wissenschaftssensibleres“ Justizssystem zu schaffen und etwas wie die „Criminal Case Review Commission“, wie es sie in Großbritannien gibt, einzurichten. Die Kommission kann Fälle wieder aufnehmen, wenn es Fortschritte in der Wissenschaft gab und neue einschlägige Beweise und Erkenntnisse hervorgebracht wurden.
(In diesem Zusammenhang: Eines der bekanntesten Fehlurteile aus England war der Fall von Sally Clark, der auch meinen eignen ehemaligen Forschungsgegenstand, den plötzlichen Kindstod (SIDS), berührte. Leider hat sich Frau Clark von dem Unrecht, das ihr widerfuhr, nie erholt und ist an den Folgen 2007 gestorben.)
Ich finde, dieser Fall zeigt anschaulich, daß und wie Justiz und Wissenschaft zusammenarbeiten können und wie wichtig und entscheidend für die Gerechtigkeit eine solche Zusammenarbeit sein kann. Meines Erachtens ist dafür auch in Deutschland noch viel Spielraum. Aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich, daß Richter, aber auch Staats- und Rechtsanwälte, mal abgesehen vom CSI-Effekt, oft nicht den aktuellen Stand bzw. die Möglichkeiten der modernen forensischen Molekularbiologie kennen (dabei gibt es sogar ganz vernünftiges Info-Material dazu) und bestimmte Methoden, wie die forensische RNA-Analyse oder die Begutachtung auf Aktivitätenebene, die entscheidende Informationen liefern können, daher häufig und meist zum Nachteil des Falls nicht zur Anwendung kommen. Wir versuchen zwar, mit Fortbildungen dagegen anzuarbeiten, aber stellen immer wieder fest, daß sich die Fortbildungsinhalte innerhalb der jeweiligen Communitys nicht suffizient multiplizieren und daher eine flächendeckende Kenntniserweiterung nicht gelingt.
Ich selber tue, was ich kann, um zu helfen, diese Situation zu verbessern: neben meiner Beteiligung an Wiederaufnahme (s.o.) soll auch unser neues Projekt, das im Oktober starten wird, dazu beitragen: ein wichtiges Element des Projekt ist die Dissemination, d.h. die aktive Verbreitung der neuen Erkenntnisse aber eben auch der Grundlagen zu DNA-Transfer und der Begutachtung auf Aktivitätenebne. Die mit dem Projekt betraute Doktorandin wird zu diesem Zweck nicht nur auf den üblichen Kongressen sprechen, sondern in ganz Deutschland unterwegs sein, um das notwendige Wissen so weit und so zugänglich wie möglich zu verbreiten. In Köln arbeiten wir zudem gerade an Kooperationsideen mit meiner Kollegin Anja Schiemann von der juristischen Fakultät, um auch eine akademische Schnittstelle zwischen forensischer Wissenschaft und Justiz (bzw. Rechtswissenschaft) zu etablieren. Eine erste Manifestation dessen wird eine gemeinsame Vorlesungsreihe sein, zu der auch zwei Kollegen aus meinem Heimatinstitut zu Wundballistik und Blutspurenanalyse sprechen werden und die am 24. Oktober mit einer Auftaktveranstaltung von Anja Schiemann und mir beginnen wird:
__
Referenz:
[1] Brohus, M., Arsov, T., Wallace, D. A., Jensen, H. H., Nyegaard, M., Crotti, L., … & Schwartz, P. J. (2021). Infanticide vs. inherited cardiac arrhythmias. EP Europace, 23(3), 441-450.
Kommentare (13)