Morgen wird in den USA deren 47. Präsident gewählt und abermals, wie schon 2020, hat man – auch als Europäer – den Eindruck, daß es eine Schicksalswahl von enormer Tragweite wird, die abermals sehr knapp zu werden scheint. Aber auch in Deutschland könnte es früher als vorgesehen zu einer Neuwahl des Bundestags kommen, falls es die extrem zerstrittene, ineffiziente und unbeliebte „Ampel“-Koaltion schon vorzeitig zerlegt. Bei einer Neuwahl droht dann die AfD (wie vorausgesagt), in Deutschland in vielerlei Hinsicht ein politisches Pendant zu Trump, zweitstärkste Kraft zu werden.

Diesbezüglich wird in letzter Zeit viel von Spaltung geredet, von der polarisierten Gesellschaft -und dann widersprechen Soziologen und sagen, so schlimm sei es gar nicht. Dennoch, viele, darunter auch ich, können sich des Eindrucks nicht erwehren, daß in der Gesellschaft „Lager“ auszumachen sind, die sich selbst bei Grundsätzlichem oft nicht mehr einig sind:

Ist Migration gut oder schlecht für Deutschland? Ist der Islam ein Problem? Was ist eine Frau? Wie stehen wir zu Israel? Wie zur Demokratie? Wie zum Klima(wandel)?

In der Tat habe ich oft den Eindruck, daß sich zu den meisten dieser Fragen zwei „Blöcke“ unvereinbar gegenüberstehen und ein Indiz, daß sich viele in diesen Blöcken ihre Meinungen nicht durch selbständiges kritisches Denken erarbeitet sondern vielmehr qua Ideologiezugehörigkeit übernommen haben („ideologische Meinungskohärenz“ [1,2]), ist, daß man mit einiger Sicherheit anhand einer Meinung einer Person aus diesen Blöcken eine andere Meinung derselben Person zu einem inhaltlich völlig unverbundenen Thema vorhersagen kann. Das sollte bei selbständig Denkenden nicht möglich sein, passiert aber, wenn die Meinungen eines Blocks irgendwann als (unhinterfragter) Teil der eignen Identität betrachtet werden [3] und wird durch soziale Medien und „Blasenbildung“ noch erheblich verstärkt [4].

Was aber, wenn man sich keinem dieser Blöcke zugehörig fühlt, sich am ehesten als liberaler rationaler säkularer Humanist ein- und v.a. keiner politischen Orientierung zuordnet, der „Meinungspakete“ und -kartelle ablehnt und der keinen „Stamm“, keinen „Tribe“, keine Gruppe hat?

Hier ein paar der aktuellen Party-Knaller und Evergreens, zu denen derzeit sehr klare Meinungen und vor allem feste Meinungskombinationen innegehabt und teils lautstark oder sogar gewalttätig vertreten werden (meine eigene, ausformulierte Position dazu kann bei Interesse dem Anhang entnommen werden):

Migration

Abtreibung

Selbstbestimmungsgesetz vs. Frauenrechte

Religion

Klimapolitik

Nahostkonflikt

Corona-Politik

Impfungen

Öffentlich-rechtlicher Rundfunk

Gendern/Gendersprache

Cannabis

Ich vertrete zu all diesen Themen Positionen, die in den Augen vieler wohl zum Teil „rechts“ und zum Teil „links“ (bzw. liberal vs. autoritär) wären und wurde und werde dafür zwar von beiden Seiten angegriffen (u.a. wegen affektiver Polarisierung, die dazu führt, dass Mitglieder einer Gruppe negative Emotionen gegenüber vermeintlichen out-group-Personen entwickeln), aber von keiner Seite unterstützt (weil ich zu keiner Seite „gehöre“).

Wo aber bleiben Leute wie ich, die sich nicht vereinnahmen lassen wollen, wenn irgend möglich zu differenzieren trachten, non-manichäisch auch Graustufen wahrzunehmen und Ambiguität auszuhalten imstande sind?

Wo ist unsere politische Heimat?

Haben wir überhaupt eine? Wohin kann man gehen, wenn man Höcke, Gauland & Konsorten genauso abschreckend, demokratiegefährdend und bedenklich findet, wie Sven Lehmann, Ferda Ataman, „trusted flagger“ und den Antisemitismus in der Linkspartei und einer A. Özuguz? Keine der etablierten Parteien erscheint heute wählbar für mich. AfD und Linke als Extreme sowieso nicht, C-Parteien aus Prinzip auch nicht, aber auch die anderen gehen aus verschiedenen Gründen nicht. Wenn ich dem Wahl-O-Maten trauen soll, dann stimmen meine Positionen am ehesten mit den Humanisten (PdH) überein, allerdings werden von den o.g. Themen nur einige wenige abgefragt und zu einigen davon, die mir wichtig sind, hat die Partei, auch auf Nachfrage (noch) keine klare Position.

Es scheint in der derzeitigen politischen Landschaft einerseits nur wenig vernunft- und datenorientierte Handlungen und sehr viel Symbol-, Klientel- und Ideologiepolitik zu geben und andererseits eine zunehmende Bereitschaft, eine Partei aus Trotz, Reaktanz und/oder für „single issues“ zu wählen. So ein „issue“ kann auch negativ sein, man wählt also nicht, weil man für etwas ist, sondern weil man entschieden gegen etwas ist. Ich z.B. lehne bekanntlich die „woke Linke“ bzw. den „critical social justice“-Aktivismus sehr entschieden ab, aber eben aus anderen Gründen, als die extreme Rechte das tut, die ich ebenso ablehne. Mir persönlich sind die Gründe für die Ablehnung wichtiger, als die Ablehnung selbst, ich selbst würde daher deshalb weder Trump (wäre ich Amerikaner) noch die AfD wählen.

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Kommentare (4)

  1. #1 RPGNo1
    04/11/2024

    Ich habe bei der Europawahl tatsächlich für die PdH gestimmt, weil aktuell alle anderen Parteien für mich aus verschiedenen Gründen unwählbar sind.

    Da ich aber der festen Auffassung bin, dass in einem demokratischen Land das Wahlrecht auch eine Art Wahlpflicht ist.
    Da ich Leute verabscheue, die an allen und jeden politischen Entscheidungen rummosern, darauf nicht wählen gehen und sich dann aber beschweren, dass sie ja nicht gehört wurden.
    Deswegen habe ich die PdH gewählt, deren Vorstellungen zum Zeitpunkt der Wahl am ehesten mit den meinen übereinstimmten.Es war mir von Anfang ziemlich klar klar, dass die Partei keine Chance auf einen Sitz im Europaparlament haben würde.

  2. #2 Primergy
    04/11/2024

    […] ich bin noch unentschlossen, ob ich es sinnvoll finde, daß Deutschland eine intensive Klimapolitik betreibt, solange viel größere Länder es nicht tun, ich bin da offen für Argumente […]

    Vielleicht hilft an dieser Stelle ein Gedankenspiel: Was würde sich für Deutschland ändern, wenn es China, Indien und den USA, die zusammen 50 % der weltweiten Emissionen verursachen, gelänge, ihre Emissionen wegzuzaubern (und dabei für Deutschland wirtschaftlich alles gleich bliebe)? – Tatsächlich nicht viel. Die restlichen Länder, die zusammen die andere Hälfte verursachen, hätten mehr Zeit für Klimaschutzmaßnahmen, aber das war es auch schon. Solange mehr CO2 emittiert wird, als in den natürlichen Senken gespeichert bzw. umgewälzt werden kann, gibt es eine Erwärmung.

    Deine Ideen für den öffentlichen Rundfunk sprechen mich an, aber ich denke, so etwas gibt es schon, nämlich den Sender Phönix oder auch ARD alpha. Kann ja jeder Leser selbst einmal nachrechnen, wie häufig er da reinschaut oder ob die Talkshows mit hochbezahlten Moderatoren nicht doch häufiger konsumiert werden.

  3. #3 DH
    04/11/2024

    “ein historisches Beispiel, in dem derart polarisierte Gruppen wieder zueinander und zu einem Konsens wenigstens bei fundamentalen Dingen gefunden haben, ohne, daß es vorher einen (Bürger)Krieg, Genozid oder eine ähnlich schreckliche Eskalation gab?”
    Mit Krieg u.ä. gab es das wohl schon sehr häufig weil diese Spaltungen wahrscheinlich die Vorstufe großer Entwicklungsschübe sind.
    Ein halbwegs friedliches Beispiel ist aber nicht lange her, das was als 68er-Bewegung gilt.
    Die wird heute völlig falsch interpretiert als Sieg der Linken gegen die Reaktionären, tatsächlich war die Linke vor 68 genauso gespalten wie heute, ähnliches galt aber auch für andere Kräfte.
    Die eigentlichen Kämpfe fanden nicht zwischen Lagern statt, sondern quer durch sie hindurch.
    Jede politische Kraft hatte schon immer ihre progressive und ihre regressive Seite, in den Jahrzehnten vor 68 war, wie heute, die jeweils regressive Seite dominant in allen Kräften.
    Was dann 68ff passierte, war der Kampf zwischen diesen beiden Polen, gewonnen hat die jeweils progressive Seite (die nicht zu verwechseln ist mit dem was uns heute als progressiv vertickt wird)- und das quer durch alle Lager.
    Es gab sogar ein rechtsextremes 68, wo sich neuere Kräfte mit den älteren anlegten weil die noch zu sehr im Nationalsozialismus festhingen. Die “neue Rechte” wurde just im Jahr 68 gegründet, als “la nouvelle droite”, und wohl nicht zufällig in Frankreich.
    Bei den Linken war es die Abkehr vom Kommunismus der bis tief in die Sozialdemokratie salonfähig war, die Liberalen sahen sich einem massiven Linksruck gegenüber, und mit Verspätung erneuerten sich auch die Konservativen.
    Heute dürften ganz ähnliche Vorgänge bevorstehen, gerade in der Linken gibt es eine immer schärfere Ablehnung der Idenditätspolitik, die jeden Tag stärker wird und in absehbarer Zeit den Woken jenen Tritt in den Allerwertesten verpassen wird, nach dem diese schon lange betteln.
    Straßenkämpfe sind dabei nicht auszuschließen.
    Du bist keinesfalls alleine, CC, eher ist es andersrum.

  4. #4 Dietmar Hilsebein
    05/11/2024

    @ Cornelius Courts

    “Wenn Ihr noch Hoffnung habt, woher nehmt Ihr sie?”

    Die Hoffnung meinerseits besteht darin, eine Pendelbewegung zu sehen. Aufgrund der Erfahrung des Faschismus ging es zunächst stark nach links. Dieser linke Ausschlag des Pendels war schon weniger stark extrem. Heute schlägt das Pendel wieder nach rechts und meine Hoffnung besteht darin, daß das, was durch den Faschismus eine Tragödie war, heute zu einer Farce verkommen ist und sein wird.
    Die, die sich politisch als heimatlos ansehen, haben gewiß ein Problem. Sie müßten wiederum eine Partei gründen, die ihren Namen trägt: BSW, BDH, BCC usw. Die Erfahrung zeigt aber, daß sich solche Bündnisse schnell selbst zerlegen. Oder kennt heute noch einer die Schill-Partei? Die AfD, so scheint mir, wurde groß, weil sie bei vielen Wählern, ähnlich wie Trump, glaubhaft macht, daß das Wohlstandsversprechen erneuert werden kann, wenn man zurück in die 80er fährt in der die Mehrheit der heute Lebenden ihre Jugend verbrachte. Es hat also auch nostalgische Gründe, die AfD zu wählen. Nostalgische Gefühle kommen immer dann hoch, wenn die Zukunft nur noch eine Apokalypse zu versprechen scheint. Wie gesagt, die Hoffnung besteht darin, daß die Pendelbewegung weniger ausschlägt.