Es muß eine entsetzliche Erfahrung sein, zu Unrecht eines Verbrechens angeklagt, dafür verurteilt, für viele Jahre, Jahrzehnte sogar, eingesperrt, der Freiheit und seiner besten Jahre beraubt und je nach Tat auch der Ächtung des Gesellschaft ausgesetzt zu werden. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man so etwas aushält und wie man, wenn das Unrecht eines Tages erkannt, die Verurteilung aufgehoben und die Freiheit wiedererlangt wird, danach ein normales Leben führen kann und soll, in dem Land und in dem Staat, der einem das angetan hat.
Es muß im Interesse jedes freiheitlichen Rechtsstaats liegen, Justizirrtümer und Fehlurteile unbedingt zu vermeiden, dafür zu sorgen, daß sie so selten wie nur irgend möglich auftreten und sie, wenn sich eine Möglichkeit bietet, nachträglich aufzuheben und die Opfer zu kompensieren. Es versteht sich von selbst, daß dafür auch Ressourcen aufgewendet und Aufwand betrieben werden müssen und daß, wann immer die Wissenschaft zur Aufklärung einer Straftat beitragen kann, stets nur aktuellste und am besten von Daten gestützte wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden zur Anwendung kommen sollten.
Dieses Blog beschreibt seit vielen Jahren vor allem die Anwendung forensisch-molekularbiologischer Erkenntnisse und Methoden zum Zweck der objektiven Wahrheitsfindung und an Einrichtungen / Menschen, die zu dieser für die moderne Strafjustiz längst unersetzlichen Disziplin gehören, zu sparen oder sie gar abzuschaffen, habe ich als das verantwortungslose und gefährliche Versagen beklagt, das es ist.
Wie wichtig und effektiv eine – auch nachträgliche – Einbeziehung moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden zur Wahrheitsfindung und (Wieder)herstellung von Gerechtigkeit ist, sieht man z.B. am „Innocence Project“, das, in den 90er-Jahren in den USA gegründet, seitdem über 350 Freilassungen zu Unrecht Verurteilter erreichen konnte (in Deutschland gibt es übrigens seit einer Weile das ähnlich gelagerte „Projekt Fehlurteil und Wiederaufnahme“, zu dessen wissenschaftlichen Unterstützern ich gehöre).
Aber auch ein aktueller Fall aus Australien belegt hervorragend, wie wichtig es ist, wissenschaftliche Erkenntnisse auf dem aktuellen Stand der Forschung heranzuziehen, um Fehlurteile zu vermeiden oder sie, wie in diesem Fall, zu revidieren:
Kathleen Folbigg wurde vor 20 Jahren wegen Mordes an ihren vier Kindern (die Kinder waren zwischen 1989 und 1999 jeweils plötzlich verstorben) verurteilt und saß seitdem im Gefängnis. Sie hatte stets ihre Unschuld beteuert, alle Rechtsmittel und -wege waren ausgeschöpft, die einzige Möglichkeit, ihren Fall neu zu prüfen, war, den Gouverneur von New South Wales dazu zu bewegen, eine neue Untersuchung anzuordnen.
Bereits 2018 waren auf Auftrag der Anwälte Folbiggs ihr Genom und das ihrer verstorbenen Kinder sequenziert und dabei Mutationen im Calmodulin-2-Gen entdeckt worden, die Herzarrhythmien auslösen und womöglich den Tod der Kinder erklären konnten. Diese Befunde wurden allerdings nicht für ausreichend befunden, um den Fall neu aufzurollen. Daraufhin wandte sich 2019 Carola Vinuesa, die Genetikerin, die die Sequenzierungen durchgeführt hatte, an die Australische Academy of Science (AAS) und gewann sie zur Unterstützung einer Petition an den Gouverneur, Folbigg auf Grundlage neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, die den Tod der Kinder erklären konnten, zu begnadigen. In Vorarbeit erschien sogar eine eigene Publikation zur Abgrenzung von Kindstötung von Tod durch Arrhythmien [1].
Der Gouverneur stimmte schließlich zu, bestimmte die AAS zur wissenschaftlichen Beraterin und der Fall wurde neu untersucht. Zu diesem Zweck empfahl die AAS 30 wissenschaftliche Experten aus der ganzen Welt, darunter den auf Calmodulin-Proteine spezialiserten M. Toft Overgaard, von denen ca. die Hälfte später auch im Prozess aussagten und Evidenz präsentierten. Auf diese Weise wurde die neuesten und besten wissenschaftlichen Erkenntnisse von den führenden Experten der Welt zum Teil in ausgeprägter Detailtiefe präsentiert – eine zuvor nie dagewesene Situation. An einem der Prozesstage erklärte etwa Toft Overgaard über fünf Stunden lang, wie genau Mutationen im Calmodulin-Gen die Funktionen des Calmodulin-Proteins beeinträchtigen können! Zwischendurch wurde die Untersuchung sogar pausiert, damit Toft Overgaard und Kollegen ihre Daten mit Befunden aus eigens für den Prozess durchgeführten Experimenten aktualisieren konnten.
Es ist dem australischen Justizssystem hoch anzurechnen, daß es diesen Aufwand betrieben hat. Denn am Ende befand man, daß es „erhebliche Zweifel an der Schuld von Frau Folbigg für jedes der ihr vorgeworfenen Verbrechen“ gebe und entließ Folbigg in die Freiheit. Nach der Untersuchung werden nun Justizreformen diskutiert, um ein „wissenschaftssensibleres“ Justizssystem zu schaffen und etwas wie die „Criminal Case Review Commission“, wie es sie in Großbritannien gibt, einzurichten. Die Kommission kann Fälle wieder aufnehmen, wenn es Fortschritte in der Wissenschaft gab und neue einschlägige Beweise und Erkenntnisse hervorgebracht wurden.
(In diesem Zusammenhang: Eines der bekanntesten Fehlurteile aus England war der Fall von Sally Clark, der auch meinen eignen ehemaligen Forschungsgegenstand, den plötzlichen Kindstod (SIDS), berührte. Leider hat sich Frau Clark von dem Unrecht, das ihr widerfuhr, nie erholt und ist an den Folgen 2007 gestorben.)
Ich finde, dieser Fall zeigt anschaulich, daß und wie Justiz und Wissenschaft zusammenarbeiten können und wie wichtig und entscheidend für die Gerechtigkeit eine solche Zusammenarbeit sein kann. Meines Erachtens ist dafür auch in Deutschland noch viel Spielraum. Aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich, daß Richter, aber auch Staats- und Rechtsanwälte, mal abgesehen vom CSI-Effekt, oft nicht den aktuellen Stand bzw. die Möglichkeiten der modernen forensischen Molekularbiologie kennen (dabei gibt es sogar ganz vernünftiges Info-Material dazu) und bestimmte Methoden, wie die forensische RNA-Analyse oder die Begutachtung auf Aktivitätenebene, die entscheidende Informationen liefern können, daher häufig und meist zum Nachteil des Falls nicht zur Anwendung kommen. Wir versuchen zwar, mit Fortbildungen dagegen anzuarbeiten, aber stellen immer wieder fest, daß sich die Fortbildungsinhalte innerhalb der jeweiligen Communitys nicht suffizient multiplizieren und daher eine flächendeckende Kenntniserweiterung nicht gelingt.
Ich selber tue, was ich kann, um zu helfen, diese Situation zu verbessern: neben meiner Beteiligung an Wiederaufnahme (s.o.) soll auch unser neues Projekt, das im Oktober starten wird, dazu beitragen: ein wichtiges Element des Projekt ist die Dissemination, d.h. die aktive Verbreitung der neuen Erkenntnisse aber eben auch der Grundlagen zu DNA-Transfer und der Begutachtung auf Aktivitätenebne. Die mit dem Projekt betraute Doktorandin wird zu diesem Zweck nicht nur auf den üblichen Kongressen sprechen, sondern in ganz Deutschland unterwegs sein, um das notwendige Wissen so weit und so zugänglich wie möglich zu verbreiten. In Köln arbeiten wir zudem gerade an Kooperationsideen mit meiner Kollegin Anja Schiemann von der juristischen Fakultät, um auch eine akademische Schnittstelle zwischen forensischer Wissenschaft und Justiz (bzw. Rechtswissenschaft) zu etablieren. Eine erste Manifestation dessen wird eine gemeinsame Vorlesungsreihe sein, zu der auch zwei Kollegen aus meinem Heimatinstitut zu Wundballistik und Blutspurenanalyse sprechen werden und die am 24. Oktober mit einer Auftaktveranstaltung von Anja Schiemann und mir beginnen wird:
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Referenz:
[1] Brohus, M., Arsov, T., Wallace, D. A., Jensen, H. H., Nyegaard, M., Crotti, L., … & Schwartz, P. J. (2021). Infanticide vs. inherited cardiac arrhythmias. EP Europace, 23(3), 441-450.
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