Hiermit beginne ich eine neue Serie heute noch unbekannter Folgenzahl, in der ich mich mit dem für die moderne forensische Molekularbiologie und den aktuellen Anforderungen an sie so wichtigen Thema der Begutachtung auf Aktivitätenebene (BAE) befassen will. Als Einstieg und Vorbereitung empfehle ich an dieser Stelle die Lektüre des Artikels zur Verschiebung des Fokus‘ des Interesses in der forensischen Molekularbiologie.

Vorbemerkung/ Disclaimer: ich spreche hier ausschließlich über biologische Spuren, als kleinste Mengen biologischen und mittels (molekular)biologischer Methoden nachweis- und charakterisierbaren Materials, das im Zusammenhang mit forensisch relevanten Aktivitäten freigesetzt und/oder übertragen wurde oder entstanden ist. BAE läßt sich aber grundsätzlich auch weiter fassen, denken und anwenden da natürlich auch andere Spurentypen (z.B. Blutspritzspuren, Glasbruchspuren, Reifenspuren) Hinweise zu ihrer Entstehung und damit verbundenen Aktivitäten enthalten können.

Es kann sein, daß die Artikel teilweise recht tief in die Materie eindringen und daher für den „normalen“ blooD’N‘Acid-Leser zu spezifisch sein mögen (die wichtigsten Grundlagen zum Verständnis der Problematik sind in der Tat auch schon im oben verlinkten Artikeln erklärt), doch hier soll es auch um die Anwendung bisher gesammelter Erkenntnisse zur Durchführung von BAE gehen ich nutze diese Plattform somit auch, um mir BAE selber zu erklären und die Artikel mögen zudem als Ressource für deutschsprachige professionell Interessierte wie Staatsanwälte, Richter, Verteidiger oder aber auch Versicherungsermittler, die wissen wollen, ob man Hypothesen zu einem bestimmten Hergang von Dingen mit Evidenz stützen kann, dienen.

Ich will zunächst ein paar der Kerngedanken aus besagtem Artikel wiederholen: Lange Zeit war es für die forensisch-molekularbiologische Begutachtung im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen ausreichend,

zu zeigen, daß eine tatrelevante Spur sicher von einer bestimmten Person stammt, um diese Person in Zusammenhang mit einer Tat zu bringen, so ist die Individualisierung einer Spur zwar auch heute noch sehr wichtig, aber eben keineswegs mehr in allen Fällen alleine hinreichend, um diesen Zusammenhang zu belegen

denn zusehends häufiger tritt inzwischen die

Frage, wie denn das zur Person X passende Material dorthin gelangt ist, von wo man es gesichert hat, immer mehr in den Vordergrund. Mit anderen Worten die Frage, ob die (auch von einem Verteidiger nicht bestrittene) Tatsache, daß am Tatort oder tatrelevanten Gegenstand oder sogar an/in einer geschädigten Person gesichertes Material von Person/Mandant X stammt, bereits ausreicht, um Person/Mandant X in einen kausalen Kontext mit der Begehung der Tat zu bringen oder ob es für diese Tatsache alternative Erklärungsmöglichkeiten gibt, für die dann häufig DNA-Transfer angenommen werden muß.

In diesem Kontext ist sinnvoll, sich diese unterschiedlichen Ebenen der Interpretation hierarchisch geordnet wie eine Pyramide vorzustellen, an deren Basis die (noch einmal unterteilte) „Quellenebene“ liegt. Darüber liegt die „Aktivitätenebene“ und darüber die „Schuldebene“. So in etwa:

 

die “Pyramide” der forensischen Interpretationshierarchie; je höher die Ebene, desto relevanter die Information für das Gericht und desto schwieriger, sie zu gewinnen

 

Quellenebene

Sehen wir uns zunächst die in sich noch einmal unterteilte Quellenebene an. Hier findet die Zuordnung biologischen Spurenmaterials zu ihrer Quelle, zu ihrem Ursprung statt. Angenommen, aus einer Spur (eine „sekretverdächtige Anhaftung“) wird ein gemischtes DNA-Profil erstellt, das von zwei Personen stammen muß. Auf der Sub-sub-Quellenebene bestünde die Interpretationsaufgabe darin, das Mischprofil in Komponenten zu zerlegen, sofern möglich, die als Beitrag je einer Person anzusehen sind. Auf der Sub-Quellenebene dann würden die einzelnen DNA-Profile bestimmten Personen, z.B. dem Tatverdächtigen und dem Opfer zugeordnet. Bei unserer Mischspur aus Sekret würde das bedeutet, daß sich diese Spur aus Beiträgen des Opfers und des Tatverdächtigen erklären lässt. Das ist die Individualisierung und die biochemischen und biostatistischen Methoden, um dieses Ziel zu erreichen, werden immer besser und effizienter (hier geht es zur Serie, in der diese erklärt werden). Die DNA der beiden Tatbeteiligten klebte aber nicht einfach so auf einer Oberfläche, sondern lag in einem zellulären Kontext vor, stammte also aus verschiedenen Zellarten aus verschiedenen Körperflüssigkeiten. Eine daraufhin durchgeführte RNA-Analyse zeigte, daß die Spur Sperma und Vaginalsekret enthielt. Auf der Quellenebene schließlich werden die Spurenarten, aus denen die DNA stammt, den Tatbeteiligten zugeordnet.

Wer die RNA-Serie hier im Blog verfolgt hat, wird wissen, daß diese Zuordnung neben dem individualisierenden Aspekt auch bereits kontextuelle Information generieren kann, da die Gegenwart bestimmter Körperflüssigkeiten an bestimmten Stellen häufig bereits Hinweise auf bestimmte Aktivitäten geben können. Hier ist zu beachten, daß die etablierten Verfahren zur Bestimmung einer Spurenart (immunchromatographische Tests aber auch die Standard-RNA-Analyse mittels Kapillarelektrophorese) nicht ermöglichen, eine Spurenart auch einer konkreten Person zuzuordnen. Bei einer Zweiermischung aus Sperma und Vaginalsekret bei einem männlichen TV und einem weiblichen Opfer wäre das unproblematisch, weil hier die Spurenkomponenten geschlechtsspezifisch sind, in anders gelagerten Szenarien kann das jedoch anders sein. Um auch in solchen Fällen eine Zuordnung vornehmen zu können, werden derzeit (auch in meinem Labor, Veröffentlichung folgt) Methoden zur RNA-Sequenzierung mittels MPS erforscht [1], die die RNA-Sequenz erfassen, so daß man Varianten dieser Sequenz (Einzelnukleotidpolymorphismen aus kodierenden Bereichen der DNA sog. cSNPs) mit der transkribierten DNA der Tatbeteiligten abgleichen und somit die Komponenten den einzelnen Beiträgern zuordnen kann. Doch das führt hier zu weit.

 

Aktivitätenebene

Gehen wir davon aus, daß das Spurenbild individualisiert ist, wir also wissen, welche Spurenarten vorliegen und von welchen Personen sie stammen, gehen wir weiter davon aus, daß in einem Gerichtsverfahren streitige Parteien, Anklage und Verteidigung, sich darüber durchaus einig sind. Fast immer stellt sich an dieser Stelle die Frage, wie denn das Spurenbild, über dessen Zusammensetzung nicht gestritten wird, entstanden ist und die Aufgabe der forensischen Wissenschaftler besteht in der Kontextualisierung der Spur. Zur Illustration nehmen wir ein besonders typisches Beispiel, bei dem die Kenntnis der Spurenart uns kaum bis keine kontextuelle Information liefert:

An einem Einbruchtatort ist ein Fenster aufgehebelt worden, durch das der Einbrecher in das Haus gelangte. Im Haus werden kaum brauchbare Spuren gefunden, keine Fingerspuren, keine DNA-Spuren etc. In einem Mülleimer in der Nähe jedoch findet sich ein massiver Schraubendreher, dessen Klinge perfekt zu den Werkzeugmarken am Fenster passt. Vom Griff des Werkzeugs lässt sich ein gemischtes DNA-Profil erstellen mit einer vollständigen Hauptkomponente, die sich eignet, um eine Suche in der DAD-Datenbank durchzuführen, die einen Treffer generiert: ein wegen Einbruchs bereits Vorbestrafter, der in der Nähe einen Handwerksbetrieb führt. Mit dem Tatvorwurf konfrontiert, gibt er an, daß er nichts mit der Tat zu tun habe. Daß seine DNA am Tatwerkzeug gefunden worden sei, könne er sich nicht erklären. Es kommt zur Anzeige und Gerichtsverhandlung, während derer, der molekulargenetische Sachverständige sein DNA-Gutachten erläutert. Die Verteidigung hat keine Zweifel an der Korrektheit des Gutachtens und räumt ein, daß die DNA von ihrer Mandantschaft stammt, bringt dann aber eine alternative Hypothese zur Erklärung des Spurenbilds vor: der Angeklagte habe nichts mit der Tat zu tun, aber ihm seien kurz vor der Tat Arbeitshandschuhe vermutlich von einem Hilfsarbeiter gestohlen worden, die dann vom wahren Täter bei Tatausübung getragen wurden. Die den Handschuhen anhaftende DNA des Angeklagten sei so auf den Griff des Werkzeugs gelangt. Auf die Frage des Gerichts an den Sachverständigen, ob so etwas überhaupt möglich sei, bestätigt dieser und verweist auf Forschungsstudien, die diese Art von „Sekundärübertragung“ DNA-haltigen Materials mittels Handschuhen als Vektor mehrfach nachgewiesen haben [2-4].

Eine inzwischen typische Situation. Es herrscht Einigkeit zwischen den streitigen Parteien über den Ursprung, die Quelle der Spur, die Spurenart (abgestreiftes Hautmaterial) bringt keine nützliche Information (Hautzellen auf einem Schraubendrehergriff sind zu erwarten), es stellt sich mithin die Frage, wie, durch welche Aktivität und welchen Akteur ist die Spur entstanden, ist das analysierte Material dorthin gelangt, von wo es gesichert wurde? Es stellt sich die Frage nach dem Kontext der Spurenentstehung.

 

Tat- oder Schuldebene

Die Interpretation von Spurenbildern auf dieser Ebene ist ausschließlich dem Gericht vorbehalten, der Sachverständige hat sich hierzu nicht zu äußern. Hier fließen Erkenntnisse zu schuldhaftem Handeln, Motiv, Schuldfähigkeit, Beweggründen und andere fallrelevante Informationen ein, hier greift auch die richterliche Beweiswürdigung, die für eine juristische Bewertung und die schlußendliche Urteilsfindung von Bedeutung sind. Das Gericht baut also auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen von den Quellen- und Aktivitätenebenen auf und nutzt diese, um sich seine Überzeugung zu bilden. Ein Bespiel illustriert den Spielraum auf dieser Ebene: in einem Fall eines angeklagten Sexualdelikts gibt es von Quellen- und Aktivitätenebene sehr gute Belege, daß zwischen Tatverdächtigem und Geschädigter (Quellen) Geschlechtsverkehr (Aktivität) stattgefunden hat, den jener zunächst geleugnet hat; in Anbetracht der forensisch-molekulargenetischen Gutachten ändert der Tatverdächtige seine Einlassung, räumt den Verkehr ein, erklärt aber, daß dieser einvernehmlich gewesen sein, was die Geschädigte bestreitet. Die vorhandene Evidenz (hierzu würde auch die rechtsmedizinische Untersuchung der Geschädigten zählen) ist sowohl mit dem einen (einvernehmlichen) als auch dem anderen (nicht einvernehmlichen) Szenario kompatibel und lässt keines davon deutlich plausibler erscheinen, und diese Erkenntnis ist alles, was ein Sachverständiger beitragen kann. Es obliegt nun dem Gericht, über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten entscheiden.

 

In Folge 2 diskutiere ich die Rolle des Sachverständigen und die Anforderungen, die an eine BAE zu stellen sind.

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Referenzen

[1] Ingold, S., Dørum, G., Hanson, E., Ballantyne, J., & Haas, C. (2020). Assigning forensic body fluids to donors in mixed body fluids by targeted RNA/DNA deep sequencing of coding region SNPs. International journal of legal medicine, 134, 473-485.

[2] Tanzhaus, K., Reiß, M. T., & Zaspel, T. (2021). “I’ve never been at the crime scene!”—gloves as carriers for secondary DNA transfer. International Journal of Legal Medicine, 135(4), 1385-1393.

[3] Carrara, L., Hicks, T., Samie, L., Taroni, F., & Castella, V. (2023). DNA transfer when using gloves in burglary simulations. Forensic Science International: Genetics, 63, 102823.

[4] Otten, L., Banken, S., Schürenkamp, M., Schulze-Johann, K., Sibbing, U., Pfeiffer, H., & Vennemann, M. (2019). Secondary DNA transfer by working gloves. Forensic Science International: Genetics, 43, 102126.

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